Fast 900 Tafeln versorgen vor allem in den Städten die armen Bürgerinnen und Bürger mit notwendigen Lebensmitteln. Die Tafelbewegung gehört zu den erstaunlichsten Sozialen Bewegungen der Republik. Das Lob für die Tafeln ist politikübergreifend überschwänglich, menschenwürdige Versorgung und bürgerschaftliches Engagement haben eine scheinbar gute Verbindung gefunden. Aber in Wahrheit ist der Erfolg ambivalent: Die Blüte der Tafeln ist gleichzeitig der Niedergang des bröckelnden Sozialstaats.
Sozialstaats- und Tafeldebatte trennen wollen
Die bewusste Trennung von Sozialstaats- und Tafeldiskussion kommt der herrschenden Politik sehr entgegen.
Nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Hartz IV von Anfang 2010 hat eine Diskussion über den wirklichen Bedarf von Menschen in Arbeitslosigkeit im Sinne von materiellen Ressourcen und demokratischer Teilhabe nicht stattgefunden. Nach anfänglicher steriler Aufgeregtheit über Hartz IV-Erhöhungen oder -Senkungen stimmte Ministerin von der Leyen (CDU) den Grundtenor für die zukünftige Debatte an: Deckel auf die bisherigen Regelsätze, möglichst keine Änderungen und kleine Verbesserungen für Kinder im Sachmittelbereich.
Die Bundesregierung muss demnach mit ausdrücklicher Billigung des höchsten Gerichts im Prinzip fast nichts ändern, sie muss die bestehende Praxis nur besser begründen und statistisch absichern.
Selbst den doch reichlich lebensunerfahrenen Richterinnen und Richtern ist nicht aufgefallen, dass ein Mensch kaum menschengerecht von 3,94 Euro für Essen und Trinken pro Tag leben kann und die Fahrt mit der Deutschen Bahn zum Besuch eines nahestehenden Menschen zur Innenausstattung der menschlichen Würde gehören sollte. Kurz: An der Hartz IV-Front ist Ruhigstellung mit symbolischen Verbesserungen die mit Herz und Härte weitgehend unbestritten vertretene Linie der Bundesministerin.
Alternativpotential ohne Protest
Es gibt nach wie vor keine wirklich relevanten Träger gesellschaftlicher Alternativkonzeptionen. Die wichtigsten und größten Wohlfahrtsorganisationen (Caritas, Diakonisches Werk, AWO) sind selbst in Hartz IV soweit nutznießend verstrickt, dass ihre Forderungen nach besseren Hartz IV-Leistungen nur sehr kleinlaut und gedämpft die Öffentlichkeit erreichen.
Einzig der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) mit den engagierten Vertretern Schneider/Martens wagt sich aus der Deckung, legt sich mit der BILD-Zeitung und der herrschenden Politik an und präsentiert Vorschläge, die zumindest das Minimum von Menschenwürde einfordern.
Die Erwerbslosen-Initiativen, von denen über 100 vor allem im Osten der Republik organisiert sind, haben zwar nach wie vor ein funktionierendes Netzwerk, aber ihre Proteste und Forderungen werden kaum in der Öffentlichkeit aufgenommen. Das Provokationspotential von ehedem ist weitgehend verebbt. Das „Netzwerk für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ schiebt immer wieder grundsätzliche Debatten an, die viele Menschen erreichen, aber die Wirkungen bleiben äußerst beschränkt, da das Fernziel eines bedingungslosen Grundeinkommens noch keine probaten Zwischenschritte kennt. Die Organisation attac, eigentlich eine Scharnierorganisation mit integrativen Wirkungen, hat sich der Sozialfrage in eher kleinen Arbeitsgemeinschaften angenommen. attac als Organisation ist weit davon entfernt, die Sozialstaatsdebatte als Schwerpunkt ihrer Arbeit zu definieren.
Die Kirchen schließlich haben als ehemalige „Verteidiger der Armen“ erheblich an Reputation und Schlagfertigkeit verloren.
Die fast peinliche „Absegnung“ der Hartz-Gesetze durch Kardinal Karl Lehmann (Katholische Bischofskonferenz) und Bischof Wolfgang Huber (EKD) sowie die gewinnträchtige Nutzung der Ein-Euro-Jobber hat die Kirchen zu lahmen Enten in der Vertretung der Erwerbslosen und Armen gemacht.
