Shakespeare ist es nicht

Chiara Botticis „Anarchafeministisches Manifest“ scheitert an der Gratwanderung zwischen politischer Kampfschrift und reflektierter Positionierung

| Kerstin Wilhelms

Chiara Bottici: Anarchafeministisches Manifest. Aus dem Englischen von Marie Beckmann. März Verlag, Berlin 2024, 108 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-7550-0037-2

Begeben wir uns auf eine kleine Erinnerungsreise in den Deutschunterricht. So ungefähr in der 8. bis 10. Klasse ging es vielleicht mal um Stilfiguren wie Metaphern, Anaphern, Onomatopoeia. Wer erinnert sich? Da gab es auch eine Figur, das Oxymoron, das Gegensätze zusammenfügt. William Shakespeare beispielsweise war ein Meister des Oxymorons: „Liebreicher Haß! Streitsüchtge Liebe! Du Alles, aus dem Nichts zuerst erschaffen! Schwermütger Leichtsinn! Ernste Tändelei! Entstelltes Chaos glänzender Gestalten! Bleischwinge! Lichter Rauch und kalte Glut!“, lässt Shakespeare seinen liebeskranken Romeo hauchen. Wunderschön, nicht wahr? Während Shakespeare mit seinen Oxymora höchstpoetisch das Leid unerwiderter Liebe zum Ausdruck brachte, verstecken sich hinter den Oxymora, von denen wir täglich umgeben sind („klimafreundlicher Verbrennungsmotor“!) zumeist allergrößter Unfug in wohlklingender Form. Möglicherweise deshalb hat bereits der Titel des hier rezensierten Werks größeres Unbehagen bei mir ausgelöst: „Anarchafeministisches Manifest“. Es bezeichnet den Versuch, etwas manifest, also handfest, zu machen, was sich gerade durch Dynamik, Prozesshaftigkeit und Fluidität auszeichnet, durch eine Vielschichtigkeit diverser Positionen, die beständig im Austausch und in der Debatte stehen. Das auf 77 nicht allzu eng bedruckten Buchseiten zusammenzupressen kann eigentlich nur nach hinten losgehen.
Entsprechend besteht das Manifest – notwendigerweise – aus radikalen Verkürzungen, Vereindeutigungen und Vereinheitlichungen. Dass es zu vielen Themen, die hier angerissen werden, wissenschaftliche und aktivistisch-politische Debatten gibt, wird nicht erwähnt. Irritierendstes Symptom dieses Vorgehens ist das „Wir“ im Text. In jedem Kapitel finden sich Formulierungen wie „wir Anarchafeminist:innen fordern“ (z. B. S. 18, 26, 48, 53, 60, 68), ohne dass geklärt würde, wer dieses Wir ist. Auf dem Buchdeckel steht nur ein einziger Name, Chiara Bottici. Scheinbar schreibt Bottici auf, was sie für Anarchafeminismus hält, und drückt allen, die sich mit dieser Bezeichnung identifizieren, ihren Stempel auf. Das ist ziemlich wenig anarchistisch, finde ich. Überhaupt beschränkt sich der Bezug zu anarchistischen Theorien auf wenige, extrem vereinfachende Sätze zu Bakunin. Im Zentrum stehen feministische Denkansätze, deren Darstellung allerdings auch fragwürdig ist. Gleich zu Beginn geht es um die „Mannokratie“, einen Begriff, den sie nutzt, um das Fortbestehen männlicher Herrschaft bei gleichzeitiger Abnahme klassisch patriarchaler Strukturen zu bezeichnen. Sie schreibt: „Wo bleiben die Cis-Männer in diesen Zahlen? Wo sind sie in all den Fällen von geschlechtsbezogener Abtreibung, weiblichen Kindesmords, Gewalt gegen LGBTQI+-Personen und Femiziden? Die wenigsten von ihnen tragen Schilder mit feministischen Parolen durch die Straßen: Weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, dafür zu sorgen, dass das ‚erste Geschlecht’ noch eine ganze Weile das erste bleiben wird.“ (S. 13)
Freilich prangert sie zu Recht das System der Gewalt gegen Frauen, Mädchen und queere Personen an und verortet es im Prinzip der männlichen Herrschaft. Es ist aber unzulässig, allen Cis-Männern eine absichtsvolle Beteiligung im „globalen Genderzid“ (S. 11) zuzuschreiben. Zumindest müsste man einen Satz dazu verlieren, dass auch Männlichkeit ein Produkt gewaltsamer Zurichtung durch das System männlicher Herrschaft ist und keine kollektive Böswilligkeit – freilich ohne die individuelle Schuld einzelner Täter an Gewalttaten gegen Frauen zu relativieren. Zu solchen komplexen Reflektionen tritt aber das Manifest nicht an, es will natürlich eine Kampfschrift sein. Doch die Gratwanderung zwischen politischem Pamphlet und reflektierter politischer Positionierung gelingt hier leider nicht. Chiara Botticis „Anarchafeministische Manifest“ strotzt vor undifferenzierten Verkürzungen, die stellenweise einen Stammtischcharakter annehmen. Hinzu kommen Schwächen in der Argumentation, das Springen von Höcksken auf Stöcksken, ein belehrender bis befehlsförmiger Ton und viele, viele fehlende Bezugnahmen auf Theoretiker:innen, deren Positionen hier mitlaufen, ohne genannt zu werden.
Das Unbehagen, das das Oxymoron im Titel bei mir ausgelöst hat, setzt sich also durch den Text fort und ich kann die Lektüre am Ende leider nicht empfehlen.