gewaltfreiheit

Wohin will Arundhati Roy?

Letzte Zuflucht Guerilla im Kampf gegen industrielle Großprojekte? Teil I

| Lou Marin

Voraussichtlich Ende Januar 2011 erscheint im Buchverlag Graswurzelrevolution Ulrike Bürgers Buch "Staudamm oder Leben? Indien: Der Widerstand an der Narmada". Es lenkt die Aufmerksamkeit auf meist lang anhaltende, in Europa bisher kaum wahrgenommene Kämpfe indigener und anderer betroffener Bevölkerungen in der Südhemisphäre gegen industrielle Großprojekte. In der indischen Intellektuellen Arundhati Roy haben diese Kämpfe eine weltweit bekannte Stimme gefunden, die bisher zwar immer wieder eine Neuformulierung und Aktualisierung direkter gewaltfreier Aktionsstrategien angesichts verschärfter Repression forderte, ohne dabei aber den gewaltfreien Weg zu verlassen. Eine Frage, die in dieser und der kommenden GWR ausführlich behandelt werden soll, ist die, ob es erkennbare Änderungen in den Positionsbestimmungen Roys gibt, die uns aus antimilitaristischer und gewaltfrei-libertärer Sicht eine weitgehende Zustimmung künftig erschweren werden, weil sie sich der maoistischen Guerilla annähert. (GWR-Red.)

Die Schriftstellerin Arundhati Roy hatte mit Der Gott der kleinen Dinge (1) einen Roman geschrieben, der sie über Nacht weltberühmt machte. Er wurde zu einem der meistverkauften Bücher der indischen Literatur in den letzten Jahrzehnten.

Dann publizierte sie zum Schrecken der Literaturkritik gesellschaftskritische Schriften und Artikel, trat als Sprecherin der weltweiten Bewegung gegen den Kapitalismus auf und gilt bis heute als eine der schärfsten KritikerInnen des großindustriellen, atomaren und hindu-nationalistischen Indien.

In deutscher Übersetzung sind ihre politischen Aufsätze von renommierten und auflagenstarken Verlagen veröffentlicht worden. (2)

Ihre publizistische Gesellschaftskritik verknüpfte sie über Jahre hinweg mit mehreren Teilnahmen bei direkten gewaltfreien Aktionen der NBA (Bewegung zur Rettung der Narmada gegen den Bau von Großstaudämmen) und vielerlei Solidaritätskampagnen.

Die Bewegung für die Narmada und die globalisierungskritische Bewegung erkannten sich in ihren politischen Aussagen zu großen Teilen wieder. Bis heute gilt sie als glaubhafte und engagierte Intellektuelle.

Darum wurde und wird bis heute jede einzelne ihrer Analysen und Stellungnahmen oft weltweit wahrgenommen und ausführlich kommentiert.

Gegen Arundhati Roy gab es in der deutschsprachigen Presse immer wieder Angriffe.

Vielleicht erinnern sich noch manche daran, wie sich die Schriftstellerin anlässlich ihrer Rede auf dem Weltsozialforum im Januar 2004 in Mumbai angeblich positiv auf den bewaffneten Widerstand im Irak bezogen hätte, was die taz als Skandal brandmarkte. Im Gegenzug fühlte sich die kommunistisch-antiimperialistische junge Welt in Form des Leitartiklers Pirker dazu animiert, mit Roys vermeintlichem Positionswechsel im Rücken den gewaltfreien Widerstand als „neokoloniale Attitüde ‚zivilisierter‘ Westlinker“ abzukanzeln.

Die Roy-Rede war jedoch falsch transkribiert und übersetzt worden: In Wirklichkeit hatte sich Roy vor allem positiv auf Gandhis Salzmarsch von 1930 bezogen, vom gewaltfreien Widerstand gleichwohl Wirksamkeit eingefordert.

