In den ersten Tagen nach der Brandenburger Landtagswahl am 22. September 2024 sorgte ein rassistischer Zwischenfall auf der AfD-Wahlparty für Empörung: Zu den Klängen eines bekannten Partyhits hatten junge AfD-Mitglieder ausgelassen „Jetzt geht's ab, wir schieben sie alle ab“ gegröhlt. Unter ihnen Anna Leisten, Vorsitzende der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative in Brandenburg, die auf Fotos gerne mit dem White-Power-Gruß posiert.
Derartige Menschenfeindlichkeit – drapiert mit einem Plakat, das „millionenfache Abschiebung“ verkündete – war kein Zufall, sondern der Höhepunkt einer gleichsam in Endlosschleife laufenden Hetzkampagne, deren jüngster Ausgangspunkt in Solingen lag – also dort, wo ein syrischstämmiger Geflüchteter am 23. August bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Messeranschlag drei Menschen getötet und acht schwer verletzt hat.
Vertreter:innen aller im Bundestag vertretenen Parteien – mit Ausnahme der LINKEN – sprachen nach Solingen von der Notwendigkeit einer migrationspolitischen Wende. Entsprechend standen nicht nur Maßnahmen im Bereich Sicherheit zur Debatte, etwa Messerverbote im Fernverkehr der Bahn, oder die Frage, wie der Radikalisierung junger Menschen vorgebeugt werden könne. Vielmehr wurde auch das von der AfD seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 kultivierte Narrativ übernommen, wonach Migration, Kriminalität und Extremismus eng verwoben seien. Einzig so erklärt sich, weshalb die Bundesregierung bereits sechs Tage nach dem Anschlag von Solingen ein Sicherheits- und Asylpaket präsentierte, das unter anderem vorsieht, Asylbewerber:innen sämtliche Geldleistungen zu streichen, für die rechtlich ein anderer europäischer Staat zuständig ist – Letzteres mit der Begründung, dass sich der Attentäter von Solingen einer Abschiebung nach Bulgarien gemäß Dublin-Regeln entzogen hätte.
Doch eskaliert ist die Debatte erst nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen am 1. September. Als Einpeitscher fungierte unter anderem CDU-Chef Friedrich Merz. In einer viel beachteten Wahlkampfrede lobte er all jene Zugewanderten, die ihren Platz in Deutschland gefunden hätten, hetzte aber auch skrupellos: „Schaut euch die Schulen an, schaut euch die Wohnraumsituation an, schaut euch die Universitäten an, schaut euch die Krankenhäuser an, schaut euch die Arztpraxen an, schaut euch an, was das für Konsequenzen hat, wenn ein Land durch Migration überfordert ist.“
Kurzum, es passte bestens, dass Christian Jakob und Maximilian Pichl in einem gemeinsamen Beitrag für die taz von einer neuerlichen „Eruption des migrationsfeindlichen Grundrauschens“ sprachen, von einer jener Konjunkturen des Rassismus, die die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bereits seit vielen Jahrzehnten prägen. Lässt man die etwas anders gelagerten Debatten um Vertriebene und Arbeitsmigrant:innen außen vor, begann es spätestens 1980, als die FAZ ausgerechnet am 8. Mai mit der Schlagzeile titelte „Dämme gegen die Asylanten-Springflut“.
Es folgte 1993 die faktische Abschaffung des Asylrechts. 2010 ging es mit dem Millionenbestseller „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin weiter und es mündete in den Aufstieg der AfD – samt einer bis heute andauernden Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts. Und dies umfasst auch den hochgradig gefährlichen Trend, wonach im konservativen Lager immer öfter die Bindung nationalstaatlichen Rechts an die europäische Rechtsprechung infrage gestellt wird, insbesondere die des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Denn dort werden mittlerweile die maßgeblichen Urteile für die gesamte EU gefällt, unter anderem solche, die die Rechte einzelner Geflüchtetengruppen betreffen. Beispielsweise hat der EuGH erst am 4. Oktober beschlossen, dass die Behandlung von Frauen in Afghanistan durch die Taliban als Verfolgung einzustufen sei, dass also weiblich gelesene Asylbewerberinnen aus Afghanistan zukünftig nicht mehr individuelle Umstände geltend machen müssten, sondern nur noch ihr Geschlecht und ihre Staatsangehörigkeit.
Angesichts derartiger Zuspitzungen von rechts scheint es dringlicher denn je, die langfristigen Effekte europäischer Abschottungspolitik genauer in den Blick zu nehmen, auch um tragfähige Alternativen formulieren zu können. Insgesamt ist festzuhalten, dass die seit Mitte der 1990er Jahre systematisch erfolgte Verschärfung des EU-Grenzregimes keineswegs zu einem kontinuierlichen Rückgang der neu gestellten Asylanträge geführt hat. So wurden 1992 in der Europäischen Union 672.000 Asylanträge registriert, 2006 waren es nur noch 197.500, 2015 kletterten die Zahlen auf 1,32 Millionen, 2020 sanken sie auf 472.000 und 2022 wiederum war ein Anstieg auf 962.160 zu verzeichnen – plus acht Millionen Menschen aus der Ukraine, die nicht als Asylbewerber:innen gekommen sind, sondern im Rahmen der sogenannten EU-Richtlinie „für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Geflüchteten“. Plastischer formuliert: Die Pendelbewegungen machen einmal mehr deutlich, dass nicht die Höhe der Zäune oder die Zahl der zivilen Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer über das Asylgeschehen in Europa bestimmen, sondern die konkreten Krisenherde dieser Welt. Das ist auch gut an den Namen der acht Länder nachvollziehbar, aus denen zwischen Januar und September 2024 rund 72 Prozent aller Asylantragsteller:innen in Deutschland stammten, nämlich Syrien (61.000), Afghanistan (29.500), Türkei (24.500), Irak (7.500), Somalia (5.800), Iran (4.600), Russland (4.100) und Kolumbien (2.700).
