kultur

„Diese Liebe, die wie ein Kind im Dunkeln zittert vor Angst, macht anderen Angst“

Jacques Prévert war zutiefst subversiv, radikal frei und gründlich anarchisch

| Jorinde Reznikoff und KP Flügel

Der libertäre französische Lyriker Jacques Prévert (1900 - 1977) wird auch heute noch in vielen Schulen im Unterricht besprochen. "Die zahlreichen politisch motivierten Gedichte Préverts, z.B. gegen den Militarismus, die Kirche und die bürgerlichen Konventionen, sind inzwischen kommentierungsbedürftige Zeitdokumente geworden", behauptet Wikipedia. Von ihrer Spurensuche in Frankreich berichten die GWR-AutorInnen Jorinde Reznikoff und KP Flügel. (GWR-Red.)

Mit Jacques Prévert werden vergilbte Fotos eines gemütlich an einem Bistrotisch vor einem Gläschen Rouge sitzenden Künstlers assoziiert, mit obligatorischer Zigarette im Mundwinkel – der Inbegriff des Pariser Bohémiens.

Als geborener Flaneur im Baudelaire’schen und prosituationistischen Geist kannte, liebte, schilderte und besang er tatsächlich jeden Winkel von Paris und inkarnierte diese Stadt der Auf- und Durchbrüche mit konstantem Recht und unverblümtem Tiefgang, diese viel behoffte Stadt der Liebe – „unsere Liebe bleibt da, dickköpfig wie ein Maultier“ (1).

Seine LandesgenossInnen werden sich noch an den einen oder anderen Textfetzen aus der Schulzeit erinnern, Zeilen von Liedern, „qui nous ressemblent“ („die uns ähnlich sehen“) (2) und die älteren unter ihnen den einen oder anderen Filmdialogschnipsel – „Paris est tout petit pour ceux qui s’aiment comme nous d’un aussi grand amour“ („Paris ist winzig für solche wie uns, welche sich mit einer so großen Liebe lieben“) (3).

Ach, das ist von Prévert?!

Stimmt, Sätze mit Ohrwurmpotential wie diese haben sich von ihrem Urheber lösen dürfen, sind frei und für alle da. Ganz im Sinne ihres Zauberers, denn für den war Popularität als Zugänglichkeit im positiv-humanistischen Verständnis ein hoher Wert.

Freiheit, Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Humor sind das Zentrum seines Lebens und Werkes, Liebe und Freundschaft über alle Klippen hinweg das Herz. So sind neben den Drehbüchern die meisten aphoristisch konzipierten Texte und Gedichte Préverts an Freunde geschriebene Gelegenheitstexte, wie uns gegenüber Anne Remlinger, die Verantwortliche der Nachlassverwaltung „Fatras“, betonte.

Ganz im Geiste Préverts begegneten wir ihr unvorhergesehen anlässlich unseres Besuchs in der Fond’action Boris Vian (vgl. GWR 366, S. 17): Jacques Prévert war seit 1955 Vians Nachbar in der Cité Véron, den ehemaligen Theaterlogen des Moulin Rouge, gewesen. Sie waren Freunde.

„Erst auf Betreiben des Verlegers René Bertele ist eine Auswahl dieser Texte 1945 unter dem Titel ,Paroles‘ erschienen. Dieses Büchlein war ein regelrechtes Verlegerphänomen in Frankreich, noch nie zuvor hatten sich lyrische Texte so gut verkauft. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, allerdings nie vollständig ins Deutsche. Jedenfalls machte es Jacques Prévert einem sehr breiten Publikum bekannt.“

Paradoxerweise verstellte gerade Préverts großzügige Verständlichkeit und Prätentionslosigkeit den Blick auf seine Schärfe, Subversivität und Komplexität. Daraus erklärt sich, dass er, von schulisch pädagogischen Zielsetzungen abgesehen, vom universitären Milieu noch immer gemieden und von „Intellektuellen“ geflissentlich übersehen wird.

