schwerpunkt: nix³ - freiheit fürs wendland

Ob gewaltfrei oder militant: Hauptsache Widerstand!?

Notwendige Anmerkungen zu den Anti-Castor-Aktionen im Wendland und anderswo

| Andreas Speck

In den ersten Märztagen soll der dritte Castor-Transport - diesmal im Sechserpack - ins Zwischenlager nach Gorleben rollen. Die Tatsache, daß um diese Transporte ein solcher Wirbel stattfindet, daß die Einsatzfähigkeit der Polizei letztendlich den Termin bestimmt, ist zunächst einmal als Erfolg der Anti-AKW-Bewegung zu bewerten. Dennoch steht die Anti-Castor- Bewegung an einem Wendepunkt: der bisherige Erfolg kann dieses Land verändern - oder aber in eine Niederlage umschlagen. Damit letzteres nicht geschieht, beziehen wir mit diesen notwendigen Anmerkungen Position. (Red.)

Auch wenn es fast schon gebetsmühlenartig klingt, muß es doch immer wieder betont werden: die Auseinandersetzung um die Castor-Transporte ist fast schon ein lehrbuchhaftes Beispiel für eine erfolgreiche soziale Bewegung – und das, obwohl bereits zwei Transporte ins Zwischenlager gingen und – realistischerweise – wohl auch der angekündigte Sechserpack durchgehen wird. Doch Erfolg oder Mißerfolg können nicht allein daran festgemacht werden, ob ein Transport ins Zwischenlager geht, sondern mit welchem politischen Preis er verbunden ist.

Gründe für den Erfolg

Die wendländische Widerstandstradition reicht mittlerweile zurück bis ins Jahr 1977, dem Jahr der offiziellen Standortbenennung für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ (NEZ) aus Wiederaufarbeitungsanlage (WAA), Zwischenlager und Endlager. Aufgrund des Widerstandes, der in der Region sowohl unter den Bauern/Bäuerinnen als auch bei zugezogenen GroßstädterInnen sozial verankert war, war dieses NEZ „politisch nicht durchsetzbar“, wie der damalige niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht öffentlich eingestehen mußte.

Mit mittlerweile zehnjähriger Verspätung wird der Gorlebener Salzstock immer noch als Endlager „erkundet“, lediglich das Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle ist relativ reibungslos in Betrieb. Um die Castor-Halle spannen sich die bekannten Auseinandersetzungen.

Fertiggestellt wurde die Castor-Halle bereits am 3. September 1983 – vor mittlerweile mehr als 13 Jahren. Doch erst 1988 – fünf Jahre später – wurde der erste Versuch unternommen, einen Castor nach Gorleben zu bringen. Damals verkündeten 700 Menschen öffentlich in einer Kleinanzeige, daß sie sich dem Castor in den Weg stellen würden – der Beginn der Kampagne „Wir stellen uns quer“. Dabei blieb es, der Castor kam nicht.

Auch die nächsten zwei Versuche kamen nie über das Ankündigungsstadium hinaus. Und fast schon prophetisch schrieb der niedersächsische Innenminister beim vierten Einlagerungsversuch 1992 an seinen Bonner Kollegen: „Ich habe selbst Gespräche vor Ort geführt und konnte den Eindruck gewinnen, daß die Einlagerung von Castor-Behältern als existentielle Bedrohung empfunden wird. Die Betroffenen halten sich daher für berechtigt, entschiedenen Widerstand zu leisten, bei dem nach meiner Einschätzung auch Rechtsverletzungen als moralisch gerechtfertigt angesehen werden. Es steht zu befürchten, daß die zu erwartenden Auseinandersetzungen eine völlig neue Qualität bekommen könnten.“ (1) Auch dieser vierte Versuch blieb ein Versuch.

Im Sommer 1994 sah es dann zum ersten Mal so aus, als sollte es ernst werden. Der Castor-Behälter stand bereits beladen im AKW Philippsburg. Tausende waren dem Aufruf zum Tag X im Wendland gefolgt und beteiligten sich an Aktionen. In der GWR hieß es damals: Inzwischen war die Situation im Wendland eskaliert: Fünf Tage lang wurden die Atomanlagen belagert, alle Zufahrtsstraßen unpassierbar gemacht und das Hüttendorf „Castornix“ erbaut. Schließlich räumte die Polizei Straßen und Dorf … Der Landkreis verfügte in Absprache mit dem Land ein skandalöses Versammlungsverbot für ein über 30 km² großes Areal um die Anlagen.

