Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk ist ganz zufällig in „Europas Flüchtlingsgeschichte“ gestolpert. Sie war mit 14 norwegischen KollegInnen im August 2015 auf einem Seminar in einem Kloster in der Nähe von Kalloní, einer Kleinstadt auf der griechischen Insel Lesbos. Die TeilnehmerInnen kamen dabei auch mit Geflüchteten und der Hilfsorganisation Agkalia in Kalloní in Kontakt.
„[W]ir spürten schnell, dass wir in den wenigen Tagen, die wir hier waren, versuchen mussten, etwas zu tun. Mitmenschen in Not waren zu nah an uns herangekommen, als dass wir hätten wegschauen können.“ (S. 15) Das war der Beginn ihres starken Engagements, denn in den folgenden Jahren kam sie immer wieder dorthin, um zu helfen. Daraus ist nun ein Buch entstanden, das von ihren insgesamt zwölf Reisen nach Lesbos und einer nach Idomeni berichtet. Idomeni ist ein kleiner Ort an der griechisch-bulgarischen Grenze, der im Frühjahr 2016 im Fokus der Fluchtbewegung Richtung Mitteleuropa stand.
Das 2024 im Frankfurter Westend Verlag erschienene Buch ist zuerst 2023 in norwegischer Sprache in Norwegen erschienen. Es wurde ins Deutsche übersetzt und um einen Epilog ergänzt, der die Entwicklung der Flüchtlingssituation auf Lesbos bis Ende 2023 thematisiert.
Brubakks Reisen haben meistens zirka einen Monat gedauert, es gab aber auch zwei, bei denen sie für jeweils fünf Monate auf Lesbos war. Sie hat immer wieder in anderen NGOs mitgearbeitet, bei Better Days for Moria, Ärzte ohne Grenzen, Caritas etc. und sich dabei verstärkt um geflüchtete Kinder gekümmert, aber nicht nur. Anfangs hat sie an den Stränden der Nordküste ankommenden Geflüchteten geholfen, das war Krisenmanagement, das ihr nur viele kurze Begegnungen mit ihnen ermöglichte. Später arbeitete sie dann in Lagern wie Moria oder Kara Tepe. Dort hatte sie „mehr Zeit, die Menschen kennenzulernen, denen ich begegnete, mehr von ihren Geschichten zu hören und besser zu verstehen, warum sie sich auf die Flucht begeben hatten“ (S. 111).
Diese Begegnungen und Gespräche mit Geflüchteten und die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse, die Brubakk auf Lesbos gemacht hat, bilden den Kern dieses Buches. Wobei es anfangs ganz anders gedacht war: „Wir hatten ein kurzes, einfaches Buch im Sinn gehabt. Der norwegische Verlag Forlaget Press und unsere Redakteure […] haben uns neu denken und uns sprachlich und inhaltlich mit dem groß gewordenen Projekt auf tolle Art geholfen.“ (S. 367) „Wir“ meint hier neben Brubakk die Co-Autorin und Journalistin Guro Kulset Merakeras. Eingeflochten in die chronologische Erzählung der Erlebnisse von Brubakk sind immer wieder die tagespolitischen Ereignisse, die einen Einfluss auf die Situation Geflüchteter auf Lesbos hatten und durch die Medien (weltweit) gingen, wie zum Beispiel der EU-Türkei-Vertrag von 2016, die Corona-Pandemie oder der russische Krieg gegen die Ukraine ab Februar 2022. Bezüglich Letzterem hatte Brubakk die Reaktion einiger Geflüchteter auf Lesbos mitbekommen, und schreibt dazu bitter: „Sie hegen Sympathie und Mitgefühl für die Ukrainer, die zur Flucht gezwungen werden, empfinden die ungleiche Behandlung jedoch als brutal. Einige nennen es Rassismus, einer sagt, er fühle sich wie ein ‚Untermensch‘.“ (S. 290)
Die Recherche zu der allgemeinen politischen Entwicklung rund um Geflüchtete auf Lesbos wurde von Merakeras durchgeführt. Zusätzlich in den chronologischen Ablauf des Buches eingeflochten sind außerdem 22 Fachbeiträge zu psychologischen Themen, und zwar immer so, dass sie zum Kontext des Geschehens passen. Beispiele: „Schock und Krisenreaktion“, „Traumata“, „Das kindliche Gehirn“.
Ich hatte am 6. Mai 2024 im Haus der Volksarbeit in Frankfurt/Main die Gelegenheit, die beiden norwegischen Autorinnen bei ihrer Buchvorstellung mit Lesung und Diskussion persönlich kennenzulernen. Veranstalterinnen waren Amnesty International Frankfurt und der Westend Verlag. An einer Stelle ihrer Lesung aus dem Buch hatte Brubakk sogar Tränen in den Augen. Man konnte merken, wie sie diese ganze Problematik mit den Geflüchteten emotional mitnimmt. Und ich denke, dass sie daraus ihre ganze Kraft für ihr starkes Engagement her nimmt.
Die ganz persönlichen Erlebnisse von Brubakk sowie das, was die zahlreichen Geflüchteten ihr erzählt haben, auch über ihre Flucht selbst, sind besonders interessant an diesem spannenden Buch. Geben sie doch einen tiefen Einblick in die Flüchtlingsproblematik, aber auch in die Gefühlswelt zahlreicher Geflüchteter. Die Schilderung des mehr Allgemeinen, was sich drum herum und auch weltweit ereignet hat, rundet dieses Buch gelungen ab. So kann sich der/die Lesende einen guten Über- und Einblick in die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 bis heute verschaffen. Zum Beispiel über die „Herzenswärme seitens der Lokalbevölkerung“ (S. 43), die 2015 noch auf Lesbos geherrscht hat; über das seinerzeit vorbildlich geführte Pikpa Camp; über den Brand von „Europas größte[m] Flüchtlingslager“ (S. 213) Moria im September 2020; über die Angriffe auf Freiwillige während der Corona-Pandemie durch Teile der Lokalbevölkerung und zugereister Rechter, die bezüglich Freiwilliger meinten, „würden sie nicht hier sein, dann wären es auch die Flüchtlinge nicht“ (S. 206). Außerdem über die staatliche Kriminalisierung von HelferInnen bzw. von Solidarität ganz allgemein.