Im Zuge der Brutalisierung erfahren jedes Jahr unzählige Migrant:innen und Geflüchtete schwere Traumatisierungen, tausende kommen ums Leben
Gleichwohl wäre es aus mehreren Gründen irreführend, die restriktive Abschottungspolitik als zahnlosen Tiger abzutun, wie noch in den 2000er Jahren unter dem Stichwort der „Autonomie der Migration“ regelmäßig zu hören war – aus damals durchaus plausiblen Gründen. Denn die dornigen Integrationsprozesse mit teils jahrelangen Abschiebeandrohungen stellen eine extreme psychische und soziale Belastung für die Betroffenen dar; das Abschottungsregime kann zwar Einreisen nicht verhindern, aber für eine enorme Brutalisierung auf den Migrationsrouten sorgen, insbesondere an den EU-Außengrenzen und in den Transitländern außerhalb der EU. Im Zuge der Brutalisierung erfahren jedes Jahr unzählige Migrant:innen und Geflüchtete schwere Traumatisierungen, tausende kommen ums Leben. All dies wiederum trägt dazu bei, dass zahlreiche Menschen zur Rückkehr gezwungen oder abgeschreckt werden, beides mit dem Effekt, dass sie weiterhin in äußerst prekären oder gefährlichen Lebensumständen verharren müssen.
Zurück zur deutschen Debatte:
Flucht und Migration sind zentrale Transmissionsriemen für die Rechtsverschiebung, nicht zuletzt deshalb, wie die Autoren Volker M. Heins und Frank Wolff schreiben, weil „die hochgerüsteten Grenzen der Gegenwart (…) Disziplinierungsmaschinen sind, die die ausschließende Gesellschaft selbst zur Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss erziehen“. Das aber heißt, dass die Rechtsverschiebung nur gestoppt werden kann, wenn der Umgang mit Flucht und Migration auf neue Füße gestellt wird.
Fünf Thesen mögen zur Debatte beitragen:
Erstens gilt es, Fluchtursachen zu bekämpfen, so eng die Spielräume unter den gegebenen (kapitalistischen) Bedingungen auch sind. Das führt erfahrungsgemäß nicht zu weniger, sondern zu mehr Migration – weil sich hierdurch mehr Menschen die erforderlichen Ressourcen und Kompetenzen aneignen, um eine Fernmigration umzusetzen. Aber es nimmt Druck aus dem Kessel und erhöht die Bereitschaft, sich auf reguläre Zuwanderungsverfahren einzulassen (s.u.) – ganz zu schweigen davon, dass sich so das Leben konkreter Menschen stabilisiert.
Zweitens sind die Lebensbedingungen von Geflüchteten in den jeweiligen Nachbarländern zu verbessern, das heißt dort, wo sie oft als erstes Zuflucht suchen. Denn viele Geflüchtete ziehen nur deshalb weiter, notfalls bis nach Europa, weil sich das Leben in ihren Nachbarländern, als unerträglich entpuppt – so, wie das 2015/2016 bei vielen syrischen Geflüchteten in Jordanien oder der Türkei der Fall gewesen ist.
Drittens muss für die, die wegen Krieg oder politischer Verfolgung fliehen, robuster Schutz gewährt werden (Fluchtwege öffnen). Eine Verpflichtung, die auch bedeutet, dass den zuständigen Institutionen die dafür erforderlichen Geldmittel zur Verfügung gestellt werden – was seinerseits Veränderungen in der Steuergesetzgebung erfordert, um endlich die ungerechte Umverteilung von unten nach oben zu beenden.
Viertens sollte denen, die aus materieller und sozialer Perspektivlosigkeit aufbrechen, was nicht zuletzt für junge Menschen in West- und Nordafrika gilt, in substanziellem Umfang Angebote zu regulärer Migration nach Europa gemacht werden. Das wäre aus europäischer Perspektive eine Antwort auf die demografische Lücke, wonach allein Deutschland auf eine jährliche Netto-Zuwanderung von mindestens 250.000 Menschen angewiesen ist. Es würde zudem gut zur zirkulären Migration passen, die in vielen afrikanischen Gesellschaften kulturell und sozial tief verankert ist. Danach ist Migration zwar eine Überlebensstrategie, aber eine, die positiv konnotiert ist und die darauf abzielt, vom ersten Tag der Migration an – wie ein malisches Sprichwort besagt – die Rückkehr vorzubereiten. Junge Leute würden also für fünf bis zehn Jahre nach Europa kommen (einige auch für immer), dann freilich mit dem erworbenen Wissen und den angesparten Geldern in ihr Herkunftsland zurückkehren und auf diese Weise zu einer selbstbestimmten Entwicklung von unten beitragen. Je intensiver zirkuliert würde, desto mehr junge Menschen könnten von der entsprechenden Chance profitieren – auch als eine erste Annäherung an das Fernziel vollumfänglicher Bewegungsfreiheit.
Fünftens müssten die aktuellen Diskurse entgiftet werden. Denn Fakt ist, dass Migration im Kern nichts mit teuren Mieten, fehlender ärztlicher Versorgung oder Unterrichtsausfall zu tun hat und daher getrennt davon zu behandeln ist.
Olaf Bernau ist aktiv bei Afrique-Europe-Interact, 2022 hat er das Buch „Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“ veröffentlicht.
Kontakt: https://afrique-europe-interact.net/