Seit Jahren arbeitet die War Resisters' International (WRI) mit gewaltfreien und KDV-Gruppen in Kolumbien zusammen. Andreas Speck, Ex-GWR-Koordinationsredakteur, seit 1999 WRI-Mitarbeiter und verantwortlich für das Programm Das Recht, das Töten zu verweigern (1), besuchte Kolumbien vom 19. Mai bis zum 12. Juni 2010. Sein Bericht beschreibt die Situation der KDVerInnen und deren Arbeit in Bezug auf den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. (Red.)
Die Arbeit der War Resisters‘ International zu Kriegsdienstverweigerung (KDV) in Kolumbien hat eine lange Geschichte – z.B. war die WRI bereits 1995 an der Solidaritätsarbeit für den damals inhaftierten KDVer Luis Gabriel Caldas León (2) beteiligt. Eine engere Zusammenarbeit mit der KDV-Bewegung in Kolumbien begann 2006 mit der Entwicklung einer gemeinsamen Strategie für die Begleitung und Unterstützung von KriegsdienstverweigererInnen, die am 15. Mai 2007 öffentlich gemacht wurde (3).
Die alltägliche Realität des Militarismus in Kolumbien
In einem Land wie Kolumbien, mit großen regionalen Unterschieden, unterscheidet sich auch die Situation von KDVern von Region zu Region – nicht in Bezug auf das Recht, sondern in Bezug auf die Praxis.
Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen den großen Städten und ländlichen Regionen – und in den Städten zwischen den wohlhabenderen Stadtteilen und den ärmeren Vierteln. Doch es gibt Gemeinsamkeiten.
Batidas
Eine der Gemeinsamkeiten ist die Rekrutierungspraxis der ‚Batidas‘: Jugendliche werden auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen kontrolliert, und diejenigen, die nicht nachweisen können, dass sie ihren Wehrdienst geregelt haben, werden zwangsrekrutiert.
Im Jahr 2008 wurde dies von der Arbeitsgruppe zu willkürlichen Verhaftungen der Vereinten Nationen deutlich verurteilt und festgestellt, dass die Praxis der batidas oder Rekrutierungskontrollen, bei denen junge Männer, die keinen Nachweis ihres Militärdienststatus vorzeigen können in der Straße oder auf öffentlichen Plätzen festgenommen werden, weder eine rechtliche Grundlage hat, noch eine legale Basis.“ (4). Außerdem forderte das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen in seinen abschließenden Bemerkungen vom Juli 2010 von Kolumbien, die Praxis der ‚batidas‘ zu revidieren (5).
Mitglieder von Jugendgruppen aus der Umgebung von Barrancabermeja und der KDV-Gruppe Quinto Mandamiento (Barrancabermeja) berichten, dass insbesondere in den ländlichen Gebieten die Rekrutierung durch das Militär einen Angriff auf die Freiheit Jugendlicher darstellt. So ist das Militär meistens da präsent, wo sich Jugendliche treffen – bei Fußballspielen, Konzerten, Fiestas, usw. Die Präsenz von Militärs, die bei solchen Veranstaltungen die Papiere von Jugendlichen prüfen, führt dazu, dass es für junge Männer eine riskante Angelegenheit ist, auszugehen und sich zu vergnügen – man könnte sich schnell beim Militär wiederfinden.
Auch in den Armenvierteln Medellins und an Verkehrsknotenpunkten des öffentlichen Verkehrs sind ‚batidas‘ häufig (6).
Neben der Rekrutierung durch das offizielle Militär des Staates gibt es auch Rekrutierung durch die Paramilitärs, Drogenkartelle und die Guerilla. Gewalt und Kriminalität sind weit verbreitet, oft mit Armen als TäterInnen und Opfern. Die wohlhabenden Schichten leben in Wohnvierteln mit privaten Sicherheitsdiensten, umgeben von elektrischen Zäunen. Ähnlich sieht es in den kolumbianischen Großstädten aus.
„Falsche Positive“
Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit dem kolumbianischen Militarismus sind die sogenannten „falschen Positiven“.
Ein Bericht der Fundacion para la Educacion y el Desarollo (FEDES) dokumentiert die Fälle von 16 sogenannten „falschen Positiven“ in Soacha, einer Stadt an der Peripherie Bogotas. „Falsche Positive“ sind normale Jugendliche oder gar Wehrpflichtige, die vom Militär ermordet und dann als Mitglieder der Guerilla präsentiert werden. Die in dem Bericht dokumentierten 16 Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs – Schätzungen zur Zahl der falschen Positiven gehen von bis zu 3.000 Fällen (7).
