Das Buch „DER BUND. Eine illustrierte Geschichte jüdischen Arbeiterwiderstands“ handelt von der außergewöhnlichen Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes (Bund) in Litauen, Russland und Polen. Die links-sozialdemokratische jüdische Partei war transnational aktiv und musste unter unterschiedlichen Verhältnissen in den jeweiligen Ländern kämpfen. Die Geschichte des Bundes umfasste in Russland wegen der Unterdrückung durch die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution nur die Zeit von 1897 bis 1917. In Polen und Litauen wurde der Bund 1939 durch den Einmarsch der deutschen Armee und ihren Vernichtungsfeldzug in den Untergrund gedrängt.
Die Lebensverhältnisse der meisten Jüdinnen und Juden in Osteuropa waren bei seiner Gründung ärmlich. Vielfach verdienten sie als HandwerkerInnen, ArbeiterInnen oder HeimarbeiterInnen ihren Lebensunterhalt. Ein starkes Industrieproletariat fehlte größtenteils noch.
Sprache und Kultur
Innerhalb des Judentums, das teilweise hebräisch als Sprache favorisierte, gab es auch große Vorurteile gegenüber Jiddisch: „Jiddisch ist vulgärer Straßenjargon, gemacht für Kriminelle und Abschaum“, wird ein Protagonist zitiert. Im Bund wurde jedoch Jiddisch gesprochen, denn dies war die Sprache der „kleinen Leute“. Diese „Nahsprache“ des Deutschen konnte gut für die Verständigung über Ländergrenzen genutzt werden. In der Graphic Novel wird die Bedeutung dieser Sprache mit einem eigenen Kapitel gewürdigt.
Es war dem Bund wichtig, sich trotz großer materieller Not für die kulturelle Weiterbildung ihrer Mitglieder einzusetzen. Es existierten eigene Verlage, Zeitungen, Bildungseinrichtungen, Lesekreise sowie Musik- und Theatergruppen. In der innerjüdischen Debatte über den Zionismus plädierte der Bund dafür, nicht nach Palästina auszuwandern, sondern hier und jetzt für ein besseres Leben und für einen demokratischen Sozialismus zu kämpfen.
Sozialdemokratie
Das Verhältnis des Bundes zur polnischen Sozialdemokratie war schwierig. Diese setzte sich für einen starken Nationalstaat ein und forderte von den Jüdinnen und Juden, sich zu assimilieren, dann wäre das Problem des Antisemitismus angeblich „gelöst“. Der Bund war jedoch internationalistisch orientiert und hielt die Ansicht, der Antisemitismus würde in einem Nationalstaat einfach verschwinden, für blauäugig. Zur Einordnung dieser Debatte sollte mensch wissen, dass bis 1918 Polen über hundertzwanzig Jahre lang unter Fremdherrschaft stand und erst nach dem Ersten Weltkrieg seine Souveränität wiedererlangte, die angesichts der vielen Minderheiten in dem neu geschaffenen Staatsgebilde fragil war. Der Bund trat hingegen für ein gleichberechtigtes Miteinander aller Bevölkerungsgruppen ein, positionierte sich auch aus heutiger Sicht ausgesprochen weltoffen und war immun gegen jegliche Form von Nationalismus.
Antisemitismus
Die Bedrohung durch den Antisemitismus zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die jüdischen ArbeiterInnen hatten unter einer doppelten Unterdrückung zu leiden. Pogrome, Angriffe auf jüdische Dörfer, staatliche Willkür, die Anwendung repressiver Gesetze und Diskriminierung waren an der Tagesordnung. Der Bund wehrte sich mit Demonstrationen und Generalstreiks und organisierte Selbstverteidigungsgruppen gegen Überfälle. Die harten Auseinandersetzungen werden in eindrucksvollen Zeichnungen dargestellt.
Klassenkampf
Die im Buch auch einzeln vorgestellten AktivistInnen des Bundes setzten sich beispielsweise für die Abschaffung des Sechszehnstundentages, Kinderarbeit und Lohnraub sowie für bessere Arbeitsbedingungen ein. Sie gründeten 1897 im litauischen Wilna den Bund, der schnell zur größten Organisation jüdischer ArbeiterInnen anwuchs. Der Staat reagierte mit Repression. Viele wurden verhaftet, Druckereien und Einrichtungen zerstört.