Doch noch bevor der Transport schließlich abfahrbereit war, hatten in Niedersachsen die Schulferien begonnen. Das Innenministerium erklärte sich außerstande, den Castor in den Ferien sicher ins Ziel zu bringen; plausible Erklärung: Zu wenig BeamtInnen (wg. Urlaub) – zu viele DemonstrantInnen (wg. Schulferien). (2)

Diese Wende, das Absagen des bereits beladenen Transportes wenige Tage vor dem Transporttermin, war Folge des bunten und breiten Widerstandes. Der politische Preis eines durchgeprügelten Transportes war der niedersächsischen Landesregierung in diesem Moment zu hoch.

Durch ging der erste Castor dann erst im sechsten Anlauf: am 25. April 1995 rollte er in das Zwischenlager. Begleitet war auch dieser Transport von zahlreichen Aktionen – von Philippsburg, wo der Transport am 24. April das AKW verließ; über das gesamte Streckennetz der Bahn (für dessen Schutz 7 000 BGS-BeamtInnen im Einsatz waren) bis hin zum Wendland, wo der Transport für die Strecke von Dannenberg bis Gorleben Stunden brauchte und Tausende sich querstellten (3). Insgesamt 15 000 PolizistInnen und BGS-BeamtInnen waren im Einsatz, die Kosten des Polizeieinsatzes beliefen sich auf 55 Millionen DM.

Trotz dieses ersten Castors, der nicht verhindert werden konnte, wurde dieser Transport allgemein – und zwar von beiden Seiten – eher als Sieg des Widerstandes und Niederlage des Staates angesehen. Militärisch hatte der Staat gewonnen, der Castor war durch „Feindesland“ durchgebracht worden, doch politisch war dies ein Sieg der Anti-AKW-Bewegung, die für alle deutlich gemacht hatte, daß der Staat hier nur mit dem Mittel der Gewalt seine Ziele gegen eine entschlossene, aber gewaltfreie Bevölkerung durchsetzen kann. Auch der zweite Castor- Transport im letzten Jahr, bei dem sich erneut mehr Menschen an den Aktionen beteiligten und noch einmal mehr Polizei für den Schutz notwendig war (diesmal 19 000 PolizistInnen und Kosten in Höhe von ca. 90 Millionen DM), war höchstens militärisch ein Sieg für den Staat – auch hier hatte politisch die Anti-AKW-Bewegung einen Erfolg errungen.

Dieser politische Sieg beruhte auf mehreren Faktoren:

  • die Breite des Widerstandes, von wendländischen BäuerInnen über SchülerInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen und andere sogenannte „BürgerInnen“ bis hin zu politischen AktivistInnen aus anderen Städten. Gerade diese Breite war und ist es, die die „neue Qualität“, vor der der niedersächsische Innenminister 1992 gewarnt hatte, ausmachte. Sie erschwerte dem Staat eine rein polizeiliche (bzw. militärische) Strategie, da diese politisch den Riß zwischen Staat und wendländischer Bevölkerung zu einem Bruch ausweiten könnte. Diese Breite, basierend auf der „ganz normalen“ wendländischen Bevölkerung mit Unterstützung aus dem gesamten Bundesgebiet trug maßgeblich zu dem Bild bei, daß sich hier eine Region in ihrer überwiegenden Mehrheit gegen den Castor wehrt.

  • dem unwidersprochenen wendländischen Konsens, bei allen Aktionen „keine Menschenleben zu gefährden“. Dieser Konsens war eine unabdingbare Grundlage, damit sich der Widerstand in der Breite überhaupt entfalten konnte.

  • der Vielfalt der Aktionsformen entlang der gesamten Transportstrecke, die die Lebendigkeit und Lebensfreude des Widerstandes zum Ausdruck brachten. Diese Vielfalt ermöglichte es aber gleichzeitig auch, den Widerstand Schritt für Schritt weiterzuentwickeln bzw. vom Protest zum Widerstand zu kommen. Menschen, die vielleicht zunächst bei Aktionen Zivilen Ungehorsams nur zugesehen haben, konnten beim nächsten Mal den Schritt machen, selbst zivil ungehorsam zu werden.

