Perspektiven für Nordostsyrien?

Die Situation in Rojava nach dem Ende des Assad-Regimes

| Michael Wilk

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Friedhof der Toten Kämpfer*innen der YPG/YPJ in Kobane - Foto: Michael Wilk

Mehr als dreizehn Jahre nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings und dem anschließenden Beginn des Bürgerkriegs in Syrien kollabierte im Dezember 2024 die syrische Diktatur. Der Autokrat Baschar al-Assad floh ins russische Exil. Das Ende des Folter-Regimes der Familie Assad, die Syrien seit 1971 totalitär regiert hatte, ist ein Grund zum Feiern. Gleichzeitig ist eine neue Diktatur durch die siegreichen islamistischen Milizen zu befürchten. Hoffnungsträger für feministische, anarchistische, ökologische und andere emanzipatorische Bewegungen sind dagegen die Menschen, die seit 2012 vor allem in den kurdischen Gebieten Syriens versuchen, eine autonome, selbstverwaltete und emanzipatorische Sozialstruktur zu organisieren. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, bekannt unter dem kurdischen Namen Rojava (Westkurdistan), ist ein de facto autonomes Gebiet in der gleichnamigen Region im Nordosten von Syrien. Dort wird versucht, eine direkte Demokratie mit pluralistischen Prinzipien zu realisieren, die für ökologische Nachhaltigkeit eintritt und die Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von Ethnie, Religion oder Geschlecht verwirklicht. Seit 2016 wird die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien von der Türkei angegriffen. Für die GWR beschreibt Dr. med. Michael Wilk die aktuellen Entwicklungen. Der Autor von „Erfahrung Rojava – Berichte aus der Solidaritätsarbeit in Nord-Ostsyrien“ (Edition AV, Lich 2022) ist aktiv im Anarchistischen Forum Wiesbaden und seit 2014 regelmäßig unterstützend als Notarzt für den Kurdischen Roten Halbmond in Rojava (1) im Einsatz. (GWR-Red.)

