libertäre buchseiten

„Erst wo Herrschaft nicht mehr wahr ist, gibt es keine Knechtschaft“

Hereimspaziert, Herr Gsella!

| Bernd Drücke

Beitraggsella

Thomas Gsella Hereimspaziert. Neue komische Gedichte Verlag Antje Kunstmann, München 2024, 258 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-95614-603-9

Meine Liebe zu Schmähgedichten, Satire und Dadaismus hat eine Vorgeschichte. Mein Vater hatte in den 1970ern die Pardon und nach dem Sinkflug dieser Satirezeitschrift ab 1979 die Titanic im Abo. Meiner Tante Ulla und ihrem Uli bin ich dankbar dafür, dass sie meinen Geschwistern und mir zu Geburtstag und Weihnachten (bei meiner Schwester und mir fällt das leider auf den gleichen Tag) F. K. Waechters komische Kinder-Wandkalender oder Bücher wie „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein“ geschenkt haben. So konnten wir schon als Kinder einen Hauch von Freiheit, Anarchie und Abenteuer einatmen.
Noch vor der Frankfurter Schule kam ich also in Kontakt mit der weniger berühmten, aber witzigeren Neuen Frankfurter Schule. Diese Schule des Humors gefiel mir besser als die verknöcherten Lernanstalten, in denen traditionell und leider bis heute zumeist so gelehrt wird, als sei der Geist eine Scheune, die man füllt, und nicht eine Flamme, die man nährt.

Gsella steht in der Tradition von Robert Gernhardt und seine Schmähgedichte gehören zu den lustigsten und bissigsten Texten, die je in deutscher Sprache verfasst wurden

In der Schule war ich lange Zeit ein Klassenclown. Noch als langhaariger Oberstufenschüler las ich meinen Mitschüler*innen in den Pausen Gedichte von Ernst Jandl und Erich Fried vor oder stellte mich auf die Telefonzelle vor der Sporthalle, um als „Jesses“ agitatorische Reden für eine freie Schule ohne Noten und Zwang zu schwingen. Das kam bei den meisten Lehrkräften schlecht und bei vielen Mit-schüler*innen gut an. Nachdem mein endgültiger Schulverweis in der zehnten Klasse dank der erfolgreichen verbalen Intervention meiner warmherzigen Mutter abgewendet werden konnte, wurde ich in der Oberstufe Jahrgangsstufensprecher und stellvertretender Schülersprecher. Mit Freund*innen gründete ich eine relativ verbal radikale Schüler*innenzeitung. Die „Splash“ löste als angeblich „linksextremes Schmierblatt“ bei konservativen Eltern und Lehrkräften Schnappatmung aus. Wer sie heute lesen will, muss sich schon ins Archiv für alternatives Schrifttum nach Duisburg aufmachen, denn im Archiv des Geschwister-Scholl-Gymnasiums Unna sind zwar alle Schüler*innenzeitungen dieser Schule zu finden, aber ausgerechnet die vier von 1984 bis 1986 erschienenen „Splash“-Ausgaben nicht.
Oh, ich bin vom Thema abgewichen.

Thomas Gsellas Texte lese ich, seitdem er von 1992 bis 2008 Redakteur der Titanic war. Gsella steht in der Tradition von Robert Gernhardt und seine Schmähgedichte gehören zu den lustigsten und bissigsten Texten, die je in deutscher Sprache verfasst wurden.

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Thomas Gsella – Foto: Tom Hintner