Diese Faktoren trugen dazu bei, daß die Versuche des Staates, den Widerstand als gewalttätig zu diffamieren, im wesentlichen nicht griffen. Zu deutlich ist das Bild einer sich wehrenden Region. Das führte sogar dazu, daß es selbst auf Seiten der Polizei zu – leider nur vereinzelten – Befehlsverweigerungen kam.

Radikalisierung des Widerstandes?

Bereits im Zusammenhang mit dem zweiten Castor-Transport im letzten Jahr wurde häufig einer „Radikalisierung“ des Widerstandes das Wort geredet, womit im wesentlichen eine größere „Militanz“ gemeint war. Diese Diskussion hat sich im Vorfeld des dritten Castors weiter verschärft. Sie zielt zum einen auf das Mittel der Sabotage, z.B. mittels Wurfankeraktionen oder sonstiger Beschädigungen von Sachen, die dem Transport dienen. Zum anderen zielt die Diskussion aber auch auf die Aktionsformen während des Transportes selbst im Wendland und entlang der Transportstrecke.

Auch wenn es richtig ist, den Preis für den Castor-Transport in die Höhe zu treiben, bis er nicht mehr tragbar ist, so stellt sich doch die Frage, was unter „Preis“ zu verstehen ist. In GWR 199, also kurz nach dem ersten Castor- Transport, hieß es zum Thema „Anschlag oder Sabotage?“: „Die Erfahrungen des Castor-Widerstandes verleiten zu einer weit verbreiteten Illusion im Zusammenhang mit Sabotageaktionen: daß nämlich der hohe Schaden durch Sachbeschädigung, und nicht etwa die massenhafte Beteiligung am Widerstand, die Zunahme einer Bereitschaft zu radikalem zivilen Ungehorsam die materielle Wirksamkeit des Widerstandes ausmachten.“ (4) Mögen vielleicht – unter bestimmten Voraussetzungen – die Kosten des Polizeieinsatzes noch als politischer Preis verbucht werden, so muß das für Sachschäden noch lange nicht gelten. Auch aus autonomen Kreisen wurde diese Kritik vor zehn Jahren – im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen nach Tschernobyl und um Wackersdorf – schonmal geäußert, auch wenn sie heute vergessen scheint: „Und so sehr wir uns auch über mehr als 150 gefällte Strommasten freuen, so gefährlich halten wir es, Sabotage als militante Politik zu begreifen, mit der man/frau – nicht selten pädagogisch – in soziale Bewegungen hineinwirkt, anstatt zu allererst innerhalb sozialer Bewegungen militante Perspektiven zu entwickeln und zu verbreitern. Nicht an Stelle militanter Perspektiven Sabotage zu organisieren kann unser Ziel sein, sondern aus klaren Perspektiven heraus Sabotage als ein Mittel von vielen zu entwickeln und politisch einzubinden.“ (5)

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der Radikalisierung von Widerstand ganz anders, und auch das wurde von autonomer Seite schonmal deutlicher gesehen. Im Rückblick auf die Auseinandersetzungen um Wackersdorf heißt es bei der L.U.P.U.S.-Gruppe: „Die anfängliche Skepsis und Arroganz gegenüber dieser Mischung aus Bayern, Bauern und Mutter Maria schlug geradezu atemberaubend in eine Mystifizierung der ‚Oberpfälzer‘ um. Mir nichts dir nichts gebar unser Wunsch einen Oberpfälzer, der keine Probleme mit der Gewalt hat, der nicht lange fackelt und zulangt, der uns einfach ins Herz geschlossen hat.

Daß ein Großteil der Auseinandersetzungen – von denen wir heute noch schwärmen – schlicht über ihre Köpfe hinweg ging, beginnt uns erst jetzt zu dämmern. Es genügt eben nicht, 1, 2, oder 3 mal im Jahr eine Region zur Kulisse unseres Widerstandes zu machen, ohne zu kapieren, daß die Leute selbst, vor Ort, einen Widerstand entwickeln müssen, der ihren und nicht unseren Erfahrungen angemessen ist. (…)

Hätten wir tatsächlich das gemeinsame Ziel vor Augen, immer mehr Menschen für einen radikalen Bruch mit diesem Staat zu gewinnen, dann müßten wir uns nicht immer wieder in den Mittelpunkt eines Widerstandes drängen, der nicht von den Augenblicken großer Schlachten lebt, sondern von den Möglichkeiten und Erfahrungen, ihn alltäglich umzusetzen.“ (6)