Dinge ändern sich. Manchmal schnell und überraschend. Am 27. November 2024 starteten von der Region Idlib aus Einheiten der islamistischen HTS (2) im Bündnis mit der SNA (3) eine Offensive, die am 8. Dezember 2024 mit der Flucht Assads nach Russland und damit zum Ende seines diktatorischen Regimes in Syrien führte. Die meisten Menschen in Syrien feierten das Ende eines Terror-Staats, der mit brutaler Unterdrückung, Mord und Folter, jedwede Opposition unterdrückt hatte.
Eine Auseinandersetzung, die mit dem Arabischen Frühling 2011 begann und deren wechselvoller Verlauf Hundertausende Menschen das Leben kostete und Millionen Menschen zur Flucht zwang, schien mit der Befreiung Tausender aus den Gefängnissen zu Ende zu sein und ließ die Menschen jubeln. Auch im Nordosten Syriens, der Selbstverwaltungszone Rojavas mit seiner multiethnischen Bevölkerung, gab es Freude über das Ende des Regimes. Vor allem die kurdische Bevölkerung hatte lange unter der Assad-Diktatur gelitten, lebte diskriminiert und entrechtet. Erst im Verlauf der Auseinandersetzungen nach 2011 gelang es in Abgrenzung zum Assad-Regime und im Kampf gegen die islamistische al-Nusra-Front und den IS, im Untergrund gewachsene emanzipative Ideen gesellschaftliche Realität werden zu lassen. Das Assad-Regime musste sich zu Beginn des Bürgerkriegs auf seine Kerngebiete zurückziehen, kurdische Kräfte übernahmen vielerorts die Kontrolle im Nordosten. Die dschihadistisch-salafistische al-Nusrah Front und später der Islamische Staat (IS) eroberten weite Teile Syriens und errichteten eine islamistische Schreckensherrschaft, die erst durch die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ mit Unterstützung der Internationalen Anti-IS-Koalition gebrochen werden konnte. Mit der zunehmenden Zerschlagung des IS, die über 11.000 Tote und ca. 21.000 Schwerverletzte und Verstümmelte forderte, endete nicht nur ein religiös-totalitäres Terrorregime, sondern es eröffnete sich die Chance alte gesellschaftliche Machtverhältnisse und tradierte patriarchal-autoritäre Strukturen in Frage zu stellen.
Im März 2016 rief eine Versammlung kurdischer, assyrischer, arabischer und turkmenischer Delegierter die autonome Föderation Nordsyrien – Rojava aus, bestehend aus den drei Kantonen Cizîrê, Kobanê und Efrîn (Afrin). Das selbstverwaltete Gebiet Nordostsyrien entstand und wuchs mit jeder Niederlage des IS. Es reicht heute bis an den Euphrat und umfasst ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebiets, mit geschätzt 4-5 Millionen Menschen. Diese distanzierten sich vom Assad-Regime, über Jahre kam es immer wieder auch zu Kämpfen mit Regime-Truppen in den Enklaven des Regimes innerhalb Rojavas, in Haseke oder auch Qamishlo, oder auch im innersyrischen „Grenzgebiet“ zwischen Rojava und dem der Regierung in Damaskus. Von beiden Seiten herrschte eine fragile Akzeptanz, die sich nicht durch Sympathien, sondern notgedrungen durch Machtverhältnisse und pragmatische Gesichtspunkte ergab. So war die Bevölkerung Rojavas, bei aller Abgrenzung gegenüber der Regierung in Damaskus, zum Beispiel im internationalen Rahmen auf syrische Pässe angewiesen, die nur von der Zentralregierung (gegen die Bezahlung hoher Geldbeträge) ausgestellt werden konnten. Das Assad-Regime war gerade zu Beginn des Bürgerkriegs kaum in der Lage die Revolten im Süden und seinen Kerngebieten unter Kontrolle zu bekommen und konzentrierte sich unter Aufgabe des Nordens mit seiner starken kurdischen Bevölkerung, auf das eigene Überleben. Dass damals aus strategischen Gründen nicht der völlige Bruch mit Assad vollzogen und keine militärische Auseinandersetzung mit dem Regime forciert wurde, wurde von anderen Oppositionsgruppen kritisiert. Um die Gründung eines eigenen Staates, bzw. die völlige Lossagung vom syrischen Staat ging es jedoch nie, verfolgt wurde vielmehr eine Autonomie im Sinne weitestgehender Selbstbestimmung. Die Entscheidung schaffte Gestaltungsraum, der so weit als irgend möglich genutzt wurde.
Im Nordosten forcierten die Anhänger*innen der kurdischen PYD, Partei der Demokratischen Union, den Versuch einer zivilgesellschaftlichen Neuorganisierung unter Verfolgung basisdemokratischer Prinzipien einer „direkten Demokratie“, unter Einbeziehung und Verantwortung aller im Gebiet lebenden Ethnien/Kulturen, nicht nur der kurdischen, sondern ebenso der arabischen, assyrischen, turkmenischen und yesidischen Menschen. Die Zivilgesetze des syrischen Staates blieben nur soweit gültig, soweit sie nicht dem 2014 verabschiedeten Gesellschaftsvertrag Rojavas widersprachen. Darin verankert ist die völlige Gleichberechtigung von Frauen, die sich auch in der allgegenwärtigen Präsenz von Mann/Frau-Doppelspitzen bei allen Institutionen ausdrückt. Auch die Rechte von Minderheiten, die Verpflichtung zu ökologischer Nachhaltigkeit, direkter Demokratie und politischer Dezentralisierung finden sich im Vertrag, ebenso wie die Abschaffung der Todesstrafe. Die islamische Mehrehe wurde zugunsten einer Zivilehe abgeschafft, ein Schritt hin zu einer säkularen offenen Gesellschaft. Der Gesellschaftsvertrag ist inspiriert durch die Schriften Abdullah (Apo) Öcalans an, der als Vorsitzender der Kurdischen Arbeiter Partei (PKK), seit 1999 in der Türkei inhaftiert ist und in Rojava personenkulthafte Anerkennung genießt. In seinem Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ (Unrast) hatte Öcalan 2004 seine „Abkehr vom Dogmatismus“ verkündet und die Prinzipien des demokratischen Konföderalismus und der demokratischen Autonomie ausformuliert. Seine nicht nationalistische Vision einer kommunal organisierten demokratisch-ökologischen Gesellschaft gab der kurdischen Bewegung wichtige Impulse und bietet Anregungen für die Debatte um einen neuen freiheitlichen Sozialismus. Sein Plädoyer gegen staatliche Gewaltverhältnisse und Krieg und Gewalt zur Durchsetzung von Machtinteressen bildet ihr theoretisches Fundament. Die Positionen des einstigen Leninisten und kurdischen Nationalisten hatten sich im Laufe der Jahre gewandelt, vom Marxismus-Leninismus, der Kritik am realen Sozialismus, bis hin zum demokratischen Konföderalismus, beeinflusst von den Schriften des Öko-Anarchisten Murray Bookchin, dem Feminismus, Zapatismus und der kritischen Theorie. Die angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen unterscheiden sich in wesentlichen Punkten diametral von denen der zuvor herrschenden tradierten patriarchalen Herrschaftsstrukturen.
