Seit Ende November 2010 veröffentlicht die Internet-Plattform WikiLeaks täglich neue, teils als geheim eingestufte Botschafts-Depeschen an das US-State Department. Insgesamt sollen mehr als 250.000 sogenannte Embassy Cables veröffentlicht werden. Bislang sind es nur knapp über 1.000 Dokumente, die u.a. wegen ständiger Internet-Angriffe auf die WikiLeaks-Server bzw. das Abschalten seiner Domain-Adressen in verschiedene Länder ausgelagert werden. Inzwischen haben auch der Versand-Riese Amazon seinen Serverplatz aufgekündigt und die Ebay-Tochter PayPal die Überweisungs-Funktion von WikiLeaks gesperrt. Auch das als freiheitlich-demokratisch bejubelte "soziale Netzwerk" Twitter - zumindest wenn es um den Aufruhr im Iran geht - zensiert offenbar den WikiLeaks-Account.
Es ist ein bemerkenswerter Vorgang, wenn nicht China, sondern die Library of Congress ihren LeserInnen den Internet-Zugang zu WikiLeaks blockiert und angehende DiplomatInnen an der School of International and Public Affairs der Columbia Universität vom State Department ermahnt werden, im Sinne einer zukünftigen erfolgreichen Karriere die neuesten Enthüllungen nicht öffentlich zu besprechen.
Im Irak stationierte US-SoldatInnen, die online auch nur auf Berichte über die WikiLeaks-Enthüllungen zugreifen wollen, werden blockiert oder durch ein Popup-Fenster davor gewarnt, dass sie nun eine Seite lesen werden, die über einen Gesetzesverstoß handelt.
All dies macht, eingedenk der Pressekonzentration einiger weniger Medienkonzerne, auch den Unterschied sichtbar zwischen dem Besitz einer eigenen Meinung und dem Vorliegen von Strukturen, die eine Herausbildung dieser effektiv vereiteln, sowie ökonomischen Verhältnissen, die eine Selbstverpflichtung zum Nicht-Wissen-Wollen einfordern.
Diese Zwänge erlauben es oft gar nicht, kostendeckend eine Meinung besitzen zu können. Offener Widerspruch kann Arbeitslosigkeit oder gar den sozialen Tod nach sich ziehen.
Wohl auch deshalb findet sich auf der Seite des State Departments die Information, dass WikiLeaks nicht als journalistisches Medium anerkannt wird.
Die Debatte um die neuesten Enthüllungen, nachdem bereits am Jahresanfang ungeschminkte Berichte über die blutigen Kolonial-Kriege gegen die Zivilbevölkerung in Afghanistan und dem Irak in den sog. War-Logs veröffentlicht wurden, beweisen demnach nur eins: die Unfähigkeit der globalisierten Gesellschaft, mit sichtbar gemachten Widersprüchen ihrer freiheitlich-demokratischen Ordnung umgehen zu können.
Ähnlich verhält es sich mit den etablierten Medien, die herausgerissen wurden aus ihrer Monopolstellung als Zulieferer dessen, worüber, wann und wie berichtet werden darf.
Anstatt als Konsequenz Fragen an das herrschende System zu stellen, kaprizieren sich diese auf höfische Anekdoten aus den Hinterzimmern der Berlusconis und Westerwelles.
„Das war doch längst bekannt“, beschwichtigen weise KommentatorInnen. Besorgte PolitikerInnen sprechen von einem „massiven Vertrauensbruch“. Erklären dabei aber nicht, warum nicht die Lüge selbst dieses Vertrauen zerstört, sondern erst ihre Blöße. Wieder andere beschwören, die Enthüllungen besäßen „keinen Erkenntniswert“.
Doch es ist nicht ihr überaus politischer Inhalt, dem Bedeutung abgesprochen werden kann, vielmehr mangelt es den sog. ExpertInnen durch die Dekadenz des eingebetteten JournalistInnenalltags an Vorstellungskraft und Urteilsvermögen. Dessen Verwerfungen sind zwar hierzulande nur den Mitgliedern der Bundespressekonferenz (BPK) oder akkreditierten JournalistInnen vorbehalten.
Wer jedoch einmal eine Einladung von der Bundespresseball GmbH erhalten hat, dem auch der Weg zu den Pressecentern der entbehrungsfreien Medienwelt der Häppchen und Massagesalons (wie beim G8-Gipfel in Kühlungsborn 2007) offen steht, der ist gezwungen, eine politische Wahl zu treffen. So liefern vor allem die Reaktionen der blasierten JournalistInnen, aber auch das weit verbreitete Stillschweigen einer in ihrem Selbstverständnis radikalen Linken weitaus mehr Erkenntnisse über die Funktionsmechanismen der öffentlichen Sphäre und die Integrationskraft des Kapitalismus als die nun nicht nur antizipierten, sondern schwarz auf weiß vorliegenden Fakten aus dem Tagesgeschäft nicht nur der US-amerikanischen Politik.