Genau dieses „alltäglich umsetzen“ ist es, was bisher im Wendland die Stärke des Widerstandes ausmachte (und ausmacht). Ist es vor diesem Hintergrund also wirklich „radikal“, wenn die sowieso schon Aktiven ihre Aktionsformen „radikalisieren“ – sprich: gewaltförmiger gestalten – oder ist es nicht vielmehr „radikal“ im besten Sinne des Wortes, wenn die oft geschmähten BürgerInnen dem Staat ihren Gehorsam entziehen und sich – vielleicht ganz harmlos und „bieder“ – in Übertretung der Gesetze auf die Straßen setzen? Ist es nicht viel radikaler, wenn die Freiwillige Feuerwehr in Dannenberg und Hitzacker beschließen, ihre Einrichtungen der Polizei nicht mehr zur Verfügung zu stellen und sogar eine eigene „Feuerwehrblockade“ organisieren? Beginnt der „radikale Bruch mit dem Staat“ nicht viel eher da, wo z.B. ein Kreistag beschließt, die Kreisstraßen für die Polizei zu sperren (auch oder gerade wenn ein solcher Beschluß rechtlich nicht haltbar ist)?

Um die Herzen der Menschen kämpfen

Kein Zweifel, die Anti-Castor-Bewegung ist bisher erfolgreich. Dieser Erfolg zeigt sich auch in der wachsenden Aktivität entlang des gesamten Transportstrecke. Es ist nicht mehr nur eine Region, die sich gegen den Castor wehrt, sondern auch eine bundesweite Bewegung. Doch damit das auch so bleibt, sollte sie sich eine Grundvorraussetzung immer wieder vergegenwärtigen: Ziel einer jeden sozialen Bewegung, die soziale Veränderungen herbeiführen will, muß „der Kampf zwischen der Bewegung und den Herrschenden um die Herzen, die Köpfe und die Unterstützung (oder Duldung) der breiten Öffentlichkeit“ sein (7).

Bisher war die Anti-Castor-Bewegung dabei auf dem richtigen Weg. Ihr Ziel, die Bewegung zu verbreitern, ohne daß die Klarheit der Forderungen (Abschaltung aller Atomanlagen) darunter leidet, hat sie bisher beharrlich verfolgt. Eine Vielzahl der überall im Bundesgebiet und auch im Wendland Aktiven beteiligen sich zum ersten Mal an solchen Kampagnen und Aktionen, sind also gerade nicht die immer aktiven Politprofis. So hat eine Auswertung der Unterstützungserklärungen und Selbstverpflichtungen zu X-tausendmal quer z.B. ergeben, daß der Großteil der UnterzeichnerInnen noch nie an Anti- Castor-Aktionen im Wendland teilgenommen hat. Und wenn sogar kritische PolizistInnen ankündigen, sich im Rahmen von X-tausendmal quer querzustellen, so mag das zwar von autonomer Seite belächelt werden (und auch ich mag die Institution Polizei grundsätzlich nicht), doch zeigt sich gerade hier die Qualität des Widerstandes, denn hier gerät der Staatsapparat so langsam ins Stocken, weil die Rädchen sich nicht mehr richtig drehen.

Wirkliche Radikalität kommt dann zum tragen, wenn solche Entwicklungen weitergetrieben werden, wenn die Staatsmacht sich plötzlich nicht mehr nur darum Sorgen machen muß, ob genug PolizistInnen für diesen Einsatz verfügbar sind, sondern wenn die Zuverlässigkeit der eingesetzten Polizei plötzlich in Frage steht. Wenn – wie im Prager Frühling 1968 geschehen – Befehlsverweigerung von Soldaten bzw. PolizistInnen plötzlich zum Problem wird, dann beginnt der Bruch zwischen Herrschenden und Beherrschten so groß zu werden, daß der politische Preis für die Herrschenden zu groß wird.

(1) GWR 190, September 94

(2) ebenda

(3) Berichte in GWR 199, Sommer 95

(4) vgl. Rael: Anschlag oder Sabotage? Eine notwendige Begriffsklärung zur Auswertung des Castor- Widerstandes. GWR 199, Sommer 95

(5) Autonome L.U.P.U.S.-Gruppe Frankfurt/Main: Zur Situation der Autonomen in der Anti-AKW- Bewegung. atom Nr. 16, Sommer 87

(6) ebenda

(7) Bill Moyer: Aktionsplan für soziale Bewegungen. Kassel 1989. vgl. auch GWR 198