Die Umsetzung ist eine Herausforderung und schwierig, wie jede emanzipative Veränderung ist es ein Prozess und nicht nur eine Entscheidung. Die Absicherung der zivilgesellschaftlichen Veränderungen wurde angesichts der Bedrohungen durch islamistische Milizen, vor allem durch den IS, aber auch in Abgrenzung zur Regierung in Damaskus, durch eine bewaffnete Selbstverteidigung erreicht. Seit 2012 übernahmen die Selbstverteidigungseinheiten der YPG/YPJ (YPG Männer und Frauen, YPJ ausschließlich Frauen) diese Aufgabe.
Das Assad-Regime konnte im Verlauf des Bürgerkriegs mit der Unterstützung Russlands und des Irans seine Herrschaftszone ebenso konsolidieren, indem es vom Süden her den IS bekämpfte und ebenso die aufständische Freie Syrische Armee (FSA), sowie andere widerständige islamistische Milizen verdrängte. Diese wiederum sammelten sich in der Provinz Idlib, die deshalb über Jahre vom Assad-Regime und seinen Schutz- und Unterstützungsmächten Russland und Iran massiv und auch unter Begehung von massiven Kriegsverbrechen attackiert wurde. Im Unterschied zu Nordostsyrien/Rojava, entwickelte sich die Region Idlib zum letzten größeren Rückzugsort vor allem der islamistischen oppositionellen Kräfte. Von Anfang an stand die Region und die HTS unter starkem Einfluss der nur ca. 20 Kilometer entfernten Türkei, die Unterstützung auch in Form von Geld, Waffen und Logistik lieferte. Aber nicht nur das Erdoğan-Regime versuchte in Idlib und auf den dort entstehenden regionalen Defacto-Staat mit den dort agierenden Milizen Einfluss zu nehmen, sondern ebenso westliche Länder, auch Deutschland, das über Jahre immer wieder mit Millionenbeträgen unterstützte. Die USA führte am 3. Februar 2022 auf dem Gebiet eine Militäroperation durch, die einen Anführer des IS tötete.
Die türkische Autokratie nutzte von Anbeginn an ihren Einfluss in Idlib, indem sie sowohl die HTS als auch die SNA finanziell und logistisch unterstützte. Den größeren Einfluss hat sie auf die SNA, aus deren Reihen sie Söldner rekrutierte, die als Hilfstruppen bei militärischen Aktionen gegen die Selbstverwaltungszone Nordostsyriens, eingesetzt wurden. Diese islamistischen Milizen, deren Kämpfer nicht selten noch das Symbol des IS trugen, waren maßgeblich an allen vom Erdoğan-Regime befohlenen Invasionen der türkischen Armee in Rojava (West-Kurdistan im Norden Syriens) beteiligt, so 2016 bei der Operation Euphrat Schild, 2018 Operation Olivenzweig, der Invasion in Afrin und 2019 der Operation Friedensquelle, der Invasion zwischen Serekanije und Gire Spi. Die Überfälle hatten zahlreiche Tote und Verletzte zur Folge. Hunderttausende Kurd*innen wurden aus ihren angestammten Gebieten vertrieben. Die überfallenen Gebiete waren Schauplatz schwerer Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Ich war im Januar 2018 mit einem Hilfskonvoi des Kurdischen Roten Halbmonds, Heyva sor a kurd, vor Ort und musste erleben wie tausende von Menschen mit wenig mehr als dem was sie am Leibe trugen, aus Afrin nach Sheba flohen. Es war bitter-kalt, Kinder starben auf der Flucht. In den von der Invasion betroffenen Gebieten etablierten sich die Besatzer und richteten sich zum Bleiben ein. Die militärischen Selbstverteidigungskräfte der SDF konnten das nicht verhindern. Aus den annektierten Gebieten wurden die Kurd*innen und ihre Kultur verdrängt. 
So will der türkische Staat Raum schaffen für arabisch-syrische Geflohene, die die Türkei verlassen sollen.
Autokrat Erdoğan bekämpft seit Jahren die kurdische Selbstorganisierung in der Türkei, nicht nur die PKK als militante Organisation, sondern ebenso pro-kurdische Parteien wie die DEM, Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker. Die Autokratie setzt die demokratisch gewählten Bürgermeister*innen immer wieder ab und inhaftiert Oppositionelle. Die ideologische Nähe der Selbstverwaltung Nordostsyriens zur PKK, die in westlichen Ländern als terroristische Organisation gelistet ist, ist kein Geheimnis. Daraus jedoch eine konkrete Bedrohung der Türkei durch Rojava abzuleiten, entspringt der propagandistischen Kriegsführung Erdoğans. Es hat keine Angriffe von Seiten Rojavas in Richtung Türkei gegeben. Erdoğan fürchtet den Selbstorganisierungsprozess der Menschen in Rojava, es wäre der Albtraum des Potentaten eine autonome und von kurdischen Menschen mitbestimmte Region im Norden Syriens, als beispielgebendes emanzipatives Gesellschaftsmodell akzeptieren zu müssen. Was dem türkischen Machthaber die Argumentation einer Bedrohung aus Rojava erschwert, ist die Tatsache, dass die Selbstverteidigungseinheiten der YPG/YPJ spätestens seit der Verteidigung der Stadt Kobanê 2014/15, als verlässliche Partner der Anti-IS-Koalition gelten und von den USA militärisch und logistisch unterstützt werden. Durch die Zerschlagung des islamistischen Terrorsystems IS erfuhren die Kämpfer*innen weltweite Anerkennung.