Dabei wirft der Entstehungs- und Rezeptionskontext dieses Bestsellers ein Licht auf Préverts seismographische Delikatesse und Raffinesse. Auf unsere Frage nämlich, ob solche kurzen zärtlich-bissigen Humor mit subtiler Ernsthaftigkeit verbindenden Texte nicht den Bedürfnissen der Menschen am Ende des Zweiten Weltkrieges entgegen gekommen seien, bestätigte uns Anne Remlinger: „Die Texte stammten großteils aus den Dreißiger Jahren, waren also nicht direkt in der Kriegszeit entstanden. Doch reflektierten sie das spürbare Aufkommen des Faschismus und die sozialen Ungerechtigkeiten.“

Seine Zeilen vermochten die Menschen in ihrer Wachsamkeit sowie ihrer Hoffnung und ihrem Glauben an fundamentale menschliche Werte, Eigenschaften und Emotionen zu stärken. Jacques Prévert liebte die Menschen, vor allem die „kleinen“. Und gerade deshalb war er ihr schärfster Beobachter und Kritiker.

Wenn er während des Krieges nicht direkt politisch und öffentlich Stellung bezog, zeugte das nicht von Desinteresse, sondern reflektierte seine zutiefst subversive, radikal freie und gründlich anarchische Veranlagung und Gesinnung.

Während der Besatzungszeit hielt sich Prévert vornehmlich im Süden auf, filmte unter anderem „Die Kinder des Olymp“, versammelte dort seine Freunde. Er versteckte jüdische Freunde, insbesondere den berühmten Komponisten Joseph Kosma („Feuilles mortes“) und den jüdischen Szenenbildner Alexander Trauner.

„Diese ganze Geschichte ist bis heute kaum erforscht. Wir haben mit Entsetzen festgestellt, dass bis heute die Erben von Maurice Thiriet, der als Kosmas nichtjüdischer Assistent alle Rechte für dessen Musik ersatzweise innehielt, Kosmas Filmtantiemen einkassieren. Hier steht die Rehabilitation noch aus.“ Das Problem sei nur, dass sich niemand für zuständig erkläre.

Als rehabilitationsbedürftig erweisen sich auch die surrealistischen Arbeiten Préverts, welche sich durch sein ganzes Schaffen hindurch – von den Dreißiger Jahren bis in seine Spätzeit in der Cité Véron – verfolgen lassen. Beim Besuch seines Apartments überraschten und beeindruckten uns besonders seine Collagen und Montagen, die in ihrer witzigen-scharfen Präzision und abgründig-phantastischen Poesie seinen Texten ebenbürtig sind und auch auf sie eine ungewohnt surrealistische Perspektive werfen.

Ihren Ursprung nahm letztere in den Dreißiger Jahren in der „Rue du château“, in der Prévert mit dem surrealistischen Maler Yves Tanguy und dem Erfinder des französischen Kriminalromans, der série noire, Marcel Duhamel wohnte – in freundschaftlicher Konkurrenz zu André Breton und seiner Surrealisten-Gruppe, mit dem sich Prévert literarisch, aber nicht persönlich, überwarf. Prévert hatte einen auf Breton gemünzten Text „Mort d’un Monsieur“/“Tod eines Herrn“ veröffentlicht, in welchem er dessen Autoritarismus und Dogmatismus aufs Korn nahm.

Prévert war antiklerikal, gegen jede Form von Herrschaft, Gewalt und Ungerechtigkeit, und äußerte sich dementsprechend in einer sich Klassifizierungen und Vereinnahmungen entziehenden Weise. Dem Anschein nach leicht und lustig, doch letztlich tief ernst und rebellisch.

Dieses Engagement zeigte sich in seiner Beteiligung am Arbeitertheater der Groupe d’Octobre, am Kreis der rebellischen LebenskünstlerInnen und -denkerInnen von St. Germain-des-Prés, des Mai 68 sowie seiner bereitwilligen Unterstützung junger KünstlerInnen an seinem Lebensende.

Prévert war zu sehr anarchischer Natur, um explizit irgendeiner Gruppe zuzugehören.

Wenn es ein Etikett gibt, welches er wohl in seiner murmelnden Weise bewilligt hätte, dann das des Freundes. Und ein Freund bleibt er seinen LeserInnen bis heute. „… Liebe, ich flehe dich an, für dich, für mich, für alle, die sich lieben und geliebt haben, ja ich schreie dich an, für dich, für mich und alle anderen, die ich nicht kenne, bleib da – da, wo du bist…“ (4)

(1) Jacques Prévert, Cet amour, Paroles, Gallimard 1949, 140-142

(2) J.P., Les feuilles mortes

(3) J.P. und Marcel Carné, "Die Kinder des Olymp", Frédéric zu Garance

(4) Jacques Prévert, Cet amour, Paroles, Gallimard 1949, 140-142