Die „falschen Positiven“ sind eine Folge des Erfolgsdrucks auf das Militär: wenn keine „echten“ Guerillas vorgewiesen werden können, mit denen der Erfolg des Kampfes gegen die Guerilla bewiesen werden kann, dann muss eben mit „falschen Positiven“ nachgeholfen werden. Die Opfer sind wie so oft Jugendliche der armen Schichten der kolumbianischen Gesellschaft.
Als Konsequenz denken jetzt viele Jugendliche in Soacha darüber nach, ihre KDV zu erklären (8).
Paramilitärs und Guerilla
Ganz real wird der bewaffnete Konflikt für viele durch die Präsenz der Paramilitärs (obwohl diese 2006 offiziell entwaffnet wurden), sowie der verschiedenen Guerilla-Gruppen. Dazu zwei Beispiele:
Die Montes de Maria sind eine Region im Norden der Departments Sucre und Bolivar, mit sehr fruchtbarem Boden. Im Interesse des Agrobusiness müssen die lokalen Bauern/Bäuerinnen vertrieben werden, um Platz zu schaffen für den Anbau von Ölpalmen (palma africana) und Zuckerrohr (für die Produktion von Ethanol) – beides mit gravierenden ökologischen und sozialen Auswirkungen.
Als Konsequenz war die Region in der letzten Dekade Schauplatz von Gewalt und Vertreibung, meist als Folge von Aktionen der Guerilla, der Paramilitärs, sowie des kolumbianischen Militärs. Erst in den letzten Jahren kehrten einige der Vertriebenen zurück. Doch heißt das nicht, dass es heute keine Gewalt mehr gibt. Im Gegenteil – in den letzten Monaten ist wieder ein Anstieg der Gewalt zu beobachten. So wurde z.B. im Mai 2010 der Vorsitzende der regionalen Organisation der Opfer, Rogelio Martínez, von Paramilitärs ermordet (9).
Ein Kontext der Gewalt, der Konsequenzen für die Arbeit der gewaltfreien Gruppen hat.
Barrancebermeja ist eine Industriestadt am Rio Magdalena, in der Region Magdalena Medio im Department Santander. In Barrancabermeja befindet sich die größte Ölraffinerie Kolumbiens, die der staatlichen Ölgesellschaft Ecopetrol gehört. Öl und Landwirtschaft sind die wesentlichen wirtschaftlichen Aktivitäten in der Stadt.
Barrancabermeja war der Schauplatz intensiver Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen in Kolumbien. Am 16. Mai 1998 zog eine große Gruppe Paramilitärs durch die Stadt, tötete 11 Menschen und entführte 25, die später ebenfalls ermordet wurden. Dieses Massaker markierte den Anfang der Übernahme der Stadt durch die paramilitärische Organisation Autodefensas Unidas de Colombia (AUC), dessen Höhepunkt im Jahr 2001 war. Im letzten Jahr der Invasion wurden 539 Menschen getötet. Auch wenn die AUC offiziell 2006 demobilisiert wurde, so sind doch Nachfolgegruppen wie die Aguilas Negras (Schwarze Adler) noch immer in der Stadt aktiv, und Todesdrohungen gegen MenschenrechtsaktivistInnen sind häufig.
Die Revolutionary Armed Forces of Colombia (FARC), die größte Guerilla-Gruppe Kolumbiens, ist auch weiterhin im Hügelland in der Umgebung der Stadt aktiv.
Der Kampf um Land
Land ist ein wichtiger Aspekt des Konfliktes in Kolumbien, denn Land bedeutet Ressourcen. Villa Rica z.B. ist eine kleine Stadt mit afrokolumbianischer Bevölkerung in Norte del Cauca, ca. 30 Minuten von Cali entfernt.
Die AfrokolumbianerInnen wurden als SklavInnen nach Kolumbien gebracht, um auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Erst 1851 wurde die Sklaverei abgeschafft, und Villa Rica war eine der letzten Städte, in denen SklavInnen ihre Freiheit erhielten.
Bis heute ist Villa Rica von Zuckerrohr umgeben. Nur wenige Familien sind noch im Besitz von Land, und bauen auf ihrer ‚finca‘ ihr Obst und Gemüse an. Vor Jahrzehnten wurden die meisten gezwungen, ihr Land an die Zuckerbarone zu verkaufen.