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Flucht. Kinder aus Afrin 2018 – Foto: Michael Wilk

Die YPG/YPJ fusionierten im Verlauf mit Selbstverteidigungseinheiten der anderen in Rojava lebenden Ethnien zu den SDF (Syrien Democratic Forces). Dazu zählen die kurdisch-turkmenischen Einheiten, die sunnitisch-arabische Milizen, sowie der assyrisch-aramäische Militärrat der Suryoye. Sie überwachen weiterhin die im Untergrund aktiven Schläferzellen des IS und sorgen zudem für die sichere Verwahrung inhaftierter hochgefährlicher IS-Kämpfer. Die Zusammenarbeit der SDF mit den USA am Punkt der IS-Bekämpfung bietet keinen Schutz gegen die Invasionen und Angriffe der Türkei. Die Rücksichtnahme der USA auf den Nato-Partner Türkei ist groß. In der letzten Amtsperiode Trumps erhielt die Türkei freie Hand und die türkische Armee konnte mit Hilfe der SNA 2019 erneut in kurdische Gebiete Syriens einmarschieren. Zu schaffen machte den Verteidiger*innen Rojavas vor allem ihre Schutzlosigkeit gegenüber den zahllosen Luftangriffen der türkischen Luftwaffe, die mit Kampfflugzeugen und Drohnen nicht nur die Invasionen durch Luftangriffe vorbereitete, sondern auch immer wieder die Zivilbevölkerung und Infrastruktur Rojavas angriff (die GWR berichtete). Der Forderung nach einer Flugverbotszone unter internationaler Überwachung wurde nicht nachgekommen. Die Vertreter*innen der Bundesrepublik reagierten nicht oder nur zurückhaltend auf die anhaltenden Angriffe und den staatlichen Terror der Türkei. Ein Stopp der deutschen Waffenlieferungen an die Krieg führende Türkei ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Beim letzten Besuch von Bundeskanzler Scholz in Ankara, wurde die Lieferung von deutschen Eurofightern in Aussicht gestellt.
Trotz absehbarer Fruchtlosigkeit, versuchten Selbstverwaltung, (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) und SDF den Konflikt mit der Türkei durch den Rückzug einiger Einheiten zu entschärfen. Diese wurden nach Vereinbarung durch russische Patrouillen und Soldaten des ungeliebten Assad-Regime ersetzt. Ein weitgehendes erfolgloses Unterfangen. Russland verfolgte die Interessen Assads und nicht die der Selbstverwaltung, es kungelte ebenso mit Erdoğan, der seinerseits mit Russland engere Beziehungen anstrebt. Es ergab sich die bizarre Situation, in Rojava in kurzem Abstand, bzw. engerem Raum, russischen und amerikanischen Panzerfahrzeugen begegnen zu können, die sich untereinander in Ruhe ließen und auch gegenüber der Türkei keinen Schutz darstellten. So verzeichnete vor allem das letzte Jahr 2024 eine gehäufte Anzahl von Drohnenangriffen und Beschießungen, die unberechenbar Menschen tötete, schwer verletzte und eine große Anzahl wichtiger Infrastruktur (Wasser- und Energieversorgung, Ernährung, medizinische Versorgung) zerstörte. Der Terror der Luftangriffe sollte, neben Tod und Zerstörung, auch die mentale Verfassung der Menschen zermürben und das Vertrauen in die Selbstverwaltung schädigen. Dies war der Status quo bis zum November 2024, dem Monat, in dem das Ende des Assad-Regimes eingeleitet wurde.