Einen breiten Raum nehmen im Buch die Ereignisse in Russland ein. Die Unterdrückung im Zarenreich, gescheiterte Reformversuche unter Kerensky und die Spaltung der revolutionären Bewegung in Bolschewiki und Menschewiki werden in ihren einzelnen Stationen dargestellt. Der Bund verortete sich bei den Menschewiki, setzte sich für einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus ein und lehnte Gewaltanwendung zur Durchsetzung seiner Ziele ab. Nachdem sich nach 1917 die Wirkungsmöglichkeiten der BundistInnen aufgrund der kommunistischen Diktatur einschränkten, gingen etliche FunktionärInnen nach Polen, um dort unter veränderten Bedingungen weiterzukämpfen.
Eine solidarische „Familie“
Diese Partei war von einer solidarischen und offenen Diskussionskultur geprägt. Der Umgang untereinander wird in dem Vorwort als „familiär“ beschrieben, was sicherlich auch auf die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft zurückzuführen ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung im Vorwort: „Wir verehrten unsere Anführer nicht. Wir haben sie geliebt, hielten auf Demons-trationen aber nicht ihre Bilder hoch. Einfache Leute aus der Arbeiter*innenklasse schauten zu Erich und Alter (zwei führende Bund-Mitglieder, H. B.) auf, aber sie schauten deswegen nicht auf uns herab. Sie hörten auf uns.“
Trotz ansprechender Illustrierung ist das Buch nicht einfach konsumierbar. Die vielen Zeitsprünge, Rückblenden, Exkurse und angesprochenen unterschiedlichen Aspekte verlangen konzentriertes Lesen. Wer sich intensiver mit der Geschichte des Bundes beschäftigen will, dem empfehle ich zusätzlich Gertrud Pickhans Buch „Gegen den Strom“ (1). Diese Autorin wies 1997 in ihrem Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ (2) darauf hin, dass 1933 der Bund der deutschen SPD komplettes Versagen in ihrem Kampf gegen den Faschismus vorwarf, weil sie auf Anpassung und Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien setzte, die Interessen der ArbeiterInnen missachtete und nicht bereit war, zusammen mit den Gewerkschaften notfalls zum Generalstreik aufzurufen. Kickhan zitiert den Bund-Aktivisten Wiktor Alter: „Die deutsche Arbeiterbewegung wurde nicht ermordet, sondern beging Selbstmord.“ (3)
Das tragische Schicksal von Bund-Mitgliedern, die in Auschwitz oder beim Warschauer Aufstand ermordet wurden, ist ebenfalls Thema in dieser Graphic Novel. Wir sollten nicht vergessen, dass der deutsche Faschismus dafür verantwortlich war, dass diese hoffnungsvolle und emanzipatorische sozialistische Bewegung vernichtet worden ist.
Im Nachwort wird ausgeführt, dass es in verschiedenen Ländern Amerikas nach 1945 kleine Bund-Gruppen oder Einzelpersonen gab, die das Erbe dieser Bewegung bewahrten und inhaltlich in andere Parteien einbrachten. Zig Musikgruppen singen aktuell die Lieder der jiddischen Arbeiterbewegung und verweisen auf ihre reichhaltige widerständige Tradition, insbesondere auf Mordechai Gebirtig (1877–1942) aus Krakau, der in dem Buch leider nicht erwähnt wird. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltete eine Tagung zum Bund und publizierte verschiedene Beiträge auf ihrer Homepage. Der „Express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ veröffentlichte in seiner Ausgabe 5-6/2024 etwa zwanzig Zeichnungen aus dem vorliegenden Band. Interesse am jüdischen Arbeiterwiderstand ist also auch heute noch vorhanden. Zu Recht.
((1)) Gertrud Pickhan: „Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund ‚Bund‘ in Polen 1918-1939“, DVA, München 2001, 445 Seiten
((2)) Frankfurter Rundschau vom 29.12.1997, Seite 13, „Willy Brand und der 'unglückliche Zerfallsprozeß’“
((3)) Ebd.