Haben die DemonstrantInnen des 28. Oktober 2010 den Aktionszyklus vorläufig beendet, der seit mehreren Wochen die Rentenreform Sarkozys bekämpft? Das ist gut möglich, die Ölraffinerien nehmen ihren Betrieb wieder auf, die Häfen von Marseille und Le Havre sind wieder offen und die wirtschaftliche Blockade, das einzig wirksame Kampfmittel gegen das Kapital, scheint mehr und mehr in die Ferne zu rücken. Im Gegensatz dazu steht, dass Deponien und Lager aller Art weiter blockiert werden, dass in einigen Branchen, wie etwa im Flugverkehr, nach dem Ende der Herbstferien neue Aktionen geplant sind und dass die GymnasiastInnen vielleicht noch nicht ihr letztes Wort gesprochen haben.
Auch wenn die großen Gewerkschaftsfunktionäre Thibaud (CGT-Chef; kommunistisch) und Chérèque (CFDT-Chef; sozialdemokratisch) und Konsorten das Spiel mit den Streiks bereits abgepfiffen haben, um ihrem Komplizen Sarkozy zu versichern, dass die Legitimität des Parlaments nicht durch die Straße angetastet wird, bleibt die Hoffnung, dass die Revolte über die diensteifrige Bürokratie obsiegt.
In dieser Situation haben die AnarchistInnen recht, alles darauf zu setzen, dass die Glut des „Wir lassen nicht nach!“ noch einmal das Feuer entfachen wird; aber sie müssen von nun auch offen die Akte des Verrats, die Verzichtserklärungen und die Irrtümer ansprechen, die das Duo Thibaud-Chérèque von der CGDT (Amalgam aus CGT und CFDT; d.Ü.) zusammen mit jenen Gewerkschaftsfunktionären begangen haben, die sich das Halseisen des „übergewerkschaftlichen Bündnisses“ haben anlegen lassen.
Neuauflage des bereits Gescheiterten: Das übergreifende Bündnis der Gewerkschaftsfunktionäre
Hierfür ist ein klein wenig Erinnerungsarbeit vonnöten: Ende 2009 hat Sarkozy angekündigt, die Rentensysteme reformieren zu wollen. Zur selben Zeit hoben die Vorstände von CGT und CFDT das übergewerkschaftliche Bündnis wieder aus der Taufe, mit der UNSA (Nationale Union autonomer Gewerkschaften; etwas unabhängiger als CGT und CFDT, trotzdem reformistisch, Schwerpunkte bei Büroangestellten und Ingenieuren; d.Ü.) und der FSU (Föderation der Einheitsgewerkschaft; organisiert LehrerInnen und ForscherInnen im öffentlichen Dienst; d.Ü.) eher im Zentrum; sowie der CGC (Gewerkschaft der leitenden Angestellten im öffentlichen Dienst; d.Ü.), der CFTC (säkular-christliche Gewerkschaften; d.Ü.) und SUD (Solidarisch, Einheitlich, Demokratisch: Basisgewerkschaft, die sich 2000 gegründet hat und aus den Streiks von 1995 hervorgegangen ist; d.Ü.) eher an der Peripherie.
Das selbe übergewerkschaftliche Bündnis war bereits zu Anfang 2009 aufgegeben worden, weil es seine Unfähigkeit offenbart hatte, die rigorose Einsparungspolitik der Regierung zu bekämpfen.
Dieses ganze Gewerkschaftskonglomerat hat für sich die Parole aufgestellt: „Jobs, Löhne, Renten!“
Als die Regierung und die Unternehmerverbände ankündigen, dass sie die Rentensysteme angreifen wollen und dass auf diese Art von den ArbeiterInnen die Krise des Kapitalismus bezahlt werden soll, fällt ihnen nichts Besseres ein, als Forderungen zu anderen Themen aufzustellen, die zwar legitim sein mögen, genauso aber auch zeitlos sind. In Wirklichkeit sind es die Straße und die DemonstrantInnen, welche die Gewerkschaftschefs dazu zwingen, auf die zentrale Thematik zurückzukommen: die Renten.
Trotzdem dauert es bis zum 24. Juni, nach einer Gesprächsphase von Seiten der Regierung und auch nach Absprachen der Regierung mit der Konkurrenz der FO (Force Ouvrière, reformistisch-trotzkistisch, aber außerhalb des Gewerkschaftsbündnisses stehend; d.Ü.), bis das gewerkschaftsübergreifende Bündnis zu punktuellen Streiks und Demonstrationen aufruft. Das Bündnis hätte eigentlich nun genügend Zeit gehabt, um ohne Druck seitens der Öffentlichkeit ihre Forderungen aufzustellen.