Das Ende der Assad-Diktatur

Schon mit dem Beginn der Offensive zeigten sich unterschiedliche Strategien und Ziele der beteiligten Milizverbände. Während die HTS die Vertreibung der Assad-Armee aus Städten und strategisch wichtigen Plätzen forcierte, griffen die türkischen SNA-Milizen von Anfang an Gebiete unter kurdischer Kontrolle an. Zuerst traf es Sheba, hier lebten tausende Menschen, die bereits 2018 aus Afrin vor den Invasionstruppen und der marodierenden SNA geflohen waren. Während westliche Medien vor allem über das Ende des Assad-Regimes berichteten, wiederholten sich die schrecklichen Szenen einer Flucht mit Todesangst vor Mord und Todschlag der SNA-Miliz. Über 120.000 Menschen wurden erneut vertrieben, sie flüchteten nach Osten in Richtung Rojava, erlitten ein weiteres Mal das Trauma der Vertreibung. Wieder erfroren Kinder auf der Flucht. Die Selbstverwaltung konnte im Kontakt mit der HTS erreichen, dass zumindest ein Fluchtkorridor geöffnet wurde. Hier zeigte sich zum ersten Mal ein relevanter Unterschied zwischen HTS und der unter dem Kommando der Türkei agierenden SNA-Söldner. Diese setzte ihre Angriffe fort, es gelang ihr die Stadt Minbic auf der Westseite des Euphrat einzunehmen. Die SNA versucht den Euphrat zu überqueren und in Richtung Kobanê zu marschieren, der Stadt, die 2014 in erbittertem Widerstand der Eroberung durch den IS trotzte. SDF-Einheiten verteidigen die Brücken über den Euphrat und verhindern dadurch den weiteren Vormarsch der islamistischen Söldner. Die USA, mit ca. 2.000 Militärs vor Ort, versuchen zwischen der Türkei und der Selbstverwaltung zu vermitteln und stationierten mehr symbolisch eine kleine Einheit in Kobanê. Die Geflohenen verteilten sich vor allem auf die größeren Städte Tabka, Rakka, Haseke,und Qamislo, die Unterbringung und Versorgung bereiten Selbstverwaltung und Hilfsorganisationen allergrößte Probleme. Vor dem Hintergrund der zuvor bereits stark zerstörten Infrastruktur, stark beschädigter Wasser- und Energieversorgung, droht Rojava auch ohne eine weitere Invasion eine humanitäre Katastrophe. Im Sinne der Kriegsstrategie der Türkei dienen die vertriebenen Menschen zur Destabilisierung der gesellschaftlichen Situation Nordostsyriens.

Die Absicht Erdoğans

Die Lage der Menschen in Nordostsyrien ist bedrückend. Die Angriffe der SNA werden mit türkischer Unterstützung fortgesetzt. Jeden Tag gibt es Feuergefechte und Luftangriffe mit Toten und Verletzten. Der türkische Staatspräsident Erdoğan droht weiterhin mit einem großangelegten Angriffskrieg gegen die Autonomieregion. Taktisch geschickt hat er sein militärisches Repertoire um ein ziviles Angebot erweitert. Scheinbar im Widerspruch zum hemmungslosen Waffeneinsatz, bietet er einen neuen Dialogprozess mit Abdullah Öcalan zur Lösung der kurdischen Frage an, verbunden mit der Forderung zum Niederlegen der Waffen von Seiten der PKK. Dieser Vorschlag war vor etwa drei Monaten von Erdoğans Mehrheitsbeschaffer und Koalitionspartner, dem Anführer der ultrarechten Nationalistischen Bewegung (MHP) Devlet Bahçeli, eingebracht worden, der zuvor immer wieder die Todesstrafe für Öcalan gefordert hatte. Es ist davon auszugehen, dass der Vorschlag zum Dialog in enger Absprache mit Erdoğan erfolgte. Die Doppelstrategie aus scheinbarem Friedensangebot einerseits und fortgesetztem Krieg andererseits, ist der schwierigen innenpolitischen Situation der Türkei geschuldet. Erdoğan ist interessiert an einer weiteren Amtszeit als Präsident, die laut jetziger Verfassung unmöglich ist. Die Lösung wäre aus seiner Sicht eine Änderung der Verfassung oder vorzeitige Neuwahlen, für die er allerdings kaum eine Mehrheit im Parlament findet, außer es gelingt ihm, Stimmen der pro-kurdischen DEM zu gewinnen. Was ohne Handreichung aussichtslos erscheint. Er bespielt folglich alle Register, verfolgt die Spaltung der kurdischen Bewegung, bietet die Option einer Freilassung Öcalans unter der Bedingung der Entwaffnung an, während er gleichzeitig militärisch agiert. Er gibt sich als starker Führer und fabuliert von einem neu entstehenden Osmanischen Reich, auch auf dem Gebiet Syriens. Dieser osmanische Neoimperialismus dient auch als Ablenkung von einer durch die Decke gehenden Inflation und Verteuerung der Waren in der Türkei, einer zunehmenden Verelendung bedingt durch den Kaufkraftverlust der türkischen Bevölkerung und überfüllten Gefängnissen. Offen ist, wie die kurdische Bewegung und Öcalan letztlich reagieren. Wie glaubwürdig kann die Offerte eines Mannes sein, der Kriegsverbrechen, Mord und Totschlag zu verantworten hat und erkennbar zu weiterem skrupellosen Agieren bereit ist?