In solchen Situationen hat die Zeitung Graswurzelrevolution Arundhati Roy in Artikeln immer wieder verteidigt. (3)

In Indien stünde bei einem tatsächlichen Positionswechsel Roys allerdings mehr auf dem Spiel als publizistische Scharmützel

Es geht bei der Frage der Bewertung und Einschätzung des jahrzehntelangen Widerstands gegen Staudammprojekte, wovon die rund 3.000 Dämme an der Narmada die zahlreichsten und größten sind, und gegen andere industrielle Großprojekte auch darum, welche Konsequenzen aus dieser nun fast zum Abschluss gekommenen Widerstandsepoche gezogen werden.

Es geht auch um die Frage, wie sich der Widerstand im Innern Indiens gegen den aufstrebenden Global Player indischer Staat und indischer Kapitalismus künftig orientieren wird.

Hierzu geben die jüngsten politischen Äußerungen von Arundhati Roy tendenziell folgenden Eindruck: Für sie ist die Anti-Staudammbewegung an der Narmada – die wichtigste und international bekannteste indische soziale Bewegung der letzten Jahrzehnte – im Wesentlichen gescheitert, weshalb sich die Schriftstellerin zunehmend den bewaffneten Kämpfen der maoistischen Guerillaparteien annähert.

Diese Tendenz drückte sie bei zwei Anlässen im Jahr 2010 aus: Einmal eröffnete sie, u.a. neben dem gewaltfrei-libertären Sozialpsychologen Ashis Nandy (4), die Dreijahreskonferenz der War Resisters‘ International (WRI), die in der indischen Millionenstadt Ahmedabad Ende Januar 2010 stattfand, mit einer Rede, in der sie nicht nur den Zustand der indischen Demokratie geißelte und konstatierte, dass die indigene Bevölkerung mit einem an Genozid grenzenden Krieg überzogen werde, sondern auch die Frage stellte, ob gewaltfreier Widerstand dagegen weiter eine angemessene Antwort sein könne.

Der indigenen Bevölkerung könne kein gewaltfreier Widerstand „vorgeschrieben“ werden, es müsse vielmehr eine „Biodiversität des Widerstands“, also auch bewaffneten Widerstand geben. (5)

Bisher hatte Arundhati Roy immer wieder öffentlich ausschließlich zum gewaltfreien Widerstand aufgerufen.

Der zweite Anlass, diese neue Tendenz auszudrücken, und auf die Analyse dieses Textes möchte ich mich hier konzentrieren, erschien am 29.3.2010 im indischen politischen Nachrichtenmagazin Outlook: ein langer persönlicher, politisch reflektierter Bericht von Arundhati Roy über ihre wochenlange Reise in den zentralindischen Dandakaranya-Dschungel der Region Bastar im Süden des erst vor einigen Jahren neu gebildeten Bundesstaates Chhattisgarh zur maoistischen Guerilla CPI-Mao (Kommunistische Partei Indiens – Maoistisch) unter dem Titel: Wanderung mit den Genossen – In den Dschungeln Zentralindiens mit der Guerilla. (6)

Seither untersuchen die BJP-Regierung (Hinduistische Volkspartei – hindu-nationalistisch) und die Polizei des Bundesstaates Chhattisgarh Möglichkeiten, Roy für den Artikel unter den seit 2005 bestehenden drakonischen Anti-Terror-Gesetzen anzuklagen, besonders seit am 6. April 2010 die staatlichen Polizei- und Sicherheitstruppen einen empfindlichen militärischen Rückschlag hinnehmen mussten, als die maoistische Guerilla 76 Polizisten tötete. (7)

Dieser Überfall – und um diese globale Medienungerechtigkeit geht es Roy bereits – wurde auch in den herrschenden Medien des Westens groß aufgemacht.

Dass jedoch in den Dschungeln Zentralindiens seit 1986 Krieg herrscht und dabei die immer massiver und gewalttätiger auftretenden diversen Polizei-, Sicherheits- und Armeeeinheiten des indischen Staates viel mehr Opfer produzieren als die Guerilla, darüber werde in den westlichen Zeitungen nicht oder nur ansatzweise berichtet.