Die Gewerkschaften haben die Armutsdiskussion bisher primär mit ihrer Mindestlohndebatte zu verbinden versucht. Sie haben bisher niemals den Spagat, ArbeitnehmerInnen und Erwerbslose zu vertreten, hinbekommen. Nimmt man noch hinzu, wie wenig die einflussreicheren Medien eine wirkliche Reform von Hartz IV diskutieren, wird in der Konsequenz deutlich, dass die Macht- und Problematisierungspotentiale zur Zeit als sehr schwach und marginalisiert angesehen werden müssen.
Wer den Zusammenhang von Sozialstaats- und Tafeldiskussion herstellen will, gehört nicht auf die Tagesordnung.
Tafeln schließen oder beblümen?
Gerade deshalb ist gut erklärbar, warum so viele PolitikerInnen, GewerkschafterInnen, Kirchenleute und prominente BürgerInnen sich höchst einäugig engagiert auf die Tafeldiskussion einlassen und das bürgerschaftliche Engagement unterstützen. Tafeln sind der konkrete Ausdruck unmittelbarer engagierter, zumeist ehrenamtlicher Hilfe, die nur unterstützt werden kann – ohne zu hinterfragen, warum die Blüte der Tafeln die Kehrseite des schwachen Sozialstaats ist.
An sich müssten die Verantwortlichen der Tafelbewegung alles tun, ihren Gründungsboom zu hinterfragen – bis hin zu der Frage, wie die Tafeln von der Politik prinzipiell missbraucht werden. Die Politik verordnet eine Magerkur und eine bürokratische Zurichtung von Menschen, die von den Tafeln blumenreich geschmückt wird. Das ist faktisch eine uneingestandene strukturelle Komplizenschaft, die die AkteurInnen von Tafeln und Politik brüsk, aber möglicherweise leicht schlechten Gewissens zurückweisen müssten.
Die AkteurInnen der Tafelbewegung sind seit einiger Zeit selbstkritischer geworden, aber auf die Idee, ihre Tafeln bewusst für einige Tage zu schließen, um der Politik Beine zu machen, wirklich für die Grundversorgung von Menschen einzustehen, darauf sind sie bisher nur hinter vorgehaltener Hand gekommen. Soll demnach eine kritische Debatte entstehen, müssten die Tafeln aus ihrer wohlfeilen Belobigung ein Stück weit ausbrechen, um ihre Vereinnahmung zuungunsten der Menschen aufzubrechen.
Doch täuschen wir uns nicht: Das Interesse an sich selbst hat große Teile der Manager und Managerinnen der Tafeln längst erfasst. Über eigene Überflüssigkeit lässt sich schwer nachdenken.
Noch ist die Zeit nicht reif, dass die TafelakteurInnen selbst den Aufstand proben. Je mehr Sozialleistungen gekürzt werden und die Sanktionsmechanismen nach dem Motto „Druck macht beweglich“ verschärfend eingesetzt werden, wird – wie in den USA – die Tafelbewegung zulegen.
Auf mittlere Sicht hat nur eine Forderung nach Abschaffung der Arbeitslosigkeit und der Tafeln eine strategische Chance. Über die Abschaffung der Tafeln lässt sich schlecht reden, wenn die Armut größer wird und die Erwerbslosigkeit nicht sinkt. Deshalb liegt der Schlüssel für die Tafeln in einer Revitalisierung der Debatte, inwiefern die Arbeitslosigkeit weitgehend abgeschafft und dieses mit der Einführung einer menschengerechten Grundsicherung kombiniert werden kann.
Grundeinkommen, selbstbestimmte Arbeitsplätze, Mindestlöhne und radikale Arbeitszeitverkürzung
Ganz schlecht stehen die Chancen für eine solche Debatte nicht. Von Durchsetzung wollen wir vorerst nicht reden. Eine Grundsicherung von 500 Euro-Eckregelsatz wäre, nebst Abschaffung der schikanösen Zurichtungen, eine bezahlbare Sozialleistung (ca. 22 Milliarden Euro jährlich). Hinzu käme ein Projekt „Hartz IV plus 500 Euro“, das eine Million Menschen die Möglichkeit einräumt, sich nach festgelegten Bedarfsfeldern selbst einen Arbeitsplatz zu suchen, der gesellschaftlich bezahlt wird.