Perspektive

Wer glaubt, dass das Ende der Assad-Diktatur automatisch frei-
heitliche und friedliche Perspektiven für die Bevölkerung Syriens eröffnet, sieht sich getäuscht. So geht nicht nur das Kämpfen und Töten in Rojava weiter, auch die jüngst vom Assad-Regime befreiten Gebiete blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. Ahmed al-Scharaa, Anführer der HTS, ist der neue starke Mann im Staat. Er, der bis vor Kurzem den Kampfnamen Abu Muhammad al-Dscholani trug und beim IS und bei al-Kaida aktiv war, spricht von einer Übergangszeit von bis zu vier Jahren bis zur Möglichkeit von Wahlen. Ein langer Zeitraum, ausreichend zum Setzen von Eckpfeilern, die, betrachtet man das bisherige Wirken der HTS in Idlib, wenig mit Demokratie, sondern mehr mit einem erzkonservativen, islamistischen Herrschaftssystem zu tun haben. Unter dem Namen „Syria Salvation Government“ (SSG) wurde von der HTS eine Regionalregierung eingesetzt, die auch Ansprechpartner für die in der Region tätigen internationalen Hilfsorganisationen ist. Berichte beschreiben die Politik der HTS als pragmatisch, auch um westliche Hilfsgelder kassieren zu können. So dürfen Mädchen zur Schule gehen und Frauen studieren, christliche Kirchen bekommen Aufbauhilfe. Nach dem Ende der Assad-Regierung und nun in Damaskus residierend, bedient Al-Scharaa vorerst verdiente Mitkämpfer und Führungspersönlichkeiten der Miliz mit Posten. Deren Vergangenheit lässt Schlimmes befürchten. So ist der neu ernannte Justizminister al-Waisi auf einem Video zu sehen, wie er 2015 die Hinrichtung einer Frau beaufsichtigt, der Prostitution vorgeworfen wurde. Al-Scharaa kündigt an, die HTS aufzulösen. Das ist leicht gesagt und clever, wenn sie im gleichen Moment zur Kernstruktur der neuen staatlichen Armee wird. Auch die Auflösung der SDF wird von ihm gefordert, was nicht nur Erdoğan, sondern vor allem die im Untergrund lauernden Schläferzellen des IS freuen dürfte. Ein Horrorszenario, wenn sich die zunehmende Hegemonie der HTS auf die Bewachung der inhaftierten IS-Kämpfer ausdehnen würde. Trotz der düsteren Perspektive eines Systems, in dem nicht nur Frauen mit Diskriminierung und einem islamistischen Wertesystem rechnen müssen, ist al-Scharaa der Mann, um den man nicht herumkommt. Auch die Selbstverwaltung Rojavas bemühte sich aktuell um seine Unterstützung für einen Fluchtkorridor, als die Menschen vor den SNA-Milizen aus Sheba flohen. Ob die in diesem Fall erfolgreiche Absprache auch perspektivisch trägt, ist fraglich. Anzunehmen ist, dass auch die HTS kein Interesse an einer Weiterexistenz eines autonomen Rojava haben dürfte. Islamistisches Hegemoniestreben zeichnet sich nicht gerade durch Akzeptanz anderer, schon gar nicht emanzipativer Gesellschaftsmodelle aus. Es ist davon auszugehen, dass es, wenn schon nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung wie mit der SNA, zu einer starken sozialen Auseinandersetzung kommt, die besonders in den Regionen und Städten mit arabischer Mehrheit zu einem Loyalitätsverlust gegenüber der Selbstverwaltung AANES und der SDF führen wird. Die Einbindung der arabischen Bevölkerung in den südlichen Euphrat-Regionen war, nachdem z. B. in der Stadt Rakka viele mit dem IS durchaus sympathisiert und von ihm profitiert hatten, eine der größten Herausforderungen. Die Überwindung alter Feindschaften und tief sitzendem Misstrauen zwischen Teilen der kurdischen und der arabischen Bevölkerung ist ein mühseliges Projekt, das erst am Beginn stand. Hier wäre mehr Zeit nötig gewesen. Es gilt als offenes Geheimnis, dass große Anteile der arabisch-stämmigen Menschen dem Selbstverwaltungsmodell Nordostsyriens nur notgedrungen folgten, weil der IS besiegt und strukturell weitgehend zerstört war. Hier die bestehenden Ressentiments anzufeuern, dürfte der HTS leichtfallen, weil mit großer Sicherheit viele arabische Menschen einem Modell IS-light zuneigen. Mit propagandistischen Versprechungen kann die Erosion Rojavas forciert werden. Auf diese Option hoffen auch die noch existierenden Strukturen des IS, dessen Schläferzellen nur darauf warten, dass sich die Spezialeinheiten der SDF zurückziehen. Die