Die Repressionsstrategie des indischen Staates

Als Arundhati Roy die Guerilla besuchte, lief bereits eine brutale polizeilich-militärische Repressionswelle an, die sogenannte „Operation Green Hunt“, die eine Folgestrategie bereits durchgeführter ähnlicher Repressionswellen darstellt, in deren Rahmen vor einigen Jahren die betroffenen Adivasi (Bezeichnung für indigene Bevölkerungsgruppen, sog. „Stammes“- oder „Ur“-Gesellschaften) in militärisch befestige sogenannte Wehrdörfer zwangsumgesiedelt wurden, die inzwischen allerdings wieder weitgehend dezimiert sind, weil sich die Menschen daraus nach einiger Zeit massenhaft entfernt haben. Die Repression der Polizei- und Aufstandsbekämpfungseinheiten ist in dieser Kriegsregion auf einem hohen Niveau, daran besteht kein Zweifel.

Arundhati Roy sammelte während ihres Aufenthalts in den von der Guerilla „befreiten Gebieten“ – eines riesigen Areals, „60.000 km2 Wald, Tausende von Dörfern und Millionen von Menschen“ (A. Roy, im Folgenden nach Seitenzahlen eines eigenen Textausdrucks des Outlook-Artikels zitiert, hier S. 6) – eine Reihe bestürzender ZeugInnen-Aussagen von Opfern dieser Repression. Die Polizei- und Sicherheitskräfte sind im Grunde reine Söldner, die im Regierungsauftrag vorgehen: „Je mehr sie töten, um so mehr werden sie belohnt.“ (Roy, S. 12)

Wer auch nur in dem von der Guerilla „befreiten Gebiet“ lebt, gilt als „Naxal“ oder „Naxalite“ – dem in Indien gebräuchlichen Begriff für diverse ML- und maoistische Guerillas, benannt nach dem Dorf eines Aufstands von 1967: Naxalbari. Im Folgenden nur für viele stellvertretend eine markante Zeugenaussage von gewählten Mitgliedern einer guerilla-nahen „Dorfregierung“, die sechs Dörfer verwaltet, zum Vorgehen der Polizei bei einem Überfall auf ein Dorf:

„Sie kommen nachts, 300, 400, manchmal 1000. Sie legen einen Kordon um das Dorf, liegen und warten. In der Dämmerung fangen sie die ersten Leute, die auf die Felder gehen, und benutzen sie als menschliche Schilde, um in das Dorf zu gelangen und ihnen zu zeigen, wo die booby-traps [Sprengfallen; d.Ü.] liegen.“ (S. 15)

Arundhati Roy weist hier darauf hin, dass „booby-traps“ wie andere Ausdrücke des Guerillakriegs quasi bereits zum alltäglichen Wortschatz der Sprache der Gond gehört, der hier lebenden Adivasi-Bevölkerungsgruppe. Der Wald sei voller booby-traps, echter und falscher. Selbst die PLGA [People’s Liberation Guerrilla Army – bewaffneter Arm der CPI-Mao; d.A.] müsse an den Dörfern vorbeigeführt werden, um nicht versehentlich auf die Sprengfallen zu treten.

Roy fährt mit dem Bericht der Zeugenaussage fort:

„Ist die Polizei erst einmal im Dorf, dann plündert sie und stiehlt und verbrennt die Häuser. Sie kommen mit Hunden, die jene fangen, die zu fliehen versuchen. Sie jagen die Hühner und die Schweine und die Polizei tötet sie und nimmt sie in Säcken mit. SPO [Special Police Officer; Sicherheitspolizei; d.A.] kommen zusammen mit der Polizei. Sie sind diejenigen, die wissen, wo die Leute ihr Geld und ihren Schmuck verstecken. Sie fangen Leute und nehmen sie mit. Und erpressen Geld von ihnen, bevor sie sie freilassen. Sie haben immer Naxal-Tarnanzüge dabei, falls sie jemanden töten. Sie bekommen Geld, wenn sie Naxals töten, weshalb sie extra Naxal-Klamotten anfertigen lassen.“ (S. 15f.)

Der Staat will in den Dschungel eindringen, die Menschen vertreiben, zwangsumsiedeln und dann Bergwerke, Aluminiumfabriken und Staudämme bauen – die Bodenschätze ausbeuten. Die herrschenden Medien Indiens helfen mit, indem sie die Guerillera/os pauschal als blutrünstige Mörder darstellen. Das geschieht undifferenziert und mit oft gefälschten Berichten von „Encounters“ (bewaffnete Kampfhandlungen beider Seiten), die in Wirklichkeit einseitig, daher willkürliche Morde und Erschießungen waren.

