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Anarchie im Hier und Jetzt

Libertäre Theorie und Praxis

| Jürgen Mümken

Der Titel des Uri Gordon Buches „Hier und Jetzt“ beschreibt den Inhalt perfekt. Gordon hält sich nicht mit der Darstellung des Anarchismus in der Geschichte, der ProtagonistInnen der anarchistischen Theorie und Praxis oder der Vorstellung diverser anarchistischer Strömungen auf. Aus seiner Sicht verbindet der gegenwärtige Anarchismus die Betonung auf das Hier und Jetzt mit einer ausgeprägten Ergebnisoffenheit. Gordon: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die anarchistische Bewegung Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen sich unversöhnlich gegenüberstehender Visionen, wie der kommunistische Anarchismus, der Kollektivismus, der Mutalismus etc. Heute dagegen kommt der anarchistische Diskurs ohne die Erwartung eines revolutionären Abschlusses der Kämpfe aus und interessiert sich auch nicht für utopische Entwürfe einer ‚postrevolutionären‘ anarchistischen Gesellschaft“ (S. 67).

Ebenso verzichtet er darauf, eine Vorstellung einer zukünftigen anarchistischen Gesellschaft zu entwerfen. Gordon geht es um den Anarchismus und die anarchistische Bewegung im Hier und Jetzt. Die Theorie hat in diesem Buch die Funktion, die anarchistische Praxis und die anarchistische Bewegung zu reflektieren, Sachen zu hinterfragen, zu bewerten oder zu begründen. Gordon geht es nicht darum, Antworten auf drängende Fragen zu geben, sondern er will lediglich Denkanstösse geben. So ist sein Buch weder eine Einführung in den Anarchismus noch für den Einstieg geeignet. Es richtet sich an die Aktiven.

Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit Macht, Gewalt und Technologie aus einer anarchistischen Theorie und Praxis heraus.

Zunächst stellt Gordon im Kapital „Anarchism Reloaded“ dar, was er unter der gegenwärtigen anarchistischen Bewegung versteht, was die verbindenden Inhalte und vor allem die Organisationsformen sind. Dazu gehört für ihn z.B. der Ethos der „vorwegnehmenden Politik“, der die Mittel und Wege der angestrebten neuen Gesellschaft vorwegnehmen muss. Ebenso gehört für ihn die schon erwähnte Ergebnisoffenheit dazu. Von zentraler Bedeutung für den Anarchismus sei seine netzwerkförmige Organisationsform. Diese Netzwerkstruktur, die mit einem Rhizom verglichen wird, sei dabei auf der Mikroebene der Bezugsgruppen (ein punktuelles Zusammengehen von Menschen) und Kollektive (dauerhafte Gruppen) als auch auf der mittleren und der Makroebene anzutreffen.

Das Netzwerk wird hier als eine durchgehende kulturelle Logik begriffen.

In dem Kapital „Macht und Anarchie“ geht es darum, dass die anarchistische Bewegung bei „aller Dezentralisierung, Autonomie und allem Im-Kreis-Sitzen“ (S. 75) nicht frei von der Machtfrage ist. Deshalb müsse die Diskussion über die Macht innerhalb der eigenen Bewegung in einer anarchistischen politischen Theorie an erster Stelle stehen. Seine Beschäftigung mit dem Thema bezieht sich auf den dreifachen Machtbegriff der Ökofeministin Starhawk. „Sie unterscheidet zwischen ‚Macht zu‘ (die Grunddeutung von Macht als Fähigkeit, die Wirklichkeit zu befassen); ‚Macht-über‘ (Macht-zu, die als Herrschaft in hierarchischen und Zwangszusammenhängen ausgeübt wird); und ‚Macht-mit‘ (Macht-zu, die als nicht mit Zwang verbundener Einfluss und als Initiative unter Menschen ausgeübt wird, die sich gegenseitig als Gleiche betrachten)“ (S. 77).

Die Ungleichheiten in der anarchistischen Bewegung resultieren u.a. aus der ungleichen Verteilung von Ressourcen. Dabei handelt es sich um finanzielle Mittel, Zeitressourcen, Wissen, Kontakte und Verbindungen. Gordon setzt sich damit auseinander, welche Bedeutung dies für die gegenwärtige Bewegung hat, aber er beschäftigt sich auch mit der Frage, welche Rolle welche Macht bei der Durchsetzung von anarchistischer Politik hat.

