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Eine unendliche Geschichte?

Der Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung

| Ismail Küpeli

Der Angriff der kurdischen PKK auf einen türkischen Militärposten im Grenzgebiet zum Irak am 19. Oktober 2011 und die anschließende Militäroffensive der türkischen Armee im Nordirak machten deutlich, dass die "Kurdenfrage" weit davon entfernt ist, gelöst zu werden. Dabei hatten einige begrenzte Reformen der moderat-islamischen AKP-Regierung Hoffnungen aufkommen lassen, die sich jedoch zerschlugen.

Die fortwährende Verweigerung, die Verhandlungsangebote der PKK überhaupt zu registrieren, und die andauernde repressive Bekämpfung ziviler kurdischer Akteure lassen darauf schließen, dass eine zivile und gerechte Konfliktüberwindung von Seiten des türkischen Staates nicht beabsichtigt ist.

Die „Kurdenfrage“ stellt die Türkische Republik als Nationalstaat in Frage und dies nicht erst seit heute.

Die Türkei, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches entstand, ist das Produkt eines „Befreiungskrieges“ (1919-1923), der mit zahlreichen Pogromen und Massenmorden an Minderheiten einherging. In zahlreichen Regionen hatten nicht-türkische Bevölkerungsgruppen die Mehrheit gestellt, bis dies durch Massaker und Umsiedlungen geändert wurde. Die türkische Staatsführung wollte aus dem „Überbleibsel“ des Osmanischen Reiches eine türkische Nation bilden und verfolgte dazu eine aggressive Türkisierungspolitik. Nach der Entstehung der Republik bedeutete diese Politik für alle Minderheiten die soziale und kulturelle Ausgrenzung, den Zwang zur Assimilierung und den ökonomischen Niedergang.

Ein zentrales Konzept der Türkisierungspolitik war die Schaffung von unterschiedlichen Staatsbürgerschaftsmodellen: Während in der türkischen Verfassung alle türkischen Staatsbürger als gleichberechtigt deklariert wurden und eine ethnische oder religiöse Differenzierung ausblieb, wurde in staatlichen Bestimmungen und Anordnungen zwischen türkischen Staatsbürgern (einschließlich der Minderheiten) und ethnisch und religiös definierten „echten“ Türken unterschieden. Staatliche Anordnungen legten fest, dass in vielen Sektoren nur noch „echte“ Türken arbeiten durften, was dazu führte, dass Angehörige der Minderheiten entlassen wurden.

In unterschiedlichen historischen Phasen existierten unterschiedliche „Hauptgegner“ des türkischen Staates. Nach dem Genozid an den Armeniern 1915 und der Vertreibung der „griechischen“ Bevölkerung im Zuge des türkischen „Befreiungskriegs“ stellten die Kurden das Haupthindernis für die türkische Homogenisierungspolitik dar.

Der Versuch des türkischen Staates, die kurdischen Regionen unter direkte Kontrolle zu bekommen, führte zu einer Reihe von Aufständen zwischen 1925 und 1938. Der Staat zerschlug die Aufstände durch den Einsatz massiver militärischer Gewalt, wobei es zu Massakern und Vertreibungen an der Zivilbevölkerung kam. Die fünf größeren Aufstände in diesen Jahren (der Scheich-Said-Aufstand 1925, die Ararat-Aufstände 1926, 1927 und 1930 und der Dersim-Aufstand 1937-1938) und die anschließenden Militäroffensiven und Massaker seitens des türkischen Staates übertrafen den türkischen „Befreiungskrieg“ (1919-1923) im Hinblick auf den Verlust von Menschenleben und auf finanzielle Ausgaben. Eine entsprechend intensive historische Aufarbeitung ist allerdings bis heute ausgeblieben.

Neben der militärischen Bekämpfung der Aufstände wurde eine Reihe von politischen Maßnahmen beschlossen, die weitere Aufstände verhindern sollten und gleichzeitig die staatliche Homogenisierungspolitik weiterentwickelten.

Bereits 1925, nach dem ersten Aufstand, wurde ein „Reformplan für den Osten“ von der türkischen Regierung beschlossen, wonach für die kurdischen Gebiete der Ausnahmezustand erklärt wurde, kurdische Staatsbedienstete entlassen wurden, nicht-türkische Sprachen verboten wurden und ein Teil der kurdischen Bevölkerung vertrieben wurde, damit sich an deren Stelle türkische Siedler niederlassen sollten.

Eine weitere Zuspitzung ist das „Ansiedlungsgesetz“ von 1934, das die Deportation und Umsiedlung von nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich Kurden, zur Folge hatte.

Das Gesetz teilte die Bevölkerung in der Türkei in drei Gruppen:

1. Türken, die der türkischen Kultur angehören und die türkische Sprache sprechen,

2. Staatsbürger, die zwar Türkisch sprechen, aber nicht der türkischen Kultur zugehörig sind,

3. Staatsbürger, die eine nicht-türkische Sprache sprechen und nicht der türkischen Kultur angehören. Die zweite und dritte Gruppe konnten umgesiedelt und/oder ausgebürgert werden.

Neben der kurdischen Bevölkerung trafen die Umsiedlungsmaßnahmen, die auch gewaltsam umgesetzt wurden, die nicht-muslimischen Minderheiten, so etwa türkische Juden und Armenier.

Nach der militärischen Niederschlagung der Aufstände und Ausschaltung der kurdischen Organisationen haben kurdische AkteurInnen in der Türkei auf den bewaffneten Kampf weitgehend verzichtet und ihre Interessen durch zivile politische Mittel zu erreichen versucht. Allerdings waren die Antworten des türkischen Staates auf diese zivilen Ansätze das Verbot von Organisationen und die Verhaftung der AktivistInnen. Der Staat bestritt die Existenz einer kurdischen Bevölkerung in der Türkei, was dazu führte, dass türkische HistorikerInnen, SozialwissenschaftlerInnen und LinguistInnen die KurdInnen zu einem „türkischen Stamm“ erklärten und die Existenz einer eigenständigen kurdischen Sprache leugneten.

Diese „Friedhofsruhe“ wurde dann Ende der 1970er Jahre mit der Entstehung von politischen Organisationen, die sich explizit als kurdische Akteure verstanden haben, durchbrochen. In den Kämpfen zwischen rivalisierenden kurdischen Gruppen setzte sich bis zum Militärputsch 1980 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unter Abdullah Öcalan durch. Während die meisten kurdischen Gruppen, ebenso wie viele türkische linke Gruppen, während der Militärdiktatur schnell zerschlagen worden waren, hatte die PKK diese Phase überlebt und nahm 1984 mit einer Reihe von Angriffen auf die türkische Armee den offenen bewaffneten Kampf auf. Seit dieser Zeit lässt sich die „Kurdenfrage“ in der Türkei nicht mehr von der PKK trennen. Hier schließt sich der Kreis zur Gegenwart.

Eine Lösung des gegenwärtigen Konflikts ist ohne eine Aufarbeitung der staatlichen Homogenisierungspolitik und eine Abkehr von der Vorstellung eines ethnisch homogenen türkischen Nationalstaates nicht möglich. Solange die grundlegenden Konfliktursachen bleiben, ist an einen nachhaltigen und gerechten Frieden in den kurdischen Gebieten nicht zu denken.