"Griechische Anarchisten bekennen sich zu Paketbomben", "Angst vor neuem Anarcho-Terror", "Fahndungs-Bilder: Das sind die anarchistischen Griechen-Bomber", so lauteten im November und Dezember 2010 die Schlagzeilen in der deutschsprachigen bürgerlichen Presse. Die Medien haben das Schreckgespenst des anarchistischen Bombenlegers wieder aus der Mottenkiste geholt. Tatsächlich hat sich im November 2010 die griechische Stadtguerilla Verschwörung der Feuerzellen zu den EU-weit verschickten Briefbomben bekannt. Eine "Federatione Anarchica Informale" aus Italien schließlich, verübte im Dezember 2010 Briefbombenanschläge auf Botschaften in Rom. Ob es sich bei dieser Gruppe allerdings um "Anarchisten" handelt, ist zweifelhaft. Ein Hintergrundbericht von Griechenlandkorrespondent Ralf Dreis. (GWR-Red.)
„Das Leben dringt in mich ein, durchdringt mich mit seiner Hässlichkeit, erfüllt mich mit Wut über seine Ungerechtigkeit, sein organisiertes Unrecht, demütigt mich mit meiner Unfähigkeit, mich zu widersetzen, mich wirksam zu erheben, mich gegen unsere ständige Erniedrigung zu verteidigen. Wäre ich noch einmal zwanzig, würde ich von den Berggipfeln herab beginnen, als Partisanin, Räuberin, Piratin, würde denen die Augen öffnen, die sich ohne Protest in ihr Schicksal ergeben, wie auch denen, die sich blind stellen. Nein, meine Revolution würde sich nicht gegen das Establishment und sein System richten, sondern gegen all jene, die es ertragen.“
Dieses Zitat der 1998 verstorbenen griechischen Schriftstellerin Lily Zográfou (1) bringt ihre Verzweiflung über die Passivität, über die duldsame Komplizenschaft ihrer Mitmenschen an den Verbrechen des unterdrückerischen Regimes auf den Punkt.
In den Kommuniqués der griechischen Stadtguerilla Synomosía Pyrínon tis Fotiás (SPF, Verschwörung der Feuerzellen) kommt nun, 40 Jahre danach, noch unbändiger Hass hinzu. Hass auf „Bullen, Bonzen und Politiker“ sowieso, Hass aber auch auf „die Gesellschaft“.
Exemplarisch drückt dies Gerásimos Tsákalos, ein inhaftiertes Mitglied der Gruppe, in seiner Erklärung vom 24.12.2010 aus dem Gefängnis Malandrínou aus: „All diese Personen, die die Machtpositionen innehaben, sind ein Haufen Gesindel, Lügner, Betrüger und Sadisten, die eine endlose Reihe von – für uns alle – katastrophalen Entscheidungen treffen. Ein unbestreitbarer Fakt, soweit. Doch wer wählt sie? Wer achtet sie und (ver)beugt sich (vor) ihnen? Wer bewundert sie und wäre gerne wie sie? Und wenn nicht selbst, dann wenigstens die Kinder. Wer schweigt angesichts der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten, die sie verüben? Die Antwort ist eine. Die Gesellschaft!“ Aus diesen Gründen verortet sich Tsákalos in „einer neuen Strömung“ der anarchistischen Bewegung, nämlich des „revolutionären Nihilismus und antigesellschaftlichen Anarchismus“.
Die Verschwörung der Feuerzellen
Am 17. Januar 2011 begann im Gerichtssaal des Athener Knastes Korydallós der erste Prozess gegen bekennende und angebliche Mitglieder der SPF. Insgesamt 10 Personen, ein Teil von ihnen in Untersuchungshaft, andere gegen Auflagen auf freiem Fuß, müssen sich wegen diverser Anklagepunkte verantworten.
Ein riesiges Polizeiaufgebot filmte Angehörige, FreundInnen, GenossInnen und ProzessbeobachterInnen. Wer in den Gerichtssaal wollte, wurde durchsucht und musste den Ausweis abgeben, der kopiert wurde. Nachdem Anträge der Verteidigung, diese rechtswidrige Praxis zu beenden, vom Gericht abgelehnt wurden, traten die drei bekennenden Mitglieder der SPF gemeinsam mit anderen Angeklagten in den Hungerstreik.