Folgen, eine mögliche Wiedererstarkung des IS, wären fatal. Eine Gefahr, die der internationalen Anti-IS-Koalition unter Führung der USA klar ist. Ob im besagten Fall die HTS dauerhaft willig und in der Lage ist, den lauernden IS zu bekämpfen und zu einem diesbezüglich ähnlich verlässlichen Partner wie die SDF zu werden, kann bezweifelt werden. Dies könnte einen guten Grund darstellen, die SDF weiter zu unterstützen, was jedoch das zu Grunde liegende sozial-gesellschaftliche Problem einer mangelnden Einbindung der arabischen Bevölkerung nicht zu lösen vermag. Eine polizeiliche bzw. militärische Unterdrückung einer solchen Dynamik ist keine Lösung, widerspräche sie doch den Prinzipien des Gesellschaftsvertrags Nordostsyriens.
Das rapide Ende des Assad-Regimes beendete nicht nur die Terror-Autokratie der Familiendynastie in Syrien, sondern ebenso schlagartig den massiven Einfluss Russlands und des Irans in der Region. Die Einflussbereiche werden neu ausgerichtet, hier sind die Interessen Westeuropas und der USA vor allem geostrategischer und ökonomischer Natur. Frühzeitig gilt es, die Claims abzustecken. Jeder Player agiert nach seinen Möglichkeiten. Auch Russland beeilte sich mit der Anerkennung der neuen Situation und nahm Kontakt zu den neuen Machthabern auf, gilt es doch den Weiterbestand seiner Luftwaffen- und Marinebasis in Syrien zu retten. Die israelische Regierung unter Netanjahu nutzte die Situation zu einer Bombardierung von Waffenlagern und Militärlogistik in Syrien und erweiterte ihr Annektionsgebiet auf den Golanhöhen. Erdoğan, der die HTS und SNA-Milizen schon lange finanziell, militärisch und logistisch unterstützt, gibt sich als Retter und Beschützer Syriens. Er erhebt Ansprüche auf nordsyrische Gebiete. Nach dem Sturz Assads zollten sämtliche diplomatischen Vertreter*innen Europas der islamistischen HTS Beifall, einer Miliz, die in ihrer Geschichte auch für Hinrichtungen, Folter und Gewalt gegen Frauen bekannt ist. Auch die „feministische“ Außenpolitikerin Annalena Baerbock hat sich diesbezüglich flexibel gezeigt. Dass der Islamist al-Scharaas ihr den Händedruck verweigerte und die Bilder von ihr vom islamistischen TV-Sender verpixelt wurden, deutet an wie sehr die Frauenrechte in Syrien zukünftig gefährdet werden. Erfahren im Schütteln blutiger Potentaten-Hände, wird die Bundesaußenministerin moralische Standards an politische Erfordernisse anpassen, auch wenn Noch-Außenministerin Baerbock vorerst verkündet, dass Europa kein Geldgeber neuer islamistischer Strukturen werde. Wie es um ihr moralisches Durchhaltevermögen beschaffen ist, stellte die grüne Ministerin bei einem Besuch in der Türkei unter Beweis, wo sie in Kenntnis der Erdoğanschen Kriegsverbrechen, die türkische Forderung nach Entwaffnung der syrischen Kurden unterstützte. Die anhaltende Treue gegenüber der Türkei hat Tradition, sie ist der Dank für Wächterdienste in Flüchtlingsfragen und NATO-Partnerschaft. Die Doppelmoral hat Hochkonjunktur, wenn Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt die territoriale Integrität Syriens betont, während die Türkei seit Jahren Teile des Landes annektiert und islamistische Mördermilizen schwere Menschenrechtsverletzungen begehen lässt. Europas Regierungen ergehen sich diesbezüglich in konsequenzlosen Ermahnungen und Appellen gegenüber der Erdoğanregierung. Vergessen, wer den Kampf gegen den IS führte, die 11.000 toten kurdischen und SDF Kämpfer:innen, die 21.000 schwerverletzten und verstümmelten jungen Menschen. Die Bevölkerung Rojavas wird – nicht zuletzt von der Bundesregierung – ohne jeden Skrupel auf dem Altar des „notwendigen Zweckpragmatismus“ geopfert. Die Infrastruktur Rojavas wurde in den Kämpfen gegen den IS zu weiten Teilen zerstört und mühsam wieder aufgebaut, um nun erneut von SNA und Erdoğans Luftwaffe verwüstet zu werden. Auf Hilfe und Unterstützung des Westens warten die Menschen vergebens. Das Interesse des Westens erlosch weitgehend nach der Zerschlagung des IS. Umso bitterer, wenn jetzt womöglich große Summen Geldes für die Förderung von Islamisten mobilisiert werden, die weichgespült als Djihadisten-light auftreten.

