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Zärtliche Cousinen?

Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung

| Torsten Bewernitz

Was trennt eigentlich AnarchistInnen und MarxistInnen?

Eine Frage, die in Philippe Kellermanns Sammelband „Begegnungen feindlicher Brüder“ im Fokus zu stehen scheint.

Wenn etwa der Bakunin-Experte Wolfgang Eckhardt den Reigen mit dem „Klassiker“, dem Streit zwischen Marx und Bakunin, eröffnet und zu dem Fazit kommt, dass selbst die Bezeichnung „feindliche Brüder“ noch eine unhistorische Idyllisierung unvereinbarer Gegensätze sei, Jens Kastner die Anarchismusfeindlichkeit Antonio Gramscis unterstreicht, Gerhard Hanloser die historisch-materialistische Schicksalsgläubigkeit der deutschen Rätekommunisten betont oder der Herausgeber in seinem Beitrag über den syndikalistischen Schreibtischtäter George Sorel zumindest implizit Marx der „Eselei“ bezichtigt, so muss man meinen, hier soll schlicht Öl in die erlöschende Flamme gegossen werden. Aber das ist nicht Intention des Buches, wie man bald feststellt.

Am deutlichsten wird dies in den Beiträgen Robert Foltins und Karl Reitters. Foltins Ansatz einer Synthese von Anarchismus und Marxismus geht dabei vom Postoperaismus aus. Aus dieser Perspektive analysiert er theoretische Lücken des Anarchismus in Sachen Staat wie auch Arbeit und Kapital.

Reitters Ansatz geht noch weiter: Er schert sich nicht um ideologische Differenzen, sondern konzentriert sich darauf, Marx‘ Beitrag zur Staatskritik als Essenz des Anarchismus, zu referieren.

Beiträge dieser Art hätte man sich mehr gewünscht. Denn die „feindlichen Brüder“ müssen sich keineswegs begegnen, um einander „Rüstzeug“ für eine revolutionäre Praxis zu liefern.

AnarchistInnen dürfen antimarxistisch sein und bleiben, wenn sie dennoch die Marxsche Staatskritik zur Kenntnis nehmen. Viele TheoretikerInnen waren einer anarchistischen Theoriebildung in diesem Sinne nützlich.

Bei aller Anarchismusfeindlichkeit Gramscis sehen wir das z.B. in Jens Kastners Beitrag.

Den Nutzen marxistisch orientierter Methodik zur Einordnung von Anarchismen stellt beeindruckend – ein absoluter Highlight des Sammelbandes – Christoph Jünke in seiner Auseinandersetzung mit Wolfgang Harichs berühmter „Kritik der revolutionären Ungeduld“ dar. Ausgehend von einer antistalinistischen Kritik an Harichs Schrift gelingt Jünke eine materialistische Einordnung und Beurteilung des Anarchismus jenseits von Vorurteilen und Urteilen.

Die Geschichte ist nicht geprägt von den Streitigkeiten zwischen Anarchismus und Marxismus, dies anzunehmen, ist eine Selbstüberschätzung von beiden Seiten. Dass dieser Streit ein von IdeologInnen konstruierter Mythos ist, macht Antje Schrupp in der Kontrastierung der „feindlichen Brüder“ mit dem Feminismus sehr schön deutlich.

Eckhardt nennt am Ende seines Beitrags Verfechter „marxistisch-anarchistischer[r] Syntheseversuche der Gegenwart“ naiv, denn „sie ignorieren die Entwicklungsgeschichte des Sozialismus“. Aber vielleicht ist es genau diese Geschichtskenntnis, die eine „wirkliche Bewegung“ verhindert.

Vielleicht sollten wir einfach aufhören, uns mit Geschichte und historischen Differenzen zu beschäftigen, wenn die „wirkliche Bewegung“ von Wisconsin bis Shanghai und London bis Kairo stattfindet.

Marx hätte diese Bewegung im Sinne eines historischen Materialismus genau so bezeichnet, während Bakunin hingereist wäre und mitgekämpft hätte.

Vergessen wir doch einfach die ideologischen Polemiken – wie auch die „Opfer“ und „Märtyrer“, auf die sich eh‘ niemand berufen sollte – und prüfen wir erneut, was uns Schriften von Marx, Luxemburg oder Gramsci einerseits und Bakunin, Kropotkin, Goldman andererseits in der heutigen Realität nutzen können. So gelesen liefert Kellermanns Sammelband Ansätze, die es weiter zu verfolgen gilt.

Philippe Kellermann (Hg.): Begegnungen feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung. Unrast Verlag, Münster 2011, ISBN 978-3-89771-505-9, 196 Seiten, 14 Euro