Plädoyer für eine Erweiterung des Rassismusbegriffs

Warum etablierte Verständnisse zu kurz greifen

| Lydia Engel

Alastair Bonnett: Multiple Rassismen. Für eine globale Perspektive auf ein globales Problem.Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schüring, Unrast, Münster 2024, 248 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-89771-388-8

Alastair Bonnett interveniert in „Multiple Rassismen“ in die gegenwärtige Rassismusforschung und scheut sich dabei nicht vor Kontroversen. Der Sozialgeograph bemerkt, dass in diesem Forschungszweig nach wie vor US- und eurozentrische Diskurse die Grenzen setzen, was als Rassismus gilt und was nicht, obwohl dessen globale Verbreitung und Pluralität gemeinhin anerkannt ist. Für antirassistische Bewegungen auf der ganzen Welt hat das oft eine Unsichtbarmachung ihrer Kämpfe zur Folge. Bonnett plädiert darum für einen erweiterten Rassismusbegriff, der die Erfahrungen Betroffener unterschiedlichster ethnisierter Diskriminierung und Gewalt miteinbezieht. Rassismus definiert er hier als „Diskriminierung und Ungleichheit, erwachsen aus ethnisierten und rassifizierten Formen von Macht, supremacism [Überlegenheit] und Essentialismus“ (S. 25). Mit zahlreichen Beispielen vor allem aus Asien und Afrika zeigt er, wie rassistische Grenzziehungen auch in Formen von Diskriminierung und Ungleichheit enthalten sind, die auf den ersten Blick nicht als Rassismus beschreibbar scheinen, beispielsweise die Verfolgung der Jesid*innen durch den IS oder die Diskriminierung von Dalits in Indien. Dabei macht Bonnett immer wieder deutlich, wie der europäische Kolonialismus einerseits zur Ausbreitung eines spezifischen Rassismus geführt hat und wie er andererseits mit bestehenden rassistischen Diskriminierungssystemen in ehemals kolonisierten Ländern interagierte und dadurch eigene Formen angenommen hat.
Mit seiner Untersuchung bestätigt Bonnett den in rassismuskritischen Debatten etablierten Zusammenhang von „moderner“ Gesellschaftsorganisation und Rassismus, erweitert diesen aber, indem er von unterschiedlichen Modernisierungsbewegungen rund um den Globus ausgeht und somit die angebliche „Einzigartigkeit“ der westlichen Moderne infrage stellt. Die in vielfältigen Modernen beobachtbaren Tendenzen, einen Bruch mit der Vergangenheit zu konstruieren und gleichzeitig ebendiese zu romantisieren sowie die Neigung, Menschen und Wissen zur klassifizieren und festzuschreiben, werden als ihre zentralen Funktionsweisen und zugleich als Bedingungen für Rassismus beschrieben.
Durch sein Konzept der multiplen Rassismen legt Bonnett den Fokus auf Ähnlichkeiten und geht damit ein Wagnis ein. Zugunsten des Übergreifenden werden an mancher Stelle bestehende Kontroversen in diesem Feld unterbelichtet (beispielsweise um das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus), doch dem Autor gelingt es immer wieder, das Gemeinsame zu zeigen, ohne zu relativieren und auch die Unterschiede rassistischer Gewalt und ihrer Intensität zu betonen. Ihm geht es nicht darum, nun alle Formen der ethnisierten Gewalt und Diskriminierung nur noch als Rassismus zu beschreiben, sondern rassistische Elemente in unterschiedlichen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu beleuchten. Durch diese Herangehensweise ermöglicht Bonnett ein größeres, globales Bild ethnisierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Eine theoretische und empirische Bereicherung für die kritische Auseinandersetzung mit Rassismus.