Fazit

Die Menschen Rojavas sind in höchster Gefahr. Mit ihnen eine Gesellschaft emanzipativer Versuche und Errungenschaften, die Basisdemokratie, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Minderheitenschutz und Religionsfreiheit zu erstrebenswerten Prinzipien erhoben hat. Die Menschen und ihr Gesellschaftsmodell haben es verdient, gefördert zu werden. Es kann als Orientierungshilfe und Beispiel dienen, gerade in Situationen gesellschaftlicher Neustrukturierung. Finanziert werden von den Staaten Europas hingegen mörderische Diktaturen, die Menschenrechte mit Füßen treten.
Wichtig sind Proteste zur Unterstützung Rojavas. Sie werden wahrgenommen. Unsere Aufgabe ist die Herstellung von Gegenöffentlichkeit, außerdem die materielle und personelle Hilfe bei Projekten in Rojava.

(1) Spenden sind möglich an medico international oder auch an M. Wilk, „Gesundheitshilfe“, DE77510500150173070939 (hier keine steuerwirksamen Quittungen)
(2) HTS, Hai’at Tahrir asch-Scham (Komitee zur Befreiung der Levante, auch Organisation zur Befreiung Syriens), ist ein Bündnis verschiedener islamistischer Milizen, das als Nachfolger der an al-Qaida angelehnten al-Nusra-Front gilt. 2017 gegründet, hat sich die Gruppe im Verlauf von al-Qaida und dem IS losgesagt und auch konkurrierende Gruppierungen dieser Ausrichtungen bekämpft. Diese Abgrenzung dient sowohl ihrer Außendarstellung als „gemäßigte Kraft“ als auch ihrem Hegemonialanspruch, der sich in der Region Idlib zu einer de facto Regierung entwickelte. Obwohl massenhaft, inklusive ihres Führers al-Dschaulani (jetzt Al-Scharaa), aus ehemaligen Al-Nusra-Kämpfern bestehend, agierte sie geschickt, gab sich weichgespült, ließ Demonstrationen gegen ihre Organisation zu und gab sich freundlich gegenüber Mitgliedern der christlichen Gemeinde. Obwohl sowohl nicht nur von Russland, sondern ebenso von der Türkei, Kanada und den USA als Terrororganisation eingestuft, gelang es ihr zum potentiellen Ansprech- ja Bündnispartner des Westens aufzusteigen. Dass sich an ihrer islamistischen Kernausrichtung etwas änderte, kann bezweifelt werden. Ihr werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, darunter Folter, Hinrichtungen und Diskriminierung von Frauen, sowie die Unterdrückung politischer Gegner*innen. Das geschickte Auftreten al-Dschaulanis, der u. a. versicherte, westliche Länder nicht angreifen zu wollen, machte ihn attraktiv als Bündnispartner. Nachdem die HTS im Handstreich das Assad-Regime zu Fall brachte, erstrahlte Dschaulani/Scharaa für viele (auch westliche Medien) als Lichtgestalt eines neuen Syriens, vor allem für jene, die nur das Ende des Assad-Terrors sahen und weniger den islamistischen Charakter der neuen Macht.
(3) SNA, Syrische Nationale Armee. Die Miliz ist ein Zusammenschluss mehrerer Rebellengruppen. Sie gehört mit der Revolutionären Kommandoarmee und Hai’at Tahrir asch-Scham zu den drei größten gegen das Assad-Regime kämpfenden Milizen im Syrischen Bürgerkrieg. Die SNA kooperiert eng mit der türkischen Regierung und agiert in den von der Türkei besetzten Gebieten. Ihr werden in diesem Zusammenhang schwerste Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen vorgeworfen, darunter Freiheitsberaubungen, Folter, Mord und Vergewaltigung, ferner Plünderung und Zerstörung von Weltkulturerbe.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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