Da die Maßnahme der Einschüchterung und Kriminalisierung der interessierten Öffentlichkeit dient, verweigerten sie die Teilnahme am Prozess und wiesen ihre AnwältInnen an, diesen ebenfalls zu boykottieren. Die übrigen Angeklagten schlossen sich an, so dass ohne Angeklagte und Verteidigung vor leeren Zuschauerbänken verhandelt wurde. Ein Novum.
Nach Unstimmigkeiten in der heterogenen Gruppe der Angeklagten wurde der Hungerstreik am 11.02.2011 abgebrochen.
Die SPF hatte in den letzten Jahren – die ersten Aktionen fanden 2007 statt – unzählige Angriffe auf staatliche und kapitalistische Institutionen verübt und wird vom griechischen Staat als terroristische Vereinigung verfolgt.
Zumeist handelte es sich um Brandanschläge auf Banken, Parteibüros, Autohäuser, Polizeiwachen und ähnliches.
Insbesondere nach dem Polizeimord an dem 15-jährigen Aléxandros Grigorópoulos im Dezember 2008 nahmen solche Angriffe landesweit ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an.
Über Monate hinweg wurden tagtäglich Anschläge verübt. Oftmals fanden mehrere Aktionen von unterschiedlichen Gruppen am selben Tag statt.
Unter der Vielzahl der sich bekennenden Kleingruppen stach bald ein immer wiederkehrender Name heraus, Synomosía Pyrínon tis Fotiás. Anfang 2009 rüstete die SPF auf und verwendet seitdem auch Sprengstoff, zuletzt am 30.12.2010 beim Anschlag auf das Verwaltungsgericht in Athen.
In ihren Kommuniqués vertrat die Organisation eine an den russischen Sozialrevolutionär Sergej Nechajev (1847-82) erinnernde nihilistische Linie, verbunden mit harter Kritik an der radikalen Linken und Großteilen der anarchistischen Bewegung, die die „kapitalistische Demokratur“ nicht entschlossen genug bekämpften.
Umgekehrt äußerten Teile der Bewegung frühzeitig Kritik an „unverantwortlichen Aktionen“ der SPF, wie den in Mülltonnen deponierten Sprengsätzen in der Nähe einer Wahlkampfveranstaltung der konservativen Néa Dimokratía im September 2009 oder dem Anschlag auf das griechische Parlamentsgebäude im Januar 2010.
Die SPF wies die Kritik zurück; man habe alles im Griff, schließlich sei nie jemand verletzt worden.
Dass dies wohl eher glücklichen Zufällen geschuldet ist, war klar, als im November 2010 Briefbomben an ausländische Botschaften in Athen, europäische Regierungschefs und EU-Institutionen verschickt wurden. Beim Versand wurden zwei junge Männer verhaftet, die sich zur Mitgliedschaft in der SPF bekannten.
Festnahmen hatte es schon vor anderthalb Jahren, im September 2009, gegeben. Im Athener Stadtteil Chalándri hatten Polizeieinheiten ein Haus gestürmt und fünf Personen im Alter von 20 und 21 Jahren nach dem Antiterrorgesetz verhaftet, da das Haus im Zusammenhang mit militanten Angriffen auf staatliche und kapitalistische Ziele stehe.
Scheinbar wurde das ganze Gebäude präzise nach Fingerabdrücken abgesucht, um den Aufenthalt bestimmter Personen im Haus belegen zu können, womit wiederum deren Mitgliedschaft in der SPF bewiesen sei. In der Folge wurde Haftbefehl gegen sechs Männer erlassen, die daraufhin untertauchten.
Über Monate kam es immer wieder zu Festnahmen legal lebender anarchistischer AktivistInnen. Deren Haftbefehle, auf Grund von Fingerabdrücken in besagtem Haus, u.a. auf beweglichen Gegenständen wie Plastiktüten oder CDs, lagen auf Abruf bereit und konnten je nach Bedarf an „Fahndungserfolgen“ vollstreckt werden.
Zu sechs weiteren Festnahmen mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der SPF kam es im Dezember 2010 bei Razzien in Athen, Thessaloníki und dem westgriechischen Agrínio.
Hierbei wurde eine große Menge an Waffen beschlagnahmt. Am 13. Januar 2011 wurden vier Männer im Athener Stadtteil Vyronas verhaftet.
Einen Tag später erwischte es Fee Marie Meyer, eine 27-jährige Anarchistin mit deutschem Pass. Ihr Fall wirft ein exemplarisches Licht auf die Arbeit von Polizei und Massenmedien in Griechenland.
