Selten hat der globale Kapitalismus es so deutlich gezeigt wie in diesem Jahr, dass die Produktion von massenhaftem Elend das Fundament seiner Logik ist. Neben den großen Schauplätzen der Klassenkämpfe, z.B. in den südeuropäischen Metropolen oder in den USA, sollten wir den Blick kurz auf eine kleine Auseinandersetzung lenken, die Ende Oktober 2011 in England eskaliert ist.
Auf der „Dale Farm“ in dem Städtchen Basildon in Essex, östlich von London, lebte seit zehn Jahren eine Community sogenannter „Travellers“, Nomaden irischer Abstammung, auch als „Irish Gypsies“ bezeichnet. Mit bis zu 86 Familien war es die größte Travellers-Community in Europa.
Aber der Stadtrat von Basildon hatte beschlossen, diesen ‚Schandfleck‘ vor den Toren der Stadt abzuräumen, weil es sich um eine illegale Besetzung handelte. Schon im März dieses Jahres hatte man 8 Millionen Pfund für diese Räumung bereit gestellt – ein Drittel des Jahreshaushalts der Gemeinde. (1)
Am 19. Oktober rückten die Polizeikräfte mit Aufstandsbekämpfungs-Ausrüstung an und begannen, DemonstrantInnen, die zur Unterstützung der Travellers das Gelände blockierten, unter Einsatz von „Tasern“, also Elektroschock-Waffen, abzuräumen.
Nomaden und UnterstützerInnen (organisiert in der anarchistischen Dale Farm Solidarity) hatten sich an die zur Wagenburg umfunktionalisierte Siedlung festgekettet und ihre Arme einbetoniert, einige der Caravans wurden von ihren BesitzerInnen aus Verzweiflung und Protest in Brand gesteckt.
Am Morgen des 20. Oktober, dem zweiten Tag der Räumung, hatte die Polizei es noch nicht geschafft, das Eingangstor zu dem Gelände zu räumen, über dem ein hohes, von UnterstützerInnen besetztes Gerüst errichtet worden war. (2) Aber am Ende ging es ziemlich schnell: Schockiert von der Massivität des Einsatzes von Polizei und Gerichtsvollziehern, aber erhobenen Hauptes und als „one family“, verließen Traveller und Unterstützer am Abend des 20. Oktober das umkämpfte Gelände. (3)
Am 21.10. meldete die taz, dass bei der Räumung 34 Menschen festgenommen wurden: „Dabei handle es sich nicht um Bewohner des Lagers, sondern um Sympathisanten, die versucht hatten, die gerichtlich legitimierte Räumung zu verhindern, teilte die Polizei mit.“
Meine Heimatzeitung bringt die Dale-Farm-Räumung und den gewaltfreien Widerstand unter der reflexartigen, blödsinnigen Überschrift „Nomaden randalieren in England“. (4)
Aber sie steuert einen interessanten Aspekt zur Vorgeschichte bei. „Seit der großen Hungersnot 1845 in Irland, als Arbeiter und Hausbesitzer ihr Eigentum abtreten mussten, schlagen sich ihre Nachfahren auf der Straße durch.“
In Wirklichkeit ist die Entstehungsgeschichte der nomadischen Traveller wohl komplexer, aber sie hat in der Tat viel mit den frühkapitalistischen und kolonialistischen Verwüstungen Irlands im 19. Jh. (mit Vorläufern seit dem 17. Jh.) zu tun. Dass „Arbeiter und Hausbesitzer ihr Eigentum abtreten“ müssen, ist aber die weltweite massenhafte Erfahrung auch unserer Zeit.
Die Traveller zeigen uns nicht nur, dass der moderne Kapitalismus von Anfang an so funktionierte, sondern auch, wie vielfältig die Reaktionen seiner Opfer sein konnten.
Die Traveller sind jene, die nicht in den Slums der englischen Industriemetropolen abgesoffen sind, sondern einen eigenen Lebensentwurf über viele Generationen entwickelten. Kein Idyll; aber immerhin eine alternative Lebensform. Schon deshalb – weil sie zeigen, dass es auch anders geht – sind sie ein Gräuel in den Augen der Spießbürger ebenso wie in denen der Allianz aus Staat und Kapital. Aus demselben Grund verdienen sie unsere Solidarität.
(1) The Guardian, 25.3.2011; www.guardian.co.uk/society/2011/mar/25/dale-farm-travellers-eviction-basildon
(2) www.guardian.co.uk/uk/2011/oct/20/dale-farm-evictions-live. Vgl. außerdem den englischen Wikipedia-Artikel: en.wikipedia.org/wiki/Dale_Farm
(3) news.aol.co.uk/main-news/story/travellers-leave-dale-farm-site/1951677/
(4) Westdeutsche Zeitung, 20.10.2011, S.4.