Doch in der Zwischenzeit hatte die CFDT bereits die Angestellten im öffentlichen Dienst fallengelassen und deren vorteilhafte Pensionsrechte auf das allgemeine Niveau des Rentensystems heruntergestuft. Außerdem forderte die CFDT eine Reform, die einem gerechten Beitragsverteilungssystem zuwiderlief. Genau das bekam sie schließlich durch einen Gutteil des Gesetzestextes, der vom Senat angenommen worden ist.
Daraufhin hätte das gewerkschaftsübergreifende Bündnis eigentlich aufgekündigt werden müssen, aber das zu erwarten, hieße den Deal zwischen Thibaud und Chérèque zu verkennen, mit dem die ArbeiterInnenklasse gleichgeschaltet und in das Zeitalter der Marktwirtschaft integriert werden sollte.
Der Reformist mit stalinistischer Grundausbildung
Bernard Thibaud kann mit diesem Deal gegenüber seiner eigenen Hardlinerfraktion seinen faktischen Verzicht auf das geheiligte Prinzip der Gewerkschaftseinheit, das die Alternative zum übergreifenden Bündnis mit CGT-CFDT-Dominanz wäre, legitimieren.
Und um intern jeder Rebellion gegen ihn einen Riegel vorzuschieben, versammelt er seit März 2010 die ihm nahestehenden CGT-Föderationen zweimal die Woche außerhalb aller Organisationsstatuten, um dadurch die Linie vorzugeben.
Die Funktionäre von Montreuil, dem Hauptsitz der CGT, und von Thibaud, die im Anwenden stalinistischer Taktiken ausgebildet worden sind, haben noch immer die Kontrolle nicht verloren.
Schließlich bequemt sich das übergewerkschaftliche Bündnis angesichts des Vorhabens der Regierung, das Renteneinstiegsalter um zwei Jahre zu verschieben (von 60 auf 62 Jahre; d.Ü.), um die ArbeiterInnen nicht verzweifeln zu lassen, wie es heißt, dazu, für den 7. September zur Aktion aufzurufen, und zwar für eine andere Reform, ohne eine Rücknahme des Regierungsprojekts zu fordern, und auch nicht, um zum Streik aufzurufen. Im Gegenteil: Zusammen mit dem Aufruf zum 7. September lässt das Bündnis gleich wissen, dass es Ende September an der Demo der Europäischen Gewerkschaftskommission (CES) in Brüssel teilnehmen wird, und die CGT macht dies gar zu einem Hauptziel ihrer Mobilisierungsaufrufe.
Im Klartext heißt die Message an ihre Unterorganisationen: „Es gibt zwar den 7. September, aber auch den 29. September, also legt nicht alle Eier in denselben Korb.“
Was diese Sesselpupser jedoch nicht vorhergesehen hatten, war der Wille der ArbeiterInnenklasse, endlich loszuschlagen: Der 7. September wird ein Mobilisierungserfolg, der die Taktik der BürokratInnen weit hinter sich lässt und sie zwingt, schon nach 14 Tagen einen neuen Aktionstag mit der Variante einer zusätzlichen Samstagsdemonstration zu programmieren, um die Kontrolle über die Bewegung nicht zu verlieren. Die Message, die davon an die Regierungsmacht ausgeht, ist klar: „Wir bleiben beim polizeilich eingehegten Protest, wir greifen die Wirtschaft nicht an, wir handeln verantwortlich.“
Die Antwort lässt nicht auf sich warten und Sarkozys Premierminister Fillon begrüßt die Verantwortungsbereitschaft der gewerkschaftlichen Führer (Thibaud und Chérèque).
Der Aktionstag wird ein neuerlicher Erfolg, Streikende und DemonstrantInnen werden immer zahlreicher. Das gewerkschaftsübergreifende Bündnis sieht sich unter Druck gesetzt, einen neuen Aktionstag für den 12. Oktober anzukündigen, mit nachfolgender Demo am Samstag, dem 16. Oktober.
Eine Ausrede, um nicht über die Ebene der Großfirmen hinaus die Belegschaften aller Betriebe mobilisieren zu müssen, kommt dadurch wie gerufen, dass die Demos am Samstag nicht über die TeilnehmerInnenzahlen vom Tag unter der Woche hinausgehen, mitunter sogar darunter bleiben.
