antifaschismus

Wen schützt der „Verfassungsschutz“?

Ein Plädoyer für seine Abschaffung

| Wolf-Dieter Narr, Peter Grottian

Am 18.12.2011 berichtete spiegel-online, dass der Thüringer "Verfassungsschutz" u.a. eine 1999 getätigte Geldzahlung von 2000 D-Mark an die Zwickauer Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) eingeräumt hat. Die Sozialwissenschaftler Peter Grottian und Wolf-Dieter Narr fordern im folgenden GWR-Artikel die Abschaffung der staatlichen Schnüffelbehörde (GWR-Red.).

Im Umkreis der Mordgruppe aus Thüringen, die sich vom national bornierten Heimatkuchen nährte, wurden in diesen Wochen und Monaten das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz kritisiert. Sie hätten sich als unfähig erwiesen, Brauanstalten reaktionärer, nationaler Gewalt über Jahre hinweg informationell ideologie- und personenfest zu machen. Damit sei es nicht dazu gekommen, die mörderischen Gewalttaten zu verhindern.

Wie zumeist, reagierten die zuständigen Instanzen bis zur Bundesregierung und Bundestag zum einen mit Schock- und Trauerbekundungen. Als sei in der Bundesrepublik der Schoß nicht fruchtbar noch, aus dem diese Gewalt kroch.

Zum anderen werden Kommissionen geschaffen und Sonderermittler eingesetzt. Und schließlich wird institutionell, möglicherweise auch rechtlich, reagiert, um die präventiven und repressiven Kapazitäten der dafür zahlreich auserkorenen Instanzen zu erhöhen.

Fast kein Gedanke daran, die sozialen Orte zu erkunden, die solche nationalen, gewaltträchtigen Fixierungen begünstigen, und wie sie demokratisch zurückgewonnen werden könnten. Nähme man Grundrechte ernst, käme es vielmehr darauf an, die Bedingungen von rechten Ressentiments und Gewalt trocken zu legen.

„Verfassungsschutz“ und freiheitlich demokratische Grundordnung

Von ihrem Anfang an, haben die führenden Instanzen der Bundesrepublik und ihre Vertreterinnen und Vertreter verkannt, dass Demokratie und dem gemäßes Verhalten der Bürgerinnen und Bürger gelernt und geübt werden, indem sie praktiziert werden. Learning by doing.

Stattdessen hob man schon im Parlamentarischen Rat, 1948/49, damit an – und setzte dies im „heißen“ Kalten Krieg mit seinem westdeutsch-ideologischen Antikommunismus fort -, Demokratie dadurch zu schützen, dass man sie einschränkt. Als könne man Bürgerinnen und Bürger im Helldunkel eines öffentlichen Geheimdienstes, genannt Verfassungsschutz, also mit undemokratischen Mitteln demokratisch machen.

Die Formeln der „streitbaren“ oder „wehrhaften“, „abwehrbereiten Demokratie“ wurden Fetischen gleich gehandelt.

Bis zum Bundesverfassungsgericht reicht die Fixierung auf das Verfassungskürzel, wahrhaft: eine drastisch verkürzte Demokratie, die „freiheitlich demokratische Grundordnung“.

Dieses verkürzte Demokratie- und Freiheitsverständnis, das auf „Feinde“ fixiert, hat die Innenpolitik der BRD von Anfang an feindlich aufgeladen.

Nach St. Just, dem Jakobiner der Französischen Revolution: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“

Die Hoffnung trog, dass die Wandel durch Dialog betreibende Ostpolitik, spätestens, aber die Wiedervereinigung einen entkrampfenden Demokratisierungsschub bewirken könnten. Statt politische Beteiligung zu mehren, wuchsen die diskriminierenden, Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit lähmenden Kompetenzen des administrativen „Verfassungsschutzes“ Zug um Zug.

„Verfassungsschutz“ konkret

Wir haben, inzwischen selbst bemooste Karpfen, am eigenen Leib und im Kopf gespürt, dass wir vom „Verfassungsschutz“ über Jahre überwacht worden sind.

Der eine (Narr) wurde wegen „radikal-demokratischer Erkenntnisse“ nicht auf einen Lehrstuhl an der TU Hannover berufen, obwohl die „Erkenntnisse“ eines radikalen Demokraten doch sehr würdig waren.

Der andere (Grottian) wurde über fünf Jahre vom Berliner „Verfassungsschutz“ wegen seiner Skandalisierung des Berliner Bankenskandals, ein Heiligtum des Kapitalismus, überwacht. An Hand der ausnahmsweise auszugsweise zugänglichen Akten des „Verfassungsschutzes“ ging unfreiwillig hervor: dass die Orthografie der Beobachter und ihre Beobachtungen unter aller Sau von Wahrheitsgehalten aufgeschrieben waren.

