Liebe Freundinnen und Freunde, ich spreche zu euch als Historiker, weil ich davon überzeugt bin, dass die Fragen der Atomenergie nicht nur die Expertise von Ingenieuren, Physikern oder Geologen erfordern.
Was macht ein Historiker? Er beschäftigt sich mit dem kollektiven Gedächtnis einer Kultur. Ihr könnt auch sagen: Er fragt, ob vielleicht etwas Wichtiges vergessen wird.
Im Moment bereite ich eine Vorlesung über die Geschichte der Schrift vor. Die kühnsten unter meinen KollegInnen sagen, die Schrift ist 7.000 Jahre alt. Sie meinen damit grafische Zeichen, die man im Donauraum entdeckt hat. Kein Mensch kann diese „Schrift“ lesen; man kennt noch nicht einmal die Sprache, in der sie verfasst ist.
Aber 7.000 Jahre sind ein Klacks, wenn es um Atommüll geht!
Die Kenntnis davon, dass in irgendeinem Berg hunderttausende Tonnen stark strahlenden und hochtoxischen Mülls liegen, muss über zehntausende von Jahren sicher bewahrt bleiben. Als Historiker kann ich euch versichern, dass diese Aufgabe unlösbar ist. Wenn es jemals menschliche Hybris gegeben hat, also menschliche Selbstüberschätzung, dann hier. Wir handeln nach der Devise: „Nach uns die Sintflut!“
Das ist ein Verbrechen an der Menschheit.
Es ist nicht so, als hätte die Atomgemeinde dieses Problem ignoriert. In den 70er Jahren entwickelte der führende Atomphysiker und US-Präsidentenberater Alvin Weinberg den Plan, eine Art nuklearen Mönchsorden zu stiften, der das Wissen um die Gefahren hüten solle. Er hatte nämlich beobachtet, dass religiöse Orden zu den langlebigeren menschlichen Institutionen gehören. (1) Aber es hilft nichts.
Weder im Westen noch im Osten gibt es Orden, die z.B. bis in die Zeit der Pyramidenbauer zurückreichen. – Aber Orden: Das ist eine Lösung so recht nach Technokraten-Art: Ein elitärer Geheimbund mit dem nötigen technischen Wissen soll über unvorstellbare Zeiträume hinweg der Menschheit sagen, was sie nicht tun darf.
Fühlt ihr euch bei diesem Gedanken wohl?
Bei dem heute entstehenden unterirdischen Pilot-Atommüll-Lager in New Mexico verfolgen die US-Amerikaner eine andere Strategie: Sie wollen dort große Beton-Obelisken aufstellen, die in vielen heutigen Sprachen Warnungen enthalten und darüber hinaus Abbildungen von schmerzverzerrten menschlichen Gesichtern. (2) Das ist tatsächlich eine „pharaonische Lösung“. Die Eingänge zu den Pharaonengräbern waren übersät mit Warnhinweisen und Flüchen, die das unbefugte Betreten verhindern sollten. Bekanntlich hat gerade das Grabräuber angezogen wie das Licht die Motten.
Jede zusätzliche Tonne Atommüll verschärft dieses Problem, verschlimmert dieses beispiellose Hasardeurspiel mit der Zukunft der Menschheit!
Historiker sind aber nicht nur für das „Langzeit-Gedächtnis“, sondern auch für das „Kurzzeit-Gedächtnis“ einer Kultur zuständig, wenn ich so sagen darf. In diesem Sinne möchte ich heute eine Frage aufwerfen.
Unsere Bundeskanzlerin, Angela Merkel, hat vor elf Tagen vor dem Bundestag noch einmal ihre neue – und richtige! – Einsicht bekräftigt, dass „selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Atomkraft nicht beherrschbar“ seien. Schon im März hatte sie ja verkündet, man könne nicht so weitermachen wie bisher. Ihr wisst, was nach drei Monaten „Moratorium“ herausgekommen ist.
Wir alle – hunderttausende Menschen – haben Woche für Woche für einen sofortigen Atomausstieg gekämpft.
Die Stromkonzerne warfen ihre Wirtschaftsmacht in die andere Waagschale. Das Ergebnis ist sicher ein Teilerfolg, auch wenn die Gefahren des AKW-Betriebs (und die Atommüll-Produktion!) uns noch elf Jahre erhalten bleiben sollen.
Jedenfalls verkauft die Regierung uns dieses Ergebnis als „Atomausstieg“ und als „Energiewende“.
Aber wenn nach Fukushima bei Frau Merkel die Einsicht gereift ist, dass die Risiken der Atomkraft nicht beherrschbar sind, wieso gilt das dann nicht international? Wieso ist die Regierung außenpolitisch auf einem hundertprozentigen Pro-Atomkurs?
Ich will das an einigen Punkten zeigen.
Die Bundesregierung plant weiterhin, den Bau des Atomkraftwerks „Angra 3“ an der brasilianischen Atlantikküste mit einer milliardenschweren „Hermes-Bürgschaft“ zu fördern. Ich habe Anfang dieses Monats beim Bundesfinanzministerium nachgefragt und die Antwort erhalten, „das internationale nukleare Sicherheitsrecht“ solle „überprüft und dynamisch fortentwickelt werden“. (3) Das heißt nichts anderes als: „so weitermachen wie bisher“. Wie kommt die Bundesregierung darauf, dass eine Technik, die in einem Hochtechnologieland nicht beherrschbar ist, in Brasilien sicher sein könnte?