In hysterischem Tonfall verbreiteten Fernseh- und Radiostationen sowie fast alle Zeitungen ungeprüft den Polizeibericht über „die Verhaftung der 27-jährigen Tochter der per Haftbefehl gesuchten RAF-Terroristin Barbara Meyer“ und des „in Wien erschossenen Vaters und RAF-Terroristen Horst Meyer“. Nichts als Lügen! Fee Meyers Mutter lebt seit Jahrzehnten in Griechenland und trägt zufällig den gleichen Namen wie die einst im Zusammenhang mit der RAF gesuchte Frau. Diese wurde im Übrigen nie verurteilt und lebt unbehelligt in Deutschland.
Ebenso wie Fees Vater, der Wolfgang heißt und sich bester Gesundheit erfreut. Sowohl die in Untersuchungshaft sitzende Fee, als auch ihre beiden ebenfalls in der anarchistischen Bewegung aktiven Brüder und die Mutter erhoben in öffentlichen Stellungnahmen schwere Vorwürfe gegen Polizei und Presse.
Das RAF-Gefangenen-Syndrom
Wer in den 80er Jahren in der radikalen Linken oder autonomen Szene der BRD aktiv war, wird sich erinnern. Offene Kritik an der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) war verpönt, da damit den „gefangenen GenossInnen“ in den Rücken gefallen und der berechtigte Kampf gegen „das Schweinesystem“ geschwächt werde. AnarchistInnen und Autonome, die sich darüber hinwegsetzten, wurden als VerräterInnen denunziert.
Ein ähnliches Denken scheint nun in Griechenland zu dominieren. Obwohl die überwiegende Mehrheit der anarchistischen und antiautoritären Bewegung Aktionen wie das Versenden von Briefbomben ablehnt, gibt es meines Wissens keine öffentliche Stellungnahme gegen dieserart menschenverachtende Anschläge.
War es in den vergangenen Jahren recht bequem, sich beim Bier von den „Durchgeknallten der SPF“ abzugrenzen, gleichzeitig aber grinsend zu kommentieren, was wieder alles abgefackelt wurde, sollte sich diese billige Form der Kritik nun erledigt haben. Spätestens seit sich inhaftierte Mitglieder als „neue Strömung des Anarchismus“ bezeichnen und die SPF im Januar 2011, Bezug nehmend auf ein Schreiben der ominösen italienischen F.A.I. (Federatione Anarchica Informale) von 2003, zur Gründung eines „internationalen anarchistischen Netzwerks für die Aktion und die Solidarität – informelle anarchistische Föderation“ aufrief, gilt es den Wahnsinn zu stoppen.
Zitat: „Deshalb rufen wir zur Verstärkung des revolutionären Krieges auf, in allen Breiten- und Längengraden unserer Erde, von Europa bis Lateinamerika. Wir organisieren uns international und zielen auf den Feind. Wir können es nicht erwarten, bis wir die subversiven Elemente auf die Straßen strömen sehen und die Guerillagruppen wieder und wieder zuschlagen. Alle Mittel sind entfesselt und liegen ohne Tabus und Fetisch auf dem Tisch.
Auf den Demonstrationen zertrümmern wir die Schädel der Bullen, Banken werden ausgeraubt und den Flammen übergeben, Bomben lassen Regierungsgebäude in die Luft fliegen, Waffen exekutieren Politiker, Journalisten, Bullen, Richter sowie alle anderen Beschützer dieser Welt.“ (SPF, Dezember 2010)
Oder: „Was wir vorschlagen, ist der Aufbau eines internationalen Netzwerks von Gruppen, von Genossen, antiautoritär und chaotisch, mit horizontaler Struktur, offen für jeden, der handeln möchte, einzeln oder kollektiv, ohne politische Intrigen, so dass unser Wille, im Hier und Jetzt zu leben, Wirklichkeit wird. Jeder kann mit seinen Genossen und seinem Umfeld eine autonom agierende Zelle bilden, in der Ausgewogenheit zwischen der theoretischen Suche und der praktischen Ausführung besteht.