Bewusst dramatisierend verfasst, völlig unfähig zu begreifen, was vor sich ging.

Daran zeigte sich, wie bei vielen Observierungen und Einsätzen: selbst nach eigenen Maßstäben ineffizient, strukturell blind und schlicht demokratiegefährdend.

Das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz sind kein Ausdruck liberaldemokratischen Verfassungsverständnisses.

Statt andere freie und gleiche Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen, wird der Freiraum der Verfassung mit restriktiven Etiketten eingekastelt.

Das gedankenpolizeiliche Schnüffeln und Überprüfen bürokratisch beengten Blicks ist Ausdruck eines Misstrauens gegenüber der eigenen Fähigkeit zu demokratischer Öffentlichkeit und ihren notwendigen Konflikten. Nicht mit verdeckten Ermittlern und meinungspolizeilich repressiven Benotungen, Ausgrenzungen und drohenden Vereins- und vor allem Parteiverboten schafft und erhält man eine kritische bürgerliche Öffentlichkeit.

Man schafft allenfalls eine dauernde politische Doppelmoral und sorgt für halb geschlossene Räume, Ortschaften, Stadtteile, in die sich andere Bürgerinnen und Bürger nicht mehr trauen.

Grundrechtliche Kosten

Erfasste und summierte man die demokratisch grundrechtlichen Kosten des sogenannt administrativen Verfassungsschutzes seit Beginn der 50er Jahre, dann entdeckte man: Dieser amtliche, auf einen engen Staatsbegriff fixierte Verfassungsschutz ist geradezu durchgehend kontraproduktiv.

Das reicht von den Hunderttausenden von Berufsverbotsverfahren Betroffenen der 70er Jahre über die V-Männer in der NPD, bis zu den brennenden Autos in Berlin und Hamburg, wo der „Verfassungsschutz“ ohne Erkenntnisse seine „Erkenntnisse“ zur „Gefahrendiagnose“ hochjubelte.

Wollte man tatsächlich wissen, was Bürgerinnen und Bürger bewegt, teilweise gewiss sehr problematisch „feindlich“ gegenüber Anderen, AusländerInnen zumal, dann müsste man nicht nur endlich daran gehen, entgegen dem Integrationsgeschwätze, staatsbürgerliche und politisch beteiligte Gleichberechtigung zu schaffen. Das wurde über zwei Generationen versäumt.

Dann müsste man vor allem die Parteien und andere vermittelnde Organisationen demokratisierend dazu instand setzen, zu wissen, was ihre Mitglieder, Wählerinnen und Nichtmitglieder umtreibt. Gute Wissenschaftler/innen, tolle investigative Journalist/innen und verschiedenste Initiativen gegen Rechtsextremismus wissen doch jetzt schon ein Mehrfaches von dem, was der „Verfassungsschutz“ weiß. Es gibt keinen gesellschaftlichen Bedarf an dem scheinseriösen Unsinn, der in der Regel aus dieser Behörde quillt.

Nein! Die Verfassung einer liberalen Demokratie wird durch eine geheimdienstlich angereicherte, informationelle Bürokratie nicht geschützt. Das verhindert die Kontrolllogik einer gesonderten Bürgerüberwachungsbehörde und ihres magersüchtigen Demokratieverständnisses.

Ja! Wem die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland etwas wert ist, vielfach globalisierungsgefährdet, wie sie ist, der und die müssen auf eine demokratisierende Fundierung liberaler Demokratie setzen. Sie schützen dann die Verfassung, indem sie stimmenreich und im Anders Denkende nicht ausschließenden Streit, tatsächlich mehr Demokratie wagen.

Sie trachteten nimmer danach, das Selbstbewusstsein der Bürger und Bürgerinnen zu unterspülen.

Wenn doch einmal ein Bundesinnenminister a. D. oder ein Landesinnenminister a. D. erklären könnte, vor welchen Gefahren des Extremismus der „Verfassungsschutz“ die Bevölkerung gerettet hätte, dann könnten wir streiten.

Aber die Schilys, Schäubles, Zimmermanns, Körtings und Becksteins könnten vermutlich nicht eine wirkliche, essentielle Rettung aus einer Gefährdung der Republik nennen, die der „Verfassungsschutz“ zuvörderst auf sein Konto buchen könnte. Der „Verfassungsschutz“ und eine lebendige, angstfreie, selbstbewusste Demokratie passen nicht zusammen. Der „Verfassungsschutz“ ist wegen demokratischer Unfähigkeit abzuschaffen.

Anmerkungen

Peter Grottian (* 1942) ist aktiv u.a. im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Er war bis 2007 Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin.

Wolf-Dieter Narr (* 1937) war bis 2002 Professor für empirische Theorie der Politik am OSI. Er ist Mitgründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie und seit 2002 GWR-Autor.