CPI-Mao: Tatsächlich größte Bedrohung für den Staat – oder nur Legitimation für Angriff auf Bodenschätze?

Diesem Medienbild will Roy ihren Eindruck entgegenhalten, dass die PLGA tatsächlich eine Volksarmee sei, die in der Sympathie der indigenen Bevölkerungsgruppen „schwimmt wie ein Fisch im Wasser“, wie das alte Mao-Wort sagt.

Bekannt ist ja auch die Aussage von Premierminister Manmohan Singh, wonach die „Naxaliten-Maoisten“ gegenwärtig die „größte Bedrohung für die Innere Sicherheit“ Indiens darstellten, was manchmal in der linken deutschsprachigen Presse wie zum Beweis der angeblichen Radikalität und Stärke der Mao-Guerilla wiederholt wird.

Im Gegensatz dazu bleibt Arundhati Roy immerhin nüchtern-analytisch und weist auf den wahren Zweck dieser Aussage des Premierministers hin:

„Im April [2005; d.A.] unterzeichnete die BJP-Regierung in Chhattisgarh zwei Vereinbarungen für die Errichtung von integrierten Stahlwerken (deren Bedingungen geheim sind). Eins für 7.000 crore Rs [7.000 mal 10 Millionen Rupien, 1 crore = 10 Mio.; d.A.] in Bailadila und das andere für 10.000 crore Rs mit Tata Steel in Lohandiguda.

Im selben Monat gab Premierminister Manmohan Singh seine berühmte Erklärung über die Maoisten ab, dass sie die ‚größte Bedrohung für die Innere Sicherheit‘ Indiens seien. (Es war dumm, so etwas damals zu sagen, denn die Regierung in Andhra Pradesh hatte gerade die Maoisten ausmanövriert und sie dezimiert. Sie hatten etwa 1.600 ihrer Kader verloren und befanden sich in voller Auflösung.) Die Erklärung des Premiers jagte die Börsennotierung der Bergwerksgesellschaften in die Höhe. Es war auch ein Signal für die Medien, dass die Maoisten Freiwild seien, die jeder nach Belieben verfolgen könne.“ (Roy, S. 7)

Fortan sprachen die herrschenden Medien von „Heimsuchung“, „Verseuchung“, von „maoisten-verpesteten Gebieten“, also eine Sprache des Genozids, wie Roy anmerkt, von einer angeblichen „Krankheit“, die „ausgerottet“ werden muss.

Die Premierminister-Erklärung war also keineswegs ein „Ritterschlag“ für die Guerilla und Ausweis ihrer tatsächlichen Bedrohungskraft und Stärke, sondern das Signal zur medialen und militärischen Attacke auf die letzten unberührten, von Adivasi bewohnten Gebiete Indiens, an deren Bodenschätze der indische Staat als neuer Global Player heranwollte.

Arundhati Roys Intention ist also eine eher defensive: Sie glaubt ebenfalls nicht an die Stärke und Offensivkraft der Guerilla, sondern sie will helfen, diesen innerindischen Imperialismus zu stoppen, der seinerseits in die Offensive geht und der nur zur Massenvertreibung oder gar zum Massenmord an den indigenen Bevölkerungsgruppen in Zentralindien führen kann. In dieser Intention möchte ich sie ausdrücklich unterstützen.

Doch die Gond führen nicht allein und nicht aus sich heraus einen bewaffneten Kampf. Sie führen ihn zusammen mit einer maoistischen Guerilla, deren Ideologie nun wirklich nicht aus der Adivasi-Tradition stammt.

