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„Newo Ziro – Neue Zeit“

Ein Film, der einfühlsam aus der Graswurzelperspektive vier Sinti und die Erben Django Reinhardts portraitiert: "Musik ist unsere Sprache. Musik ist Freiheit"

| Horst Blume

"Newo Ziro - Neue Zeit", Dokumentarfilm von Robert Krieg und Monika Nolte, 84 Min. HD, Deutschland 2012

Früher stand am „Deutschen Eck“ das monumentale Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I. in hochherrschaftlicher Pose, um an die Reichsgründung zu erinnern. Die an der Mündung der Mosel in den Rhein protzig zur Schau gestellte Verkörperung militärischen Großmachtstrebens wurde später zerstört und 1990 in Erinnerung an die „Wiedervereinigung“ erneuert.

Hier befindet sich heute das Bundesgartenschaugelände von Koblenz, wo ganze Heerscharen kaffeetrinkender und mampfender GermanInnen in deutscher Gemütlichkeit ihren Tagesausflug absolvieren.

Gleich nebenan leben seit mehreren Generationen Sinti und Roma ein ganz anderes Leben.

Die FilmemacherInnen Monika Nolte und Robert Krieg zeigen diesen Kontrast in einer eindrucksvollen Szene: Im Talhintergrund befindet sich die ebenso bekannte wie zweifelhafte Postkartenidylle mit dem Rhein-Mosel-Eck. Im Vordergrund gibt auf einem Berg windumweht das „Lulo Reinhardt Projekt“ des Django Reinhardt-Großneffen mit seinen Instrumenten ein Crossover zum Besten.

In diesem Film ist Musik!

Traditioneller Gypsy-Swing einerseits und seine kreative Weiterentwicklung und Veränderung andererseits sind die beiden Grundtöne, die die unterschiedlichen Seiten, Erfahrungen und Lebenseinstellungen der Koblenzer Sintigemeinschaft anklingen lassen.

In wechselnder Szenenfolge gruppieren sich vier Hauptportraits von Koblenzer Sintis um das zentrale Geschehen auf dem jährlich stattfindenden Musikfest „Djangos Erben“.

Bawo Reinhardt, Vater von Lulo, singt unter Beifall auf der Bühne mit rauer, trauriger Stimme über die immer noch aktiven Schattenseiten aus der Vergangenheit:

„Wer versteht uns, wer glaubt uns?
Warum sind wir noch hier?
Warum mögen uns die Leute nicht?
Jeder braucht doch ein paar Freunde!
Warum geht das nicht mit uns?“

Die 13jährige Sibel Mercan und ihr Onkel Lulo Reinhardt besuchen einen alten, inzwischen zugewachsenen Lagerplatz in der Nähe des Rheins, wo Lulo und seine Verwandtschaft in der Natur und mit Pferden ein weitgehend freies Leben führen konnten, bis sie von dort vertrieben wurden. Die kalte, dunkle Notunterkunft „Feste Franz“, in der die Sintifamilien schon während der Nazi-Zeit und bis 1950 zwangsweise einquartiert wurden, blieb hingegen in schlechter Erinnerung.

Heute leben viele Sinti im Stadtteil Koblenz-Asterstein in einer bescheidenen Siedlung.

Einige Wohnwagen stehen in den Einfahrten. Viele fühlen sich hier trotzdem wohl, pflegen ihre Gemeinschaft. Einige hängen Deutschlandflaggen an ihre Häuser. Hierüber schüttelt der 70jährige Auschwitz-Überlebende Bawo Reinhardt nur den Kopf und denkt an die ermordeten Sinti und Roma im KZ. Die deutsche Nationalhymne mag er ebenfalls nicht hören. Als Kleinkind wurde ihm die Häftlingsnummer in den Arm tätowiert. In zunehmendem Alter kommen die schrecklichen Erinnerungen wieder und plagen ihn. Trotzdem lässt er sich nicht hängen und unterrichtet als „gute Seele“ der Siedlung Jugendliche und Kinder in Romanes, damit sie trotz ihrer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft nicht den Bezug zu ihrer Identität als Sinti verlieren.

„Wovon lebst Du?“ wurde Bawo Reinhardt von anderen Deutschen immer wieder misstrauisch gefragt und beklagt ihre Doppelmoral. Wenn man Geschäfte macht oder als Anbieter von Waren andere Menschen anspricht, dann wird man normalerweise als „Vertreter“ bezeichnet. Ein Sinti oder Roma ist nach Ansicht von Teilen der Mehrheitsgesellschaft ein „Hausierer“ – nein schlimmer, der Zigeuner bettelt! In der hintergründigen Szene mit Sascha Reinhardt als vorweihnachtlichem Verkäufer der beliebten „deutschen Edeltanne“ bleiben die zwischenmenschlichen Begegnungen zwischen Verkäufer und Käufer kurz und oberflächlich.

Sintikinder werden schon früh in der Schule als „schlecht“ und „schwierig“ aussortiert und bleiben oft chancenlos. Sie haben nach Ansicht einiger älterer Sinti keine andere Möglichkeit, als in ihre Fußstapfen zu steigen und „Geschäfte“ zu machen, Handel zu betreiben, sich irgendwie durchzuschlagen.