Doch gleichzeitig verfängt das Ritual der angekündigten Aktionstage ohne landesweiten Aufruf zum Streik sowie der nachfolgenden Samstagsdemos in einer maßgeblichen Fraktion der ArbeiterInnenklasse nicht mehr und sogar innerhalb von CGT, der FO und von SUD werden seit dem 12. Oktober Aufrufe zum unbefristeten Streik ausgegeben.
Auch der Streikanteil der internen Strömungen der CGT, die gegen die Linie von Thibaud sind, ist unübersehbar, z.B. im industriellen Sektor: bei den BahnarbeiterInnen, den Hafen- und ÖllagerarbeiterInnen und überhaupt bei den Gewerkschaftsstrukturen auf Departementsebene. Gruppen aus SUD und FO beteiligen sich dort, wo sie gut organisiert sind, und vereinigen sich mit allen ArbeiterInnen, die Sarkozy richtig in den Arsch treten wollen.
Ein Streik gegen den Willen der Funktionäre
In jedem Fall ist der unbefristete Streik gegen den Willen des gewerkschaftsübergreifenden Bündnisses geführt worden und nach den Worten von Umweltminister Borloo wäre er fast erfolgreich gewesen. Denn Borloo gab öffentlich zu, dass Frankreich nur um wenige Stunden am völligen Spritmangel an den Tankstellen vorbeigeschrammt ist.
Das vorläufig letzte Kommuniqué des überregionalen Bündnisses für die Aktionstage vom 28. Oktober und vom 6. November ist noch einmal besonders lehrreich. Die CGT-CFGT-CGC-CFTC-UNSA-FSU-Phalanx ruft auf zur „Erhaltung der Güter und der Personen“ und übernimmt damit für eine gewerkschaftliche Aktion die Formulierung, die der Staat als Verhaltensanweisung für seine BeamtInnen ausgegeben hat!
Wann endlich wird sich auf die Charte du Travail bezogen?
(Die Charte du Travail von Amiens im Jahre 1906 ist eine noch heute populäre Referenz und beinhaltet neben dem Kampf um Tagesverbesserungen auch die Forderungen nach Abschaffung der Lohnarbeit und nach der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Politik; d.Ü.).
Auch das Rollenspiel zwischen Chérèque und der Chefin des Unternehmerverbandes, Laurence Parisot, im Fernsehen (sie reichten sich im Sender France 2 die Hand; d.Ü.), wo sie ihren Verlautbarungen nach die Phase des Konflikts hinter sich lassen wollten, um dann ein wenig über die Einstellungsmöglichkeiten der Jugendlichen zu streiten; oder Thibaud, der es in einer Videokonferenz für die Zeitung „Les Echos“ einfach zuließ, dass Kapitalistenchefin Parisot seine Genossen Hafenarbeiter aus Marseille beschimpfte, sind nur zwei weitere Beispiele dafür, dass diese Herren wirklich zu Allem fähig sind, um die Pfründe aus ihren Repräsentationsposten zu retten.
Immerhin: Auch wenn die soziale Bewegung hier zu Ende gehen und die Rentenreform durchgesetzt werden sollte, dann hat es wenigstens die Demonstration dessen gegeben, dass Millionen von ArbeiterInnen diese ganze Klüngel-Gesellschaft satt haben.
Dass entschlossene AktivistInnen dazu in der Lage sind, die gut geölte Arbeitsteilung und den vorauseilenden Verzicht des Funktionärsduos Thibaud-Chérèque scheitern zu lassen.
Dass der Aufruf von Émile Pouget (1860-1931) an die AnarchistInnen, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, noch immer aktuell ist und dass unsere Kampfmittel – die direkte Aktion und die souveräne Vollversammlung – noch immer das Gehör der ArbeiterInnen finden. Es liegt an uns, unsere Ideen und unsere Organisationen weiterzuentwickeln, um die soziale Revolution möglich zu machen.
Anmerkungen
Der Artikel erschien im frz. Original ohne Zwischenüberschriften unter dem Titel: "Dupont et Dupond. Premier bilan d'un échec voulu" in: Le Monde libertaire, Nr. 1611, 4.-11. November 2010, S. 3f.
Übersetzung aus dem Französischen: Lou Marin
"Dupont et Dupond" ist ein Wortspiel und bezeichnet die zum Verwechseln ähnlichen Taktiken der Gewerkschaftsführer Thibaud und Chérèque. Auf eine Übersetzung des Wortspiels im Text wurde zugunsten der besseren Verständlichkeit verzichtet.