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Pınar Selek: Jenseits der Repression

Vortrag über Emanzipation und die Traumabewältigung einer Bewegungs-Forscherin

| Pınar Selek

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Foto: Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons - cc-by-sa-3.0, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Bei dem im Dezember 2024 erfolgten Sturz der brutalen Diktatur des Assad-Familienclans in Syrien hat sich eine von Islamist*innen dominierte Koalition in Szene gesetzt, der auch die frühere Freie Syrische Armee angehört, welche massiv von der Türkei unterstützt wird. Es besteht die Gefahr, dass die Türkei via ihrer Geld- und Waffenlieferungen für diese islamistisch dominierte Koalition ihren imperialistischen Einfluss auf Syrien ausweitet – u. a. auf Kosten der dortigen kurdischen Bevölkerungsgruppe, die bereits bei der Einnahme von Aleppo in großer Zahl nach Osten, in die überwiegend von Kurd*innen bewohnten Gebiete, fliehen musste.
Die seit 2009 im französischen Exil lebende antimilitaristische Anarchafeministin und Wissenschaftlerin Pınar Selek hat ihre wissenschaftliche Forschung für ihr Diplom in Soziologie an den Unis von Ankara und Istanbul in den 1990er-Jahren auf eine Reihe von Interviews mit kurdischen Oppositionellen gestützt. Im Juni 1998 wurde sie von der türkischen Polizei in Istanbul verhaftet und gefoltert, als sie die Namen der von ihr für ihre wissenschaftliche Arbeit Interviewten nicht preisgab. Ihre Protokolle, Notizhefte und wissenschaftlichen Aufzeichnungen fielen dennoch in die Hände der türkischen Polizei und ihrer Folterer. Seit 1998 wird Pınar Selek vom türkischen Militärregime zusätzlich wegen falscher Anklage eines angeblichen Bombenattentats in Istanbul, das sie nie begangen hat, oder ihrer angeblichen PKK-Mitgliedschaft juristisch verfolgt. Diese nahezu lebenslange Repression durch die türkische Autokratie setzt sich aktuell durch eine Anhörung am 7. Februar 2025 in Istanbul fort, zu der eine Internationale Delegation der Solidaritätsgruppen aus Europa anreisen wird, um die Abwesenheit bei der Anhörung und den Verbleib von Pınar Selek im französischen Exil öffentlich zu verteidigen. (1)

Ich will von meinem Versuch sprechen, mich von einem Regime zu emanzipieren, das alles tut, um die akademische Freiheit einzuschränken, aber auch, um die Forschung und die Forscherin zu zerquetschen und zu zerstören.

Den folgenden Vortrag hat Pınar Selek in der letzten Novemberwoche 2024 an der Université Paris Cité gehalten. Er befasst sich mit ihrer persönlichen Traumaaufarbeitung, die die Verfolgung durch die türkische Justiz seit nunmehr 26 Jahren verursacht hat, auch wenn sie am 7. Februar 2025 noch weiter im sicheren französischen Exil verbleiben kann. (GWR-Red.)
Es gibt tausend Arten der Unterdrückung. Es gibt tausend Arten, sie zu verletzen, die akademische Freiheit. Und tausend Arten, Widerstand zu leisten, sich zu emanzipieren und die eigene persönliche Integrität wiederherzustellen. Ich spreche von Wiedergutmachung und Bewältigung, denn jede Forscherin, die daran gehindert wird, ihren reflexiven Ansatz zu einem Thema zu teilen; jeder Forscher, der daran gehindert wird, seine Fragen und Problemstellungen mitzuteilen und Forschung zu betreiben, ist Opfer von Gewalt.
Sobald wir eine Fragestellung erarbeiten, gebären wir neues Wissen. Ein Wissen, das in Bewegung ist, sowohl in uns als auch außerhalb von uns. Sobald es erschaffen wurde, muss es frei fließen, wie ein Fluss. Wenn sein Fluss behindert wird, leidet es: Die Bedeutungsgehalte der Fragezeichen, die ungelösten Fragen werden schärfer und verwandeln sich in Klingen, die schmerzen. Wenn dieses Wissen jedoch seinen Weg findet, wenn es ihm gelingt, zu fließen, dann gewinnt es an Autonomie. Diese Entwicklung vollzieht sich durch die Materialien, die wir durch unsere Arbeit in der Feldforschung formen. Indem wir arbeiten, gestalten wir ein Wissen mit einer eigenen Struktur und einem eigenen Bedeutungsgehalt. Dieses Wissen nennt man Forschungsergebnis. Und was passiert, wenn dieses Ergebnis entführt wird? Was ist, wenn es seit über 26 Jahren kein Lebenszeichen von ihm gibt?

