Aus der Geschichte lernen und sich reflektierend weiterentwickeln, ein eigentlich klassisch linker Anspruch und eine Tugend, der die meisten Leser*in-nen vermutlich kopfnickend beipflichten würden. Doch wie das so ist mit Anspruch und Wirklichkeit, manchmal klafft die Lücke weit auseinander und so erinnere ich mich an meinen ersten Artikel, den ich vor mehr als 20 Jahren in der GWR schreiben durfte. Schon damals ging es um den Nahostkonflikt und deutsche Linke, die sich unbedingt auf einer Seite positionieren mussten und dabei eigentlich nur die falsche wählen konnten.
Mit dem antisemitischen Massaker und der Verschleppung Hunderter israelischer Geiseln durch die Hamas vor rund 16 Monaten hat zweifelsohne eine neue Eskalation der Gewalt im Nahen Osten begonnen. Die anschließend von der extrem rechten, israelischen Regierung propagierte „vollständige Vernichtung der Hamas“ mit Flächenbombardements in Gaza hat bislang Zehntausende zivile Opfer gekostet und zu einer humanitären Katastrophe in Gaza geführt. Mit den Bombardierungen und der Bodenoffensive im Libanon drohte sich dies zu wiederholen. Eine weitere Eskalation der Situation in der Region ist nicht auszuschließen, wie wir nahezu täglich in den Medien verfolgen können. Nicht nur weil unsere Position hierzulande nahezu keine Änderung vor Ort erzielt, auch sonst gibt es keinerlei Notwendigkeit, einer der Kriegsparteien den Rücken zu stärken.
Und nicht nur für den Blick in den weit entfernten Nahen Osten, sondern auch in unseren Zusammenhängen und Strukturen gilt: Politische Diskussionen müssen in einem Klima geführt werden können, das nicht von Angst und Einschüchterung geprägt ist. Als Menschen, die eine herrschaftslose und gewaltfreie Gesellschaft anstreben, sollten wir vielmehr stets an der Seite der Betroffenen von antisemitischer, rassistischer, kolonialer und rechter Gewalt stehen. Jüdische Menschen für die kriegerische Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas verantwortlich zu machen, ist antisemitisch. Ebenso dürfen Palästinenser*innen oder Menschen mit muslimischen Glauben nicht für die brutalen Taten von Hamas oder Hisbollah angegriffen werden.
Politische Diskussionen müssen in einem Klima geführt werden können, das nicht von Angst und Einschüchterung geprägt ist
Eine Gesprächskultur, in der verschiedene Standpunkte dargestellt werden können, in der hinterfragt werden darf und in der die kulturellen Hintergründe der Sprecher*innen geachtet werden, muss möglich sein. Meinungsverschiedenheiten müssen wir bis zu einer gewissen Grenze aushalten. Die eigene politische Position mit körperlicher Gewalt durchzusetzen ist hierbei keineswegs zulässig und aufs Schärfste zu verurteilen. Ein NoGo sind allerdings Gruppen und Personen, die eindeutig antisemitische oder rassistische Positionen verlautbaren und transportieren. Dabei ist es nebensächlich, ob es sich dabei um Unterstützer*innen der Hamas handelt oder ob die eklatanten Menschrechtsverbrechen der israelischen Regierung geleugnet oder gar befürwortet werden.
Dementsprechend gilt auch in einer offenen Gesprächskultur: Unsere Solidarität hat Grenzen, ist nicht beliebig dehnbar und strapazierfähig. Solidarität kann es weder mit (religiösen) Faschisten geben noch mit nationalistischen Siedler*innen. Keine Unterdrückung der Welt rechtfertigt beispielsweise das Ermorden von queeren Menschen, keine geschichtliche Entwicklung Völkermord und apartheidähnliche Gesetze.
In diesem Sinne: Ergreifen wir nicht Partei für diese oder jene Kriegsseite. Solidarisieren wir uns mit Geflüchteten, mit den Betroffenen von Bombardements und Raketeneinschlägen, mit jenen, die dem unvorstellbaren Horror ausgesetzt sind, dessen alleinige Vorstellung uns nicht möglich ist. Mit den Entrechteten und den Angegriffenen, mit denen, die keine Lebensperspektive erblicken können und mit jenen, die aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Herkunft auf den Straßen angegriffen werden. Unterstützen wir die Menschrechtsorganisationen und unabhängigen Journalist*innen, die Initiativen und Personen vor Ort, die für Gerechtigkeit und Aussöhnung streiten.
Ergreifen wir Partei für die Menschlichkeit.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.