Über die Durchführung von Aktionen, egal welchen materiellen Schaden diese verursachen (von Sprühaktionen, der Verwüstung von Banken und Luxusläden, bis hin zu Bombenanschlägen, Brandstiftungen und Hinrichtungen von Vertretern des Staates), wird jede Zelle durch ihr Bekennerschreiben an einem offenen Dialog beteiligt sein, sowohl innerhalb des Netzwerks, als auch in einem weiter gefassten radikalen Umfeld.“ (SPF – Kommando Horst Fantazzini, Januar 2011)
Im selben Kommuniqué bezieht sich das Kommando positiv auf den „zielgerichteten Versand der Briefbomben unserer Geschwister der italienischen F.A.I. – Revolutionäre Zelle Lámbros Foúndas“ im Dezember 2010, durch die ein Mitarbeiter der chilenischen Botschaft – selbst aktiv in linken Initiativen – zwei Finger verloren hat.
Der Text liest sich wie das Konzentrat der gesammelten feuchten Träume aller Geheimdienstler dieser Welt. Die im Stillen agierende „EU-Task-Force anarchistischer Terrorismus“ wird sich die Finger lecken.
„Keine Solidarität mit den ‚anarchistischen‘ BriefbomberInnen“
Unter dieser Überschrift gab die Libertäre Aktion Winterthur (2) im Dezember 2010 eine sehr zu begrüßende Erklärung ab. Auch die drei inhaftierten Mitglieder der Stadtguerilla Revolutionärer Kampf aus Griechenland protestierten in einer Erklärung dagegen, dass die F.A.I. im Namen ihres erschossenen Genossen Foúndas solche Anschläge durchführte.
Das Versenden von Briefbomben zeugt von großer politischer Dummheit und reaktionärer Unmenschlichkeit. Eine solche Tat ist nie revolutionär, sondern Ausdruck hinterhältiger Feigheit und wurde in der Vergangenheit von faschistischen Organisationen oder staatlichen Geheimdiensten angewandt. Ob es sich bei der „Federazione Anarchica Informale“ (F.A.I.) überhaupt um eine anarchistische Gruppe handelt, wird von vielen bezweifelt.
Kaum zufällig trägt sie dasselbe Kürzel wie die Federazione Anarchica Italiana, die sich von ähnlichen Aktionen bereits 2003 schärfstens distanzierte und den Verdacht äußerte, es könnte sich bei der anderen „F.A.I.“ um eine staatliche Phantomorganisation handeln.
In der jüngeren italienischen Geschichte finden sich genügend Beispiele dafür, dass Attentate unter falscher Flagge durchgeführt wurden. Erinnert sei nur an den im Rahmen der „Strategie der Spannung“ staatlich in Auftrag gegebenen, von Faschisten verübten Bombenanschlag auf die Piazza Fontana 1969 in Mailand, der Anarchisten in die Schuhe geschoben wurde.
In Griechenland, dem EU-Versuchslabor einer Schockpolitik zur Enteignung und Entrechtung breiter Bevölkerungsteile auch in anderen Ländern, trägt die anarchistische Bewegung eine große Verantwortung.
Über vierzig inhaftierte GenossInnen und brutale staatliche Repression dürfen nicht zu Tunnelblick und falsch verstandener Solidarität führen.
Solidarität kann nie blinde Gefolgschaft bedeuten, sie schließt immer die offene Diskussion über angewendete Kampfformen und klare politische Kritik, auch an inhaftierten GenossInnen, mit ein. Es ist schwer, adäquat auf ein politisches und soziales Klima zu reagieren, dass uns als ausgebeutete und mitfühlende Menschen in die Verzweiflung treibt. Der angestaute Hass ist nachvollziehbar, darf jedoch nicht dazu führen, sich in überholte Illusionen der Propaganda der Tat zu retten und durch individuelle Gewaltakte die Gesellschaft ändern zu wollen.
Dies wird stärkere Repression und noch größere Hoffnungslosigkeit nach sich ziehen, nie den Aufstand der Massen.
Wer die Mittel der Bestie, gegen die er kämpft, übernimmt, wird ein Teil von ihr. Wenn es für uns AnarchistInnen etwas gibt, für das es wert ist zu kämpfen, dann ist es Leben, Freiheit und Würde.
(1) Die deutsche Ausgabe von Lily Zográfous Buch "Beruf: Hure", Kurzgeschichten aus der Zeit der Militärdiktatur 1967-74, erschien 2006 beim Verlag Edition AV in Lich
Veranstaltungshinweis
14.03., 20 Uhr, Exzess, Leipziger Straße, Frankfurt Bockenheim: Griechenland - Entwicklungen und Widerstandsperspektiven
Referent: Ralf Dreis