In Gronau betreibt der Urenco-Konzern eine Urananreicherungsanlage. Dort entsteht der Brennstoff für Atomkraftwerke in der ganzen Welt (auch in Japan). Wie kann eine Bundesregierung, die den Betrieb von Atomkraftwerken für nicht beherrschbar hält, eine solche Anlage noch dulden? Warum kommt die Urananreicherungsanlage in keinem Ausstiegsszenario vor? Und was tut die rot-grüne Landesregierung, um diesem Skandal abzuhelfen?
Im Mai dieses Jahres, zwei Monate nach Beginn der Fukushima-Katastrophe, beschloss der deutsche Atomkonzern RWE, bei dem niederländischen Atomkraftwerk „Borssele“ einzusteigen. Das Kraftwerk liegt in der Scheldemündung, in der Hauptwindrichtung liegt nach 40 Kilometern die Metropole Antwerpen, und nach weniger als 200 Kilometern – Aachen; im Falle eines Super-GAU die Garantie für extreme Strahlenverseuchung. Wieso kann das deutsche Recht einer deutschen Firma erlauben, im Ausland in eine Technik zu investieren, die man als gefährlich und unbeherrschbar erkannt hat? Was ist mit Artikel 14 (2) des Grundgesetzes, nach dem der Gebrauch von Eigentum „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll, und mit Abs. 3, wonach zur Förderung dieses Wohls auch eine Enteignung erlaubt ist?
Die Atomkonzerne, so lesen wir, bereiten jetzt Verfassungsklagen gegen die Ausstiegspläne vor, weil ihre Eigentumsrechte beeinträchtigt seien. In Wahrheit gehört die Frage auf den Prüfstand, ob diese Konzerne selbst mit dem Grundgesetz vereinbar sind! Ich habe da ernste Zweifel.
Die Bundesrepublik ist der drittgrößte Beitragszahler der UNO-Organisation IAEO. In deren Selbstdarstellung im Internet steht folgendes an erster Stelle: „Die IAEO fördert weltweit die friedliche Nutzung der Kernenergie.“ (4) Und das tut sie bekanntlich vor allem durch Leugnung und Vertuschung der Folgen von Reaktorkatastrophen, in Tschernobyl ebenso wie jetzt in Fukushima. Wie kann die Bundesregierung an eine solche Organisation jährlich 25 Millionen Euro Steuergelder überweisen, wenn sie die Risiken der Atomenergie als nicht beherrschbar erachtet?
Noch toller ist es mit dem europäischen Vertragswerk „Euratom“. Dort heißt es in der Präambel, man sei „entschlossen, die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen“.
Die Bundesregierung hat diesen Vertrag bis heute nicht gekündigt. Sie hat überhaupt nichts von dem getan, was auf internationaler Ebene getan werden müsste. Sie hat vor der Erkenntnis, dass die Risiken der Atomkraft nicht beherrschbar sind, versagt.
Als Historiker möchte ich aber zuletzt darauf hinweisen, dass es auch ein weltweites „Gedächtnis von unten“ gibt.
Als die Bauern und Winzer vom Kaiserstuhl 1975 den Bauplatz des geplanten Atomkraftwerks Wyhl besetzten, verhinderten sie nicht nur dieses spezielle AKW. Sie inspirierten u.a. auch zwei Aktivisten aus den USA, die gerade in Europa waren, die Technik der Bauplatzbesetzung zuhause einzuführen. Die US-amerikanische Regierung unter Richard Nixon hatte damals den ernsthaften Plan, in kurzer Zeit 1.000 Reaktorblöcke in den USA in Betrieb zu haben. Die Gruppe „Clamshell“ hat – mit dem „deutschen Knowhow“ der Platzbesetzungen – damals viel dazu beigetragen, diese Pläne zu stutzen – es blieb bei 132 Blöcken.
Wir müssen uns wieder klarwerden: Wir sind nicht allein. Und Atomkraftgegnerinnen und Atomkraftgegner in der ganzen Welt haben in den vergangenen Monaten auf Deutschland geschaut und aus unserem Protest Mut geschöpft. Vor einigen Tagen hat mir Sharon Tracey von „Clamshell“ geschrieben – und mit ihren Worten möchte ich enden und sie als Auftrag verstehen, den Politikerinnen und Politikern endlich die internationale Dimension unseres Atomausstiegs aufzuzwingen.
Sie schreibt: „Bitte lass die Leute in Deutschland, die so standhaft gegen die Atomkraft protestieren, wissen, dass euer Widerstand einen positiven Einfluss auf die Menschen und auf die Politik hier in den USA hat. Ich weiß, dass die atomkraftkritischen Menschen hier auf euch blicken, um Inspiration zu erlangen. Wenn die Titelseite unserer örtlichen Zeitung die Schlagzeile hat ‚Deutschland sagt Nein zur Atomkraft‘, dann erhebt das unsere Herzen!“
Ich danke euch!
(1) Autorengruppe des Projektes SARU an der Uni Bremen: Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie. 66 Erwiderungen. Berlin 1977, S.53.
(2) www.mentalfloss.com/blogs/archives/84797 (9.6.11)
(3) Email von Michael Leisinger, 7.6.11.
(4) www.wien-io.diplo.de/Vertretung/wienio/de/02/IAEO/text__IAEO.html