In „Peace, Love und Mollies“ geht Gordon die Gewaltfrage an, die die anarchistische Bewegung wohl immer begleiten wird und auch muss. In der Frage der Gewalt „sind sich Anarchisten darüber einig, dass sie sich nicht einig sind“ (S. 121).

Gordon zeichnet zunächst die US-amerikanische Debatte nach, die es nach den Riots von Seattle 1999 gab. Nachdem er versucht hat eine Definition von Gewalt zu geben, wendet er sich der Frage nach der Rechtfertigung anarchistischer Gewalt zu, wobei es ihm dabei um die Frage „Wer rechtfertigt was wem gegenüber?“ (S. 142) geht. In welchem Verhältnis die Anwendung von Gewalt zur „vorwegnehmenden Politik“ steht, dazu hat Gordon eine klare Position: „Heute ist die vorwegnehmende Verwirklichung eines anarchistischen Modells freiwilliger Gewaltfreiheit eindeutig nicht umzusetzen, weil der Staat dem entgegensteht und systematisch Gewalt einsetzt, die Idee einer universellen Übereinkunft über die Gewaltfreiheit also vereitelt. Jedenfalls bezüglich der Gewalt ist eine vorwegnehmende Politik heute nur innerhalb anarchistischer Zusammenhänge zu verwirklichen“ (S. 147). Aufgrund des anarchistischen Anspruchs einer vorwegnehmenden Politik müsse folgende Frage aufgeworfen werden: „Kann die Erfahrung von Gewalt selber befreiend, ermächtigend und als Radikalisierung auf die daran Beteiligten wirken?“ (S. 152). Welche Wirkung hat die Erfahrung und Ausübung von kollektiver Gewalt auf den Einzelnen oder die Bewegung?

In seinem Kapitel über Anarchismus und Technologie geht es Gordon um die Ambivalenz heutiger AnarchistInnen zur Technologie. Während moderne Kommunikations- und Informationstechnologien genutzt werden, werden andere wie z.B. die Gentechnologie grundsätzlich abgelehnt. Problematisch an diesem Kapitel ist, dass Gordon grundsätzlich darauf verzichtet sich mit einer zukünftigen anarchistischen Gesellschaft auseinander zu setzen. Die Frage nach der Ablehnung und Befürwortung von Technologien und deren Einsatz ist aber nicht zu trennen von der Frage, wie die Gesellschaft organisiert sein soll. Wie ist Produktion und Konsumtion lokal, regional und global organisiert?

Zum Beispiel geht er davon aus, dass es unbestritten ist auf die „industrielle Nutzung“ von Erdöl zu verzichten (S. 186f.). Welche Konsequenzen hat dies für die zukünftige Gesellschaft? Darauf geht Gordon er nicht ein.

Zum Schluss beschäftigt er sich aus seiner israelisch-anarchistischen Sicht mit dem Israel/Palästina-Konflikt. Nachdem er kurz die Situation des Anarchismus in Israel/Palästina beschreibt, geht er der Frage des Verhältnisses von „Anarchismus, Nationalismus und neue Staaten“ nach. Das ist eine wichtige Frage für die Zusammenarbeit von anarchistischen mit palästinensischen Gruppen im Kampf gegen die Mauer/den Zaun und die israelische Besatzung. Gustav Landauer und Rudolf Rocker müssen dafür herhalten, dass sich auch heute noch AnarchistInnen positiv auf „Nation“ und „Volk“ beziehen können. Gordon stellt die Frage, ob es auch aus anarchistischer Sicht sinnvoll sein kann, sich für einen neuen (palästinensischen) Staat einzusetzen, wenn sich dadurch für die Bevölkerung eine reale Verbesserung der Lebensbedingungen ergibt. Keine leichte Frage? Aber Gordon will in seinem Buch ja keine Antworten geben, sondern nur Denkanstösse, die sich aus der gegenwärtigen Praxis der anarchistischen Bewegung ergeben.

Uri Gordon, HIER UND JETZT, Anarchistische Praxis und Theorie, Edition Nautilus, Hamburg 2010, ISBN 978-3-89401-724-8, 256 Seiten, 18 Euro