Damit werden die Strukturen der Kommunikationswelt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformationen offen gelegt.
Es ist auch nicht die Fülle an Material, die eine fundierte Analyse verhindert. Der Kaiser ist nackt. Doch die höfische Gesellschaft und der Kaiser selbst bewundern die Qualität der durch wiederholten Betrug, Lügen und Manipulation gestrickten Gewänder.
Auch dann, wenn diese den nackten Arsch der westlichen Demokratie entblößen.
Die wenigen KritikerInnen dieses Kostüms sind wohl nicht würdig oder einfach nur dumm, wenn sie behaupten, Frieden sei in Wirklichkeit Krieg, Diskussionen über Frauen- und Menschenrechte seien reine Augenwischerei.
Doch anders als in Hans-Christian Andersens Vorlage, bei der es eben ein Rossknecht ist, der die Wahrheit ausspricht, denn als jemand am unteren Rand der Rangordnung steht ihm gar nicht die politische Wahl zwischen Ansehen, Wohlstand oder Wahrheit zu, sind es heute gerade jene, die es besser wissen sollten, die den Mund halten.
Die Eitelkeit und innere Unsicherheit, nichts sehen zu wollen, ist kein Zufall. Der Schwindel fliegt bekanntlich erst durch den Ausruf eines Kindes auf, also nicht jener großen anerkannten Medien, sondern durch die Veröffentlichung eines globalen Samizdates.
Wieso können JournalistInnen, PolitikerInnen und selbst die sonst so wortgewandte Linke mit WikiLeaks nicht umgehen?
Weil die hergestellte Transparenz zwar die Widersprüche der „demokratischen“ Selbstwahrnehmung offen legt, jedoch eine Gesellschaft, die nicht einmal den gescheiterten Versuch einer alternativen Gesellschaftsformation unternommen hat, mehr darauf bedacht ist, ihre jetzige, mühevoll erkämpften Besitzstände zu sichern und in der Rangordnung nicht noch tiefer abzusacken.
Einzige Konsequenz müsste heute sein, das System als unerträglich abzuschaffen. Doch was täten dann all die „Gutmenschen“, die das Leben des Kapitalismus verlängern wollen, indem sie ihn erträglicher machen möchten?
In der heutigen hegemonial aufgeteilten Diskurs-Öffentlichkeit reicht Wahrheit anscheinend nicht mehr aus. Das System macht Wahrheit nicht mehr anschlussfähig. So als ob man beim Tennis mit den Regeln des Fußballs Kritik betreiben will.
Ernüchternd muss festgestellt werden, dass die Taktik des WikiLeaks-Sprechers Julian Assange, die Dokumente vorab privilegiert den großen Medien wie Spiegel, New York Times oder Le Monde zur Verfügung zu stellen, ein Fehler war. Man kann nicht ein Samizdat sein und zugleich die Hegemonie mit ihren Entstehungsvoraussetzungen bekämpfen. Transparenz der Arkan-Politik ist gerade deshalb notwendig, weil die großen Medien-Häuser eben bislang nicht in der Lage waren, Licht in das wahre gewaltvolle, kriegerische und heuchlerische Gesicht der westlichen Demokratien zu bringen.
Wir müssen uns dabei bewusst werden, dass das bewährte Mittel, Gegenöffentlichkeit herzustellen, unter den global herrschenden Verhältnissen des Kapitals nicht ein Allheilmittel darstellt. In der DDR oder VR Polen reichte die Gegendarstellung schon aus, um das System zum Tanzen zu bringen.
Heute erfüllen immer noch unabhängige kleinere Zeitschriften wie zum Beispiel die Graswurzelrevolution, die seit Jahren gegen die hiesige Hegemonie ankämpfen, eine wichtige Funktion. So wären ohne die GWR zum Beispiel wichtige Informationen über die NATO-Kriegspolitik unterdrückt.
Es waren auch die kleinen Zeitschriften wie der Ossietzky oder der ostdeutsche telegraph, die sehr früh zum Beispiel das Thema Hartz IV oder bundesdeutsche Geheimdienste auf die Agenda brachten, während die großen das Thema verschliefen.
Gegenöffentlichkeit heute kann jedoch nur ein erster Schritt sein, den zweiten Schritt müssen wir wagen, nachdem wir die Schreibfeder aus der Hand gelegt haben.
Anmerkungen
Kamil Majchrzak ist Redakteur der polnischen Edition der Le Monde Diplomatique.