Heute gibt es wieder Druck auf die verbleibenden Familien, ihr Land zu verkaufen. Die Gruppe Soporte Klan, die politischen Hip Hop mit Gemeinwesenarbeit verbindet, hat eine Kampagne unter dem Titel Haga que pase (Mach, dass es geschieht) begonnen, um diese Familien zu unterstützen, und um einen Teil des Landes, das verloren gegangen ist, zurück zu fordern.
KDV: wie weiter nach dem Urteil des Verfassungsgerichts?
Am 14. Oktober 2009 erkannte kolumbianische Verfassungsgerichts das Recht auf KDV im Prinzip an, und forderte den kolumbianischen Kongress auf, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden (10).
Damit steht die kolumbianische KDV-Bewegung vor neuen Herausforderungen. Es ist jetzt umso notwendiger, KDV als antimilitaristische Perspektive zu propagieren. Lobbying für ein KDV-Gesetz dagegen ist eher gefährlich, da im derzeitigen politischen Klima ein Gesetz mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr schlecht ausfallen wird, und weit davon entfernt, die internationalen Standards zu KDV (die aus antimilitaristischer Sicht ebenfalls unzureichend sind) zu implementieren (11).
Für die Zeit vor der Verabschiedung eines Gesetzes durch den Kongress Kolumbiens weist das Gericht auf das Rechtsmittel der Tutela (gerichtliche Verfügung) hin, für Fälle, in denen das Militär das Recht auf KDV nicht respektiert. Wie dies in der Praxis funktionieren wird, und wie das insbesondere in der Situation einer Batida funktionieren kann, muss abgewartet werden. Wird ein KDVer, der in einer Batida rekrutiert wurde, vom Militär entlassen, während der Antrag auf gerichtliche Verfügung noch nicht entschieden ist? Oder wie wird das funktionieren? Klar ist, das hier internationale Solidarität nötig sein wird.
Das zweite Problem ist schwieriger zu lösen, da es mit den unterschiedlichen politischen Perspektiven der KDV-Gruppen und ihrer UnterstützerInnen – NGOs und Universitäten – zu Strategie in Bezug auf ein KDV-Gesetz zusammenhängt. Während sich alle Gruppen darüber einig sind, dass das Urteil des Verfassungsgerichts einen Fortschritt im Sinne des Schutzes von KDVern darstellt, so sind sie sich doch nicht über eine Strategie in der derzeitigen Situation einig. Sollen sie, und wenn ja wie, sich in der Prozess des Entwurfes eines KDV-Gesetzes einbringen? Welche Einschränkungen des Rechts auf KDV können akzeptiert werden? Und wie steht es mit einem Ersatzdienst?
Gruppen, die mehr aus einer Tradition gewaltfreien Widerstands herkommen, wie z.B. Red Juvenil, sind gegen ein KDV-Gesetz, das das Recht auf KDV regulieren und einschränken würde. Andere sind besorgt, was denn in einem Gesetz drinstehen wird, doch sind nicht so deutlich gegen ein Gesetz. Und andere wiederum sind eindeutig für ein Gesetz, und sehen es als einen wichtigen ersten Schritt an.
Kriegsdienstverweigerung – mehr als nur Verweigerung des Militärdienstes
Die Realität des bewaffneten Konfliktes wirkt sich stark auf die Arbeit der KDV-Gruppen aus. In dieser Situation ist es undenkbar, KDV lediglich als rechtliches Problem zu begreifen, mit der rechtlichen Anerkennung als zentraler Punkt.
Dies würde an der Realität der meisten Jugendlichen schlicht und einfach vorbeigehen.
So arbeiten z.B. PazCaribe und Red Juvenil PazCaribe mit Jugendlichen in den Montes de Maria im wesentlichen zu Empowerment und der Prävention von Rekrutierung. Es geht dabei darum, sich bewusst allen Ausdrucksformen und Aktionen, die Gewalt fördern, zu verweigern (12). In Medellin ist Red Juvenil de Medellin (13) ein einigermaßen starkes Jugendnetzwerk, dessen Arbeit auch die Propagierung der KDV beinhaltet, zusammen mit nicht-formaler Bildung, aktiver Gewaltfreiheit, und von Kunst und Musik im Widerstand.