Gewalterfahrung und Rekonstruktion einer Forschung

Heute will ich, um Ihnen eine mich selbst in der Opferrolle festbindende Erzählung zu ersparen, über meinen eigenen Versuch sprechen, diese Unterdrückung zu transzendieren. Ich will von meinem Versuch sprechen, mich von einem Regime zu emanzipieren, das alles tut, um die akademische Freiheit einzuschränken, aber auch, um die Forschung und die Forscherin zu zerquetschen und zu zerstören. Ist das möglich, wenn die Erinnerung an die extreme Gewalt, die ich erlitten habe, jeden Tag so präsent ist? Wenn ich permanent verfolgt werde? Ständig mit dem Tod bedroht werde? Wenn meine Familie ebenfalls bedroht wird? Der Sinn meines Vortrags liegt auch nicht darin, wie es mir gelingt, gegen alle gegenwärtigen Repressionen eine Strategie des Aushaltens zu leben, wenn ich meine wissenschaftlichen Aktivitäten fortsetze, ohne auf die damit verbundenen Themenstellungen zu verzichten.
Ich erzähle Ihnen von meinem Versuch, meine vom Regime beschlagnahmte Forschung zu retten. Ich mache mir und Ihnen klar, wie ich die verschwundenen Seiten meiner Forschungsarbeit geöffnet habe. Ohne sie wiedergefunden zu haben. Ich habe sie nie wiedergefunden. Ich erzähle von meiner soziologischen Forschung über die kurdische Bewegung. Meine entführte, enteignete und verschwundene Forschung. Meine verletzte Forschung in mir. Und es ist ungefähr ein Jahr her, dass mir die tragischere Seite dieser Geschichte bewusst wurde: ihre Auslöschung in meinem Gehirn. Wie kann eine Arbeit, die ich mit großer Neugier begonnen und drei Jahre lang bis zur letzten Minute mit Enthusiasmus durchgeführt habe, einfach so liegen bleiben?
Was seltsam ist: Ich hatte nicht die Vorstellung, dass diese Arbeit unvollendet war. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum ich sie nicht wieder aufgenommen habe.
Vor weniger als einem Jahr stellte ich mich erneut vor den Brunnen meiner Forschungsarbeit für ein Diplom in Soziologie. Ich blickte in ein schwarzes Loch und begann, nur ein paar konfiszierte Materialien aus meiner Forschung nach oben zu ziehen… Ich habe nichts anderes. Weder die Interviews mit kurdischen Aktivist*innen noch die Notizen, ebenso nicht meine Notizbücher…
Ich wusste genau, dass es allein aus meiner Erinnerung heraus unmöglich war, eine dreijährige Arbeit zu rekonstruieren.