Aus seinem neuesten Buch „Hereimspaziert“ habe ich für meine Liebste etliche Gedichte rezitiert. Im Wechsel hat sie mir aus Safiye Cans neuem Gedichtband „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“ vorgelesen. Beim wohligen Klang ihrer Stimme bin ich allerdings zumeist eingeschlafen.
Warum sollte Gsellas 258seitiger Gedichtband „Hereimspaziert“ unbedingt in den Libertären Buchseiten der Graswurzelrevolution besprochen werden?
Dafür gibt es gute Gründe. Die Anarchismus-Rubrik der Monatszeitung Graswurzelrevolution trägt den schönen Namen „es wird ein lachen sein“. Den Nachsatz „das sie besiegt“ müssen wir uns dazu denken. Ob er nun den Namen Trump, Putin oder Erdoğan trägt, es ist nicht zuletzt der Humor, das Lachen, das dafür sorgen wird, dass der König nackt ist, dass er das erkennt und vor lauter Schreck darüber vom hohen Ross fällt. Die Autokraten, Diktatoren und Milliardäre werden fallen, alle! Da bin ich optimistisch, auch wenn uns der schlechte Atem von Trump, Musk, Putin und Co. gerade übel ins Gesicht geblasen wird. Meinen Optimismus nähren auch Gedichte, wie die von Thomas Gsella.
Bei dem 1958 in Essen geborenen Sprachkünstler mischt sich „der Furor des Gerechten mit dem Humor des Gelassenen und das mitfühlende Herz des Philanthropen mit dem bösen Scherz des Misanthropen. Noch in jedem kurzen Gedicht Gsellas wohnt mehr Menschenliebe als selbst im Lächeln des Dalai Lama“ (S. 10), schreibt Max Uthoff im Vorwort von „Hereimspaziert“. Das passt!
Graswurzelrevolutionär*innen agieren mit direkten gewaltfreien Aktionen für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft. Sind Gewaltphantasien, die sich gegen Rassisten und Hetzer wenden, also verwerflich? Nein. Erst recht nicht, wenn sie sich in der Kunst und in so blumigen Worten wie denen von Gsella ausdrücken. So geht es in den ellenlangen „Sieben Postrevolutionären Balladen aus dem Jahr 2030“ auf Seite 163 ff. auch um den, bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 von 28,5 % gewählten Sauerländer und zukünftigen Bundeskanzler:

„I. MIGRANTEN MIT HERZ

Das Mitleid übermannte sie
Und Zorn auf die Barbaren,
Denn solche Ohnmacht kannten sie,
Die einst geflohen waren –
Da schrie ein alter Mümmelmann
(Schmalz tropfte aus den Ohren):

‚Nur Asylanten kommen dran!
Doch ICH bin hier geboren!
Sie nehmen mir, der hier zu Haus’
(Sein Maul grotesk verwinkelt,
Ein Spuckfaden hing heraus,
Sein Hosenschlitz: bepinkelt)
‚Beim Zahnarzt die Termine weg!
WIR DEUTSCHE müssen warten!
Schuld ist der Asylantendreck!
Statt Worten braucht es Taten!‘

Da riefen sie: ‚So soll es sein!‘
Dann ward es resoluter.
Sie hauten Merz zwei Zähnchen ein,
So wurd sein Fall akuter.

Auch ihm gefiel die kluge List,
Da klopften sie noch fester.
Am selben Tag sprach ein Dentist:
‚Hereinspaziert, mein Bester!‘

Moral: Nun kam er endlich dran
Und fand sein Glück hienieden.
Verlaust, jedoch in Frieden.“

Das ist gallig, aber wohltuend, gerade in Zeiten, in denen Herr Sch-Merz seine rassistischen Gesetzentwürfe gegen geflüchtete Menschen mit Hilfe der in großen Teilen neofaschistischen AfD durchsetzen will.
Noch besser gefällt mir aus diesem siebenteiligen Gsella-Gedicht der letzte Teil, der auch von meinem Lieblingsdichter Erich Mühsam (1878–1934) stammen könnte und meine anarchistische und antimilitaristische Seele in Verzückung versetzt. Um den Rahmen dieser Rezension nicht zu sprengen folgt schon hier die unbedingte Kaufempfehlung – Kauft und lest dieses wunderbare Buch!!! – und ein weiterer, kleiner Auszug:

„VII. AUS DEM NEUEN GRUNDGESETZ

(1) Weil die Würde antastbar ist,
Wenn sich Macht ihr Recht schafft:
Erst wo Herrschaft nicht mehr wahr ist,
Gibt es keine Knechtschaft.

(2) So gehören die Maschinen
Nach dem Kampf der Klassen
Heute euch, nein, besser Ihnen,
Denn der Reim muss passen.

(3) Setzt ein Arsch erneut auf Beute,
Fressen ihn die Raben.
Arbeit endet, wenn die Leute
Keine Lust mehr haben.

(9) Tötungswaffen sind verboten.
Die sie trotzdem bauen,
Lassen wir von tausend Toten
Auf die Köpfe hauen.
(…)“

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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