Widerlegt wird diese Meinung durch den 50jährigen Musiker Lulo und seine 13jährige Nichte Sibel, die als Klassenbeste aufs Gymnasium geht, leidenschaftlich gerne Fußball spielt – und Kung Fu praktiziert, mit drei Gürteln als Leistungsnachweis. Die zwischen verschiedenen Kulturen wandernde Sibel bringt ihr Lebensgefühl auf den Punkt: „Vom Sindh bis an den Rhein war es ein langer Weg. Heute ist unsere Heimat hier. NEWO ZIRO heißt NEUE ZEIT. Wie wird unsere Zukunft aussehen?“

In bewegenden Bildern zeigen die FilmemacherInnen, wie das Mädchen auf dem Fußballplatz und in der Sporthalle spielerisch über sich hinauswächst.

Und falls in Zukunft ihr gegenüber ein Rassist oder Sexist frech werden würde, dann würde sie sich zu wehren wissen.

Allerdings: Die strengen traditionellen Vorstellungen der Sinti verlangen von ihr, in ein- oder zwei Jahren mit dem Fußballspielen aufzuhören, einen Rock zu tragen und eine althergebrachte Frauenrolle einzunehmen. Im Film akzeptiert die Dreizehnjährige dies noch mit leichtem Bedauern. Wird sie dies in Zukunft auch so sehen?

In den Gesprächen mit ihrem Onkel Lulo vergewissert sich Sibel ihrer Sinti-Wurzeln. Ihre Vorfahren lebten vor etwa 800 Jahren im Sindh, dem heutigen Pakistan. Auf ihren Wanderungen nach Mitteleuropa kamen sie mit vielen unterschiedlichen Kulturen in Berührung und übernahmen Teile davon.

Da Lulo nicht bei der typischen „Gypsy-Musik“ stehen bleiben wollte, sondern seine eigene Musik spielen will, kaufte er eine spanische Gitarre und wandte sich unter anderem dem Flamenco zu. Er knüpfte damit an die Musik der weitläufigen Verwandtschaft an.

Anoushka Shankar und Dotschy Rheinhardt haben aktuell mit ihren neuen CDs ebenfalls auf die Verbindungslinien zwischen indischer- und Flamencomusik aufmerksam gemacht. Für den Gitarristen Lulo eröffnet seine Musik nicht nur neue Möglichkeiten in der Ausdrucksform, sondern ebenfalls die Freiheit, sich zeitweise von seinen familiären Bindungen zu entfernen, auf Weltreisen zu gehen und ganz andere Einflüsse beispielsweise aus Lateinamerika zu verarbeiten. Indem er seinen eigenen Stil findet, unterscheidet er sich von traditionellen Sintimusikern, bei denen jeder mit jedem Variationen des Immergleichen spielt. So ein Freigeist irritiert die Leute zuhause, eröffnet aber auch die Möglichkeit für sich selbst, von seiner Musik als vielseitiger und erfolgreicher Gitarrist zu leben.

Immer wieder werden in diesem atmosphärisch dichten Film mitreißende Szenen vom Sinti-Musikfest am Deutschen Eck gezeigt. Das Publikum ist gemischt. Im Film kunstvoll eingefügt befinden sich zwischen längeren Gesprächen und Einstellungen viele Momentaufnahmen von Einzelnen oder kleinen Gruppen. In diesen Miniaturen gelingt es, innige Augenblicke der Glückseeligkeit und Ausgelassenheit in intensiver Bildsprache einzufangen. Sie bleiben im Gedächtnis der ZuschauerInnen haften und kontrastieren so manche triste Realität des Sinti-Lebens.

In Gesprächen werden die unterschiedlichen Erfahrungen und persönlichen Sichtweisen der einzelnen Personen zu intimen Portraits aneinandergefügt. Wir erfahren bisher weitgehend unbekannte Details über das Leben der Sinti. Geradezu libertär ist ihr Brauch in Eigentumsfragen, in dem der Nachlass von Toten verbrannt wird, anstatt Gegenstand von unerquicklichen Erbschaftsstreitigkeiten zu werden. Dafür gibt es dann Ärger mit der deutschen Polizei.

Die grundlegende Frage, wie weit sich die Sinti der Mehrheitsgesellschaft öffnen sollten, ohne dabei ihre Identität zu verlieren, schwingt in diesem Film immer mit. Die Antworten fallen unterschiedlich und sehr persönlich aus. Trotzdem ist es ein hochpolitischer Film, nicht nur aufgrund der Geschichte. Roma und Sinti wurden in der Nazizeit entrechtet, verfolgt und systematisch ermordet.

Dem Völkermord fielen 500.000 Sinti und Roma zum Opfer

Heute sind die Abschiebungen von Roma in das Kosovo, die unverschämte Hetze der Schweizer Zeitung „Weltwoche“ gegen Roma vor ein paar Wochen und die ressentimentgeladenen Ermittlungen der deutschen Polizei im Mordfall Kiesewetter gegen das „Zigeunermilieu“, aber nicht gegen neofaschistische TerroristInnen, bittere Realität. Dies ist der richtige Film zur rechten Zeit.