Ein solches Projekt geht von der Grundannahme aus, dass es gesellschaftlich sinnvolle Arbeit zu Hauf gibt und Menschen die Möglichkeit erhalten müssten, mit dem, was sie wollen und können und wozu sie gebraucht werden, anders umzugehen. Es wäre ein „Arbeitsmarkt von unten“, der die Gesellschaft sechs Milliarden Euro im Jahr kostet.
Führt man zusätzlich gesetzliche Mindestlöhne nach luxemburgischen, französischem oder englischem Muster von neun bis zehn Euro pro Stunde ein, wäre das Problem der Hartz IV-Aufstocker und der wirklich armen Erwerbstätigen zumindest teilweise gelöst. Und schließlich könnte eine radikale Arbeitszeitverkürzung als 30-Stundenwoche und neue kurze Vollzeitvariante mit geschlechterdemokratischen Verbindungen (Teilzeit für Paare mit Kindern) eine massive Senkung der Arbeitslosigkeit bringen.
Diese Forderungen würden zwar die Arbeitslosigkeit nicht vollends abschaffen, für gut 1,5 Millionen Erwerbslose kann kein Programm mehr helfen, weil sie aus unterschiedlichsten Gründen überhaupt nicht oder nur für wenige Stunden arbeiten können – aber sie wären zumindest so versorgt, dass sie nicht mehr an elementarsten Angeboten der Supermärkte vorbeigehen müssten.
Wer so realistisch-unrealistisch-utopisch redet, muss fast zwangsläufig davon ausgehen, dass es wieder Fenster der Möglichkeiten geben könnte, in der diese pragmatischen und bezahlbaren Forderungen auf fruchtbaren Boden fallen.
Die stille Legitimationskrise nutzen
Es spricht einiges dafür, dass die herrschende Politik 2010/2011 in erhebliche Schwierigkeiten geraten wird.
Erstmals wird die Finanzmarktkrise in doppelter Weise durchschlagen: Die Finanzmarktindustrie wird für die Krise nicht zur Kasse gebeten, sondern allenfalls in einen lächerlichen Fonds für künftige Krisen einzahlen. Gleichzeitig werden massive Einsparungen auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen – sie selbst werden die Folgen der Krise direkt und indirekt schultern müssen.
Dass für die Bedürftigsten nichts da ist, wird sich im Herbst 2010 an den Neuregelungen für Hartz IV erweisen, die nur Kindern einige symbolische Verbesserungen einbringen.
Die kommunalen Haushalte werden zudem die Bürgerinnen und Bürger belasten (Gebühren) und Leistungen einstellen. Alles das ist für die Bürgerinnen und Bürger nicht verstehbar und einsehbar, der folgsame deutsche Michel wird nach Ausdrucksmöglichkeiten seines Zorns suchen. Und die genau müssen wir ihm anbieten und gemeinsam gestalten: Besetzungen von Deutsche Bank-Filialen, um die Zahlungen für die Krise öffentlichkeitswirksam einzuklagen. Besetzung von Arbeitsagenturen, um eine 500 Euro-Regelsatz-Forderung zu bekräftigen; die Schließung von Tafeln, um eine wirkliche Grundsicherung zu erreichen; ein Streik für Mindestlöhne gemeinsam mit Gewerkschaften entwickeln u. v. m.
Wenn hier die Erwerbslosen-Initiativen, der Bildungsstreik, attac, die Tafeln und die Gewerkschaften sich mehr annähern, wäre ein ziviles Ungehorsamspotential möglich.
Die stille Legitimationskrise muss ein zorniges Gesicht bekommen. Aktivitäten des zivilen Ungehorsams sind der Schlüssel für die Entzündung von gesellschaftlichen Konflikten.
Die Abschaffung der Arbeitslosigkeit oder zumindest eine deutliche Absenkung verbunden mit weniger Tafeln, ist ein mehrheitsfähiges Ziel, das nur deshalb utopisch ist, weil wir selbst uns zu schwach fühlen, obwohl die Politik mitnichten ein erfolgreiches Krisenmanagement betreibt.
Anmerkungen
Peter Grottian (67), Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, versteht sich als Sozialwissenschaftler und Bewegungsunternehmer in verschiedenen sozialen Bewegungen (Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen, Erwerbsloseninitiativen, Bildungsstreik, Kampagne gegen Zwangsumzüge, attac). Diverse Veröffentlichungen über Staatstätigkeiten, Sozialstaat, Soziale Bewegungen, Projekte des zivilen Ungehorsams wie bspw. "Schwarz fahren" für ein Sozialticket, "Banküberfälle" etc.