Selbstbefragung nach einer Verinnerlichung des Verbots

Aber ich musste zuerst verstehen, was mit mir selbst und meinen Interviewpartner*innen geschehen war. Also griff ich zur Feder. Etwa mit folgender Ausgangsfrage:
„Ist das eine Verinnerlichung des Verbots meiner Materialien? Habe ich das Verbot zu einem Teil von mir selbst gemacht? Ist das ein Zustand, gegen den ich keinen Widerstand leiste? Wenn dem so wäre, wie erklärt sich dann die Tatsache, dass ich mich oft im öffentlichen Raum zu diesem Thema äußere? Es ist also keine Angst! Was ist es dann? Ist es Müdigkeit? Das ist unwahrscheinlich. Vielleicht gab es eine Blockade in mir: Meine Forschung war ein lebender Organismus. Sie wurde geboren und wuchs weiter. Sie wurde nur entfernt, aber nicht abgetrieben. Die Geburt ist nicht die Veröffentlichung. Diese Materialien sind verletzt, aber immer noch am Leben, in Transformation, in Schwingung. Um sie wiederherzustellen, schreibe ich.“
Wie Sie aus diesen Worten heraushören werden, war ich zutiefst erstaunt. Es war mein tiefes Erstaunen, das mir die Kraft zum Schreiben gab. Ich schrieb, um etwas herauszufinden und um die Verwirrung loszuwerden. Als mir vorgeschlagen wurde, hier an der Universität davon zu sprechen, war ich mitten in dieser umwerfenden, erschütternden Erfahrung. Es war intensiv, aber auch überraschend. Ich hatte gerade über das unvollendete Werk von Germaine Tillion (2) gelesen. Für den Titel meines heutigen Vortrags schlug ich den Begriff „Traumabewältigung“ vor. Es ging darum, meine Forschung zu retten, sie wortwörtlich zu bewältigen und mich selbst wiederherzustellen. Es ist eine sozialanthropologische Bewältigung, aber auch eine psychologische.
Aber je weiter ich kam, desto schwieriger wurde es. Mein tägliches Leben ist gestört. Ich verstehe, wie im Prozess der Zerstörung meiner Forschung meine Erinnerungen an diese Materialien nicht nur zu meinem Forschungsfeld gehören, sondern auch zu einem anderen Kontext. Sie wurden nicht nur beschlagnahmt, sondern während meiner Folter gelesen und wiederholt. Da mir die Augen verbunden waren, konnte ich die Münder, die sie vorlasen, nicht sehen.
Wenn ich aus dem Schacht meines Gedächtnisses ein solches Material herausziehe, rieche ich den Geruch ihrer Zigaretten und spüre einen enormen Schmerz. Und ich verstehe, wie diese Materialien mein Inneres während der Folter geprägt haben. Da ich mehrere Nächte und Tage damit experimentiert habe, sie vor der Polizei zu verstecken, haben sie sich in mir eingeprägt. Heute sind sie ein Teil von mir. Die Folter, anstatt sie auszuwerfen, hatte einen gegenteiligen Effekt und sorgte dafür, dass sich die Erinnerung an meine Studien in mir einprägte.

Keine Bewältigung ohne Gerechtigkeit

Dabei schämte ich mich vor meinen Interviewpartner*innen, die mir immer für meinen Widerstand und meine Aufmerksamkeit beim Aufschreiben ihrer Erinnerungen gedankt hatten. Ich hatte also meine Interviewpartner*innen durch meine Aussageverweigerung gegenüber den Folterern geschützt. Aber eben nicht meine Materialien selbst, die mir mit großer Diskretion anvertraut worden waren. Es war mir, als ob ich sie mit den Händen der Folterer beschmutzt hätte.
Seit zwei Monaten schlafe ich weniger als vier Stunden. Es handelt sich nicht um Schlaflosigkeit. Aber dieser Brunnen hat mich immer mehr in Beschlag genommen und ich kann die Feder nicht mehr weglegen. Mein Versuch ist noch nicht abgeschlossen. Im Moment habe ich zu große Schmerzen. Und es ist schwer, darüber zu sprechen, wenn ich gerade dabei bin, Dinge zu spüren, die zerbrechen, die enorm bluten, die in meinem Inneren schreien.
Da ich nicht nachgeben will, beginne ich allmählich, das Ruder in den Sozialwissenschaften herumzureißen. Ich zwinge mich, die Reflexion voranzutreiben, um die verletzte Forschung in mir zu objektivieren, anstatt sie zu erleiden. Ich gehe sie als einen Prozess an, der zu meinem Forschungsobjekt geworden ist. Beim Schreiben verwandelt er sich in eine Erzählung. Unsere Erzählung? Über mich, meine Forschung und meine Inter-viewpartner*innen.
Bald werde ich meine Feder niederlegen. Und Sie werden sehen, dass das Buch, das voraussichtlich im Herbst des Jahres 2025 dabei herauskommen wird, in erster Linie meinen Interviewpartner*innen Gerechtigkeit widerfahren lassen will.
Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Bewältigung.

(1) Vgl. dazu: Guillaume Gamblin (Hg.): Die Unverschämte. Gespräche mit Pınar Selek, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, 2023, besonders die Seiten zu ihrer Forschungsarbeit, ihrer Verhaftung und Folter S. 83-97. Siehe auch den Artikel: „Türkei: Verfolgung von Pınar Selek erneut bedrohlich“, in: GWR 494, Dez. 2024, S. 7.
(2) Germaine Tillion (1907-2008) war französische Ethnologin und während der NS-Besatzung Frankreichs Mitglied der Résistance. Bei mehreren Studienreisen ins koloniale Algerien erforschte sie vor allem Mitglieder der berberischen Bevölkerungsgruppe, der Kabyl*innen, und deren Streben nach Autonomie.

Kontakt für alle, die an der Internationalen Delegation nach Istanbul am 7.2.2025 teilnehmen wollen:
comitepinarselek13@gmail.com

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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