Die unkritischen Idealisierungen des Guerilla-Krieges durch Arundhati Roy

Mit ihrer unnachahmlichen poetischen Kraft beschreibt die Schriftstellerin Arundhati Roy die Schönheit der Natur und der Menschen im zentralindischen Dschungel. Dabei lässt sie sich jedoch auch zuweilen zu kritikloser, idealisierender Darstellung des Guerillaalltags hinreißen, der weit weniger prosaisch aussieht:

„Etwa zwanzig junge Leute treffen ein, Jungen und Mädchen. Teenager und manche Anfang 20. […] Ich bin umgeben von diesen eigenartigen, wunderschönen Kindern mit ihren merkwürdigen Waffen. Sie sind natürlich alle Maoisten.“ (S. 3f.) Dann kommen „die wichtigen Leute“: „Sie tragen richtige Gewehre, INSAS, SLR, zwei haben die AK-47. Der Führer der Einheit ist Genosse Madhav, der schon mit 9 Jahren Mitglied der Partei wurde. […] Eine kleine Gruppe von Leuten mit einem molligen jungen Mann. Sie haben auch Tarnanzüge an, die nagelneu aussehen. Jeder bewundert sie und kommentiert den Schnitt.“ (S. 4)

Jede Guerilla, überall auf der Welt, entwickelt ihre anti-emanzipatorischen Eigenheiten, besonders wenn der Krieg Jahre oder gar Jahrzehnte dauert, wie in Indien. Die PLGA kennt keine Praxis der Entführungen von PolitikerInnen oder TouristInnen wie die kolumbianische Guerilla, sie lebt auch nicht von Drogen oder der Ausplünderung der angeblich „befreiten“ Bevölkerung. Aber sie rekrutiert junge Menschen in Partei, Miliz und Befreiungsarmee – wie die Guerillas Afrikas mit ihren Kindersoldaten.

Es gibt in Indien nicht nur Kinderarbeit in kapitalistischen Betrieben, es gibt in angeblich revolutionären Bewegungen auch Kindersoldaten. Arundhati Roy beschreibt diese Realität manchmal so, dass sie kenntlich wird, manchmal aber auch zu romantisierend.

Das Wort „Kindersoldaten“ fällt bei ihr nicht – und sie reflektiert auch nicht darüber.

Auf einer Indienreise im Jahr 2000 besuchte ich eine Initiative von selbstkritischen Ex-NaxalitInnen in Calcutta, die ehemalige SoldatInnen der PWG (Gruppe Volkskrieg), der wichtigsten Vorläufergruppe der sich 2004 zur CPI-Mao vereinigenden Guerillagruppen, nach ihrem Ausstieg aus dem Guerillaleben psychologisch betreute: Diese Ex-SoldatInnen hatten Alpträume und Schwierigkeiten, ins zivile Leben überzuwechseln, weil sie die meisten Jahre ihres Lebens fast durchgängig mit Waffen durch den Wald gelaufen sind. (8)

Arundhati Roy beobachtet die Tatsache, dass es im Dschungel praktisch kein Buch zum Lesen gibt; manchmal erreichen die KämpferInnen diffamierende Presseartikel indischer Zeitungen, die sie sich selbst laut vorlesen, um Lesen zu lernen. Sie setzt diese Beobachtung aber nicht in Bezug zu den vielen ungelebten und weggeworfenen Leben, die als Kindersoldaten oder Kinder aus Parteigruppierungen beginnen, die neuen Uniformen zu bewundern.

Es kommt aber noch schlimmer: An einer Stelle fragt sich Arundhati Roy, was den Guerillera/os die Kraft gibt, so lange auszuhalten und weiterzukämpfen. Man sollte doch meinen, es sei die Liebe und Solidarität für die betroffene Bevölkerung. Doch Roy schreibt tatsächlich:

„Was hält sie alle im Gange, trotz allem, was sie mitgemacht haben? Ihr Glaube und ihre Hoffnung – und Liebe – für die Partei. Ich begegne dem immer wieder, auf die tiefste und persönlichste Weise.“ (S. 9)

Punkt. Auch hier eine erschreckende Kritiklosigkeit von Arundhati Roy gegenüber der Geschichte bewaffneter Kämpfe in Indien, die alle von avantgardistischen Parteien angeführt wurden. Die CPI-Mao hat sogar aus ihrer eigenen Geschichte und den früher verlorenen Kämpfen der PWG „gelernt“, d.h. den Schluss gezogen, dass eine straffere Organisation und eine eigene Armee mit klareren Hierarchien nötig ist. Das ist ihre Konsequenz aus bisherigen militärischen Niederlagen mit weniger autoritären Organisationsstrategien.