Es geht den meisten KDV-Gruppen in Kolumbien bei der Kriegsdienstverweigerung um mehr als die bloße Verweigerung des Militärdienstes. Einig sind sich alle Gruppen in der Opposition zu allen bewaffneten Akteuren im bewaffneten Konflikt in Kolumbien, ob sie mit dem Staat zusammenhängen (Armee und Paramilitärs), oder mit irgendeiner der Guerilla-Gruppen (FARC und ELN sind die zwei wichtigsten, doch nicht die Einzigen).
Gewaltfreiheit als Lebensperspektive, aber auch als Strategie des Widerstandes, ist eine wichtige Grundlage der Arbeit der Gruppen, und aus dieser Gewaltfreiheit erwächst auch eine Kritik an der strukturellen Gewalt in Kolumbien (und global). Diese strukturelle Gewalt feuert den bewaffneten Konflikt weiter an – viele der Armen sehen keine andere Option als sich einer der bewaffneten Gruppen anzuschließen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und die Reichen brauchen die Armee und die Paramilitärs, um ihre Interessen durchzusetzen.
Kriegsdienstverweigerung ist ein Weg, um Widerstand gegen diesen Zyklus der Gewalt zu leisten, der das Land in einem bewaffneten Konflikt gefangen hält. Viele Menschen sind dessen müde, doch sehen keinen Ausweg. Oder sie wählten Santos in den vergangenen Präsidentschaftswahlen, der eine militärische Lösung des Konfliktes befürwortet – die in den letzten 50 Jahren nicht möglich war. KriegsdienstverweigererInnen zeigen einen anderen Ausweg auf: Verantwortung zu übernehmen, dem Militarismus zu widerstehen, und Gewaltfreiheit zu propagieren.
(1) Mehr Infos zum WRI-Programm "Das Recht, das Töten zu verweigern" gibt es unter http://wri-irg.org/de/programmes/rrtk. Infos zur Arbeit der WRI zu KDV in Kolumbien gibt es unter http://wri-irg.org/de/co/colcampaign-de.htm
(2) Siehe z.B. http://www.wri-irg.org/programmes/world_survey/reports/Colombia
(3) Siehe CO-Update No 29, Mai 2007, http://wri-irg.org/de/node/1116, und Das Zerbrochene Gewehr No 74, Mai 2007, http://wri-irg.org/de/pubs/br74-de.htm
(4) Working Group on Arbitrary Detention: Opinion 8/2008 (Colombia), 8 May 2008, http://wri-irg.org/de/node/10513
(5) Siehe CO-Update No 58, August 2010, http://wri-irg.org/de/node/10676
(6) In einer Email vom 10. September berichtet Red Juvenil über eine neue Welle von Batidas, die am 6. September in Medellin begann.
(7) Fundacion para la Educacion y el Desarollo (FEDES): Soacha: Lu punta del iceberg. Falsos positivos e impunidad (Soacha: Die Spitze des Eisbergs. Falsche Positive und Straffreiheit), download unter http://fedescolombia.org/docs/Informe%20Falsos%20Positivos%20e%20Impunid ad.%20FEDES.pdf
(8) Emails Martin Rodriguez, 14. Juli 2010, 10. September 2010
(9) Siehe z.B.: El Universal Sincelejo: Responsabilizan a autoridades del asesinato de líder, 20 May 2010, http://www.eluniversal.com.co/v2/print/45465, accessed 6 August 2010; El Tiempo: Ya son 45 los líderes de víctimas asesinados por reclamar sus tierras; en 15 días murieron tres, 2. Juni 2010, http://www.eltiempo.com/colombia/justicia/ARTICULO-PRINTER_FRIEND LY-PLANTILLA_PRINTER_FRIENDL-7737280.html, Zugriff am 6. August 2010
(10) Siehe CO-Update No 52, November-December 2009, http://wri-irg.org/de/node/9188 . Das Urteil selbst wurde erst im September 2010 (!) veröffentlicht und findet sich unter http://wri-irg.org/de/node/10928
(11) Andreas Speck: Implementación del derecho a la Objeción de Conciencia: Experiencias de la IRG, 2 June 2010, http://wri-irg.org/node/10569, Zugriff am 10. August 2010
(12) PazCaribe: Cultura de Paz, http://pazcari be.org/index.php?option=com_content &view =category&layout=blog&id=38&Itemid=56 , Zugriff am 10. August 2010
(13) http://www.redjuvenil.org. Red Juvenil ist die einzige Organisation in Kolumbien, die formal der War Resisters' International angeschlossen ist.