Maoistische oder marxistisch-leninistische Guerillas gab es in Indien schon immer, ob vor oder nach der Unabhängigkeit. Die Brennpunkte im unabhängigen Indien hießen „Telangana in den 50ern; Westbengalen, Bihar, Srikakulam in Andhra Pradesh Ende der 60-er und 70-er Jahre; und wieder in Andhra Pradesh, Bihar und Maharashtra seit den 80-ern bis heute“ (S. 1). Kaum einmal wurden zu dieser langen Geschichte selbstkritische und aufarbeitende Papiere veröffentlicht (9); die klassisch-autoritäre Struktur, nach der eine Partei die bewaffneten Einheiten politisch leitet und kontrolliert, wurde nie in Frage gestellt.

Nie gab es einen etwa mit der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in Mexiko vergleichbaren selbstkritischen Prozess oder wenigstens Versuch, indem die bewaffnete Intensität dauerhaft reduziert statt beschleunigt und autoritäre Strukturen bewusst zurückgedrängt wurden. So war und ist über alle Linienstreits und Spaltungsgeschichten hinweg die Partei die letztentscheidende Instanz, welche den bewaffneten Arm anweist und kontrolliert.

Auch wenn Arundhati Roy z.B. den hohen Frauenanteil an der Guerilla hervorhebt und zeigt, wie durch die Beteiligung von Frauen an der Guerilla konservative und patriarchale Traditionen der Adivasi, d.h. die untergeordnete Stellung und die eingeschränkten Befugnisse der Frau, teilweise überwunden oder verändert werden konnten, so muss sie am Ende doch konstatieren: „Das Zentralkomitee der Partei und das Politbüro haben immer noch keine Frau.“ (S. 10)

Aber dafür wird sie von allen Frauen geliebt, die Partei. Ist ja auch klar, die Parteiführung wird zum Familienersatz, nicht nur nach einer Flucht vor den patriarchalischen Strukturen der Familie, sondern oft auch nach mörderischen Angriffen oder Massenvergewaltigungen der Polizei.

Die Verwendung von Landminen

Auch die Verwendung von Landminen zur Dorfverteidigung wird von Arundhati Roy nicht wirklich kritisch kommentiert. Sie lässt zunächst den Guerillero Sukhdev erklären: „Sie sagen immer Landminen. Wir benutzen keine Landminen, sondern IED [improvised explosive devices = selbstgebaute Explosivladungen; d.Ü.].“ (S. 16) Aber ist das wirklich ein Unterschied?

Später spielt Sukhdev für Arundhati Roy ein „Ambush Video“ vor, ein Video von einer militärischen Aktion der Guerilla, einem bewaffneten Hinterhalt: „Es beginnt mit Aufnahmen von Dandakaranya, von Flüssen, Wasserfällen, mit einer Nahaufnahme eines nackten Baumzweiges, einem rufenden Kuckuck.

Dann plötzlich spult ein Genosse ein IED ab, bedeckt es mit trockenen Blättern. Eine Kavalkade von Motorrädern geht in die Luft. Es gibt verstümmelte Körper und brennende Motorräder. Die Waffen werden geschnappt. Drei Polizisten, die unter Schock stehen, werden gefesselt.“ (S. 16)

Solche Ambush-Videos sind als Filme im Guerilla-Camp beliebt. Roy vermerkt hier nur noch, dass die gefangenen Polizisten freigelassen wurden – wohl um die Menschlichkeit der Guerilla zu betonen.

Die Frage, ob es sich bei IED um Landminen handelt, beantwortet und behandelt sie nicht weiter. Sollen die LeserInnen sie für sich beantworten?

Kurz vor dieser Stelle zitiert sie bei den Verbrechen der Polizei die UN-Konvention zu Genozidverbrechen. Die Landminenkonvention zitiert sie nicht.

Die „Volksgerichte“ und die Todesstrafe

Ähnliche Probleme finden sich bei ihrer Darstellung der sogenannten Volksgerichte, die in der herrschenden indischen Presse als willkürliche Mordwerkzeuge angeprangert werden.

Sie schildert ein „Volksgericht“ im Anschluss an einen Milizangriff auf eine Polizeieinheit, die im Rahmen einer früheren Repressionskampagne gerade ein Dorf niedergebrannt hatte, und lässt sich von Gudsa Usendi, dem Chronisten der Partei, der vergeblich gegen falsche Pressedarstellungen in Indien kämpft, den Umgang mit den sieben dabei Festgenommenen erläutern:

„Das Gebietskomitee hat ein jan adalat (Volksgericht) einberufen. Viertausend Menschen waren anwesend. Sie hörten sich die gesamte Geschichte an.

Zwei der SPOs [Special Police Officer; d.A.] wurden zum Tode verurteilt. Fünf wurden verwarnt und freigelassen.

Das Volk entschied. Selbst mit Informanten – was heutzutage ein großes Problem geworden ist – hört das Volk sich den Fall an, die Geschichten, die Geständnisse und sagt: ‚Wir lassen uns nicht auf das Risiko ein, dieser Person zu vertrauen‘ oder ‚Wir lassen uns auf das Risiko ein, dieser Person zu vertrauen‘.

Die Presse berichtet immer über Informanten, die getötet werden. Sie berichtet niemals über die vielen, die frei gelassen werden. Jeder denkt also, es sei eine blutdürstige Prozedur, bei der jeder immer getötet wird. Es geht nicht um Rache, es geht ums Überleben und die Rettung künftiger Leben. […] Natürlich gibt es Probleme. Wir haben furchtbare Fehler begangen; wir haben sogar die falschen Leute bei unseren Hinterhalten getötet, weil wir glaubten, es seien Polizisten, aber so, wie es in den Medien dargestellt wird, ist es nicht.“ (S. 12)

Es ist glaubhaft, dass die Volksgerichte keineswegs so willkürlich und mörderisch sind wie in den herrschenden Medien dargestellt, nur ist das hier nicht der Maßstab der Kritik. Um nämlich kritisieren zu können, dass „Volksgerichte“, welche die Todesstrafe praktizieren, autoritär und anti-emanzipatorisch sind, müssen keineswegs immer gleich alle Festgenommenen hingerichtet werden. Es genügt, wenn es einige sind – oder auch nur eine/r.

Außerdem wird bei der Beschreibung die Frage nicht gestellt, warum es denn so viele InformantInnen für die Herrschenden innerhalb der „befreiten Gebiete“ gibt, die soviel Misstrauen säen, wenn die Guerilla doch angeblich wie ein Fisch im Wasser in der Sympathie der Bevölkerung schwimmt?

Die aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht entscheidenden Fragen stellt Roy nicht.

Um die „Volksgerichte“, so wie sie wirklich sind, zu rechtfertigen und das schlechte Gewissen zu entsorgen, wird von ihr dagegen immer wieder die Folie der Verzerrung durch die herrschenden Medien ausgebreitet. Dadurch wird ein Popanz aufgebaut, dem gegenüber sich dann die (wo auch immer sie ausgeübt wird) verbrecherische Praxis der Todesstrafe noch als human darstellen lässt. Arundhati Roy unterstützt das, denn wenn sie eine Beschreibung kommentieren will, nimmt sie kein Blatt vor den Mund und macht das auch. Zu den Volksgerichten schreibt sie abschließend: „Und was hätte das Volk von Kotropal tun sollen, frage ich mich? Die Polizei rufen?“ (S. 12)

Die zaghafte Kritik der Arundhati Roy

Die praktische Kriegsführung der Guerilla bietet dann aber doch an einigen Stellen auch für Arundhati Roy Anlass, öffentlich darüber nachzudenken, ob sie sich vielleicht doch nur in der Quantität und nicht in der Qualität von derjenigen der indischen Polizei unterscheidet. Sie hatte einige Tage vor ihrem Untertauchen im Dschungel die Möglichkeit, mit einem der wenigen etwas verständigeren und gesprächsbereiten Special Officers vor Ort in Dantewada zu sprechen.

Hier ihr Eindruck von einem Guerillaangriff vom 15.3.2007, zu dem sie Dokumente gezeigt bekam: „Einhundertzwanzig PLGA-Guerillas griffen das Rani Bodili Kanya Ashram an, ein Mädchenheim, das in eine Baracke für 80 Chhattisgarh-Polizisten (und SPO) verwandelt worden war, während die Mädchen dort noch immer als menschliche Schilde lebten.

Die PLGA drangen in das Gelände ein, riegelten den Anbau, wo die Mädchen wohnten, ab, und griffen die Baracken an. 55 Polizisten und SPO wurden getötet. Keines der Mädchen wurde verletzt. (Der freimütige SPO von Dantewada hatte mir seine Power Point Präsentation gezeigt mit den furchtbaren Bildern von den verbrannten […] Leichen der Polizisten inmitten der Ruinen der gesprengten Schulgebäude. Sie waren so makaber, dass es unmöglich war, nicht wegzuschauen. Er betrachtete vergnügt meine Reaktion.)“ (S. 7)

Militärisch war der Angriff für die Guerilla ein Erfolg, denn auf der anderen Seite der Front, „in Dadakaranya wurde der Rani Bodili-Angriff zu einer Legende: Lieder, Gedichte und Stücke wurden darüber verfasst.

Die maoistische Konteroffensive brach den Sicherheitsgürtel und gab dem Volk eine Atempause.“ (S. 8)

Ist das den Preis und die Brutalität der Kriegsführung wert, weil ja die Mädchen geschützt werden konnten? Verwundert es wirklich, wenn die Polizisten killen, da ihnen per Power Point vorgeführt werden kann, ansonsten gekillt zu werden?

(1) Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge, Roman, München 1997

(2) Vgl. in deutscher Übersetzung z.B. ihr erstes Buch mit politischen Aufsätzen: Arundhati Roy: Das Ende der Illusion. Politische Einmischungen, Blessing München 1999; sowie ihr jüngstes politisches Buch: Arundhati Roy: Aus der Werkstatt der Demokratie. Essays, S. Fischer, Frankfurt/M. 2010

(3) Vgl. z.B. Alfred Schobert: "Arundhati Roy" im Krieg der Medien, in Graswurzelrevolution Nr. 286, Febr. 2004

(4) Zu Ashis Nandy vgl. Ashis Nandy: Der Intimfeind. Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2008

(5) Ein Video der Rede von A. Roy auf der WRI-Konferenz 2010 in Ahmedabad ist zu sehen auf der Website der War Resisters' International: http://wri-org.org/node/10742 Vgl. auch Stephan Brües: Rückkehr ins Gandhi-Land. Die War Resisters' International hielt ihre internationale Konferenz in Indien ab, in: Graswurzelrevolution Nr. 347, März 2010, S. 4; sowie verschiedene mündliche Berichte und Mails, die der Autor von KonferenzteilnehmerInnen erhalten hat

(6) Der Artikel ist in deutscher Übersetzung von Einar Schlereth im Internet zu finden, die dortige dt. Fassung wurde herausgegeben von Fausto Giudice: http://zmag.de/artikel/wanderung-mit-den-genossen-in-den-dschungeln-zentralindiens-mit-der-guerilla. Ich zitiere im Folgenden in Klammern die Seitenzahlen eines eigenen 18-seitigen Textausdrucks mit 8-Punkt-Schriftgröße

(7) Kranti Kumara: Indian government suffers reversal in its war on Maoists and tribals, World Socialist Web Site, 21. April 2010; sowie Kranti Kumara: Indian writer Arundhati Roy threatened with prosecution under anti-terrorism law, World Socialist Web Site, 26. April 2010

(8) Diese Erfahrungen sind verarbeitet in dem Text: Calcutta-Freundschaftsgruppe: Der Herrschaftsvirus, in Graswurzelrevolution (Hg.): Das andere Indien. Anarchismus, Frauenbewegung, Gewaltfreiheit, Ökologie, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2000, S. 27-150

(9) Das in Anm. 8 zitierte Papier ist eine der wenigen Ausnahmen, in denen auch innerfraktionelle Morde und ihre Ursachen dargestellt und kritisch beleuchtet werden

Anmerkungen

Teil 2 erscheint im Februar in der GWR 356.