"Es ist besser, sich zu irren und niemanden umzubringen,
als recht zu haben auf einem Berg von Leichen" (Albert Camus)
Der folgende Text von Henning Melber (1) wurde im August 2012 im Deutschen Hörfunkprogramm des namibischen staatlichen Rundfunks gesendet. (GWR-Red.)
Der österreichische Dichter Erich Fried mahnte einst durch die folgenden Zeilen, dass uns Vergessen oder Nachlässigkeit zu Mittätern macht:
Tote Menschen sind tote Menschen
wer immer sie waren.
Wer nicht nachfragt
wie Menschen sterben
der hilft sie töten.
Namibia des 21. Jahrhunderts muss sich der Auseinandersetzung mit solchen Herausforderungen gleich in mehrfacher Hinsicht stellen. Sie mögen auf den ersten Blick keinen direkten Zusammenhang erkennen lassen. Sie sind jedoch untrennbar damit verbunden, wie wir uns zu einer Geschichte der Gewalt in der Gegenwart verhalten.
„Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen“, mahnte der US-amerikanische Schriftsteller William Faulkner. Anders ausgedrückt: Wir haben noch jede Menge Leichen im Keller. Und wir werden daran nicht nur durch Schädel erinnert, die als ehemalige Kriegsbeute aus den Asservatenkammern deutscher Institute über ein Jahrhundert später nach Namibia rücküberführt werden.
Im Sinne eines deutlich weiter gefassten Verständnisses von Geschichte, das über einzelne Zeitphasen bewusst hinaus reicht, agierte seinerzeit die sogenannte Reiterdenkmal-Initiative. Sie formierte sich wenige Jahre nach der Unabhängigkeit zu Mitte der 1990er Jahre unter den Deutschsprachigen im Lande, um das koloniale Relikt des Schutztruppenreiterstandbildes zeitgemäß zu ergänzen.
Nach längerer Diskussion entschieden sich die Initiatoren für eine scheinbar vage Inschrift auf der Tafel, die sie auf einem Gedenkstein in unmittelbarer Nachbarschaft zum Monument anbringen wollten. Diese sollte an alle Opfer seit der Kolonisierung des Landes erinnern und ihnen gedenken.
Manchen KritikerInnen schien dies eine Verharmlosung der deutschen Kolonialherrschaft und eine Respektlosigkeit gegenüber der kolonisierten afrikanischen Bevölkerung zu sein, die in den südlichen, mittleren und östlichen Landesteilen den Widerstand gegen die Besiedlung durch Europäer mit ihrer Vertreibung oder dem Tod bezahlen musste.
Doch was die Einen als Verharmlosung empfanden, wurde von Anderen als die radikalste aller möglichen Aussagen gewertet. Nämlich die Zurückweisung jeglicher Form von Gewalt und dadurch begangenem Unrecht – keinesfalls nur begrenzt auf eine bestimmte Epoche in der Landesgeschichte. Was als vage empfunden werden konnte, schließt eben gerade auch Gewalt und Unrecht in vielen anderen Formen ein, denen sich nicht gestellt wird. So besehen war dies die auch zeitlich am weitest reichende Form von Erinnerung an die Verletzung von Menschenrechten im Schatten des deutschen Kolonialreiters.
Nicht ganz zufällig scheiterte dieser Versuch von Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit, sich im neuen demokratischen Staat Namibia sichtbar loyal und zukunftsorientiert zu verhalten. Dabei war es nicht nur eine kleine aber lautstarke Zahl Deutschsprachiger, die gegen diese Initiative agierte. Für diese war dies eine Verunglimpfung des deutschen Erbes und seiner zivilisatorischen Errungenschaften. Auch unter den zuständigen Offiziellen und den politischen Machthabern fand sich willige Zurückhaltung gegenüber der Maßnahme, die zehnjährigem Tauziehen offiziell abgelehnt wurde.
Dies war wohl eine kaum bewusste Solidarität unter Jenen, denen eine Verdrängung näher lag als die Bewältigungsarbeit.
Ihnen war selbstkritisches Engagement zur Standortsuche und -bestimmung im demokratischen Staat eher ungelegen und unbequem. Schließlich enthält solch Engagement, das sich der historischen Hypothek zu stellen versucht, eine nicht zu kontrollierende Dynamik.
Sie hätte ja Vorbildfunktion für so manch andere Erkundung sein können. Herrschende sind an solchen Expeditionen in die Geschichte nur selten interessiert, da diese oftmals damit enden, Herrschaftsformen und deren Folgen zu hinterfragen.
Denn ebenso kontrovers, emotional, sowie psychologisch und ideologisch befrachtet wie der Umgang mit deutscher Kolonialgeschichte und ihrer Folgen ist auch die (Nicht-)Befassung mit anderen Gewaltepisoden in der Geschichte des Landes. Das gilt nicht nur für die gezielte Erinnerungspolitik als Teil der patriotischen Mystifizierung des Befreiungskampfes, wie sie sich im Falle der jährlichen Feiertage in Erinnerung des Widerstands gegen die Zwangsumsiedlung von der Alten Werft 1959, des ersten Gefechts von Ongulumbashe 1966 sowie dem Trauma Kassingas von 1978 manifestiert [vgl. GWR 351].
Es gilt auch in gegensätzlicher Form für die Tabuisierung und Verdrängung der SWAPO-Opfer im Exil. Als sogenannte Ex-Gefangene haben einige hundert unter ihnen im Gegensatz zu Tausenden ihrer LeidensgenossInnen die Tortur durch die eigene Befreiungsbewegung überlebt. Doch bis zum heutigen Tage bleiben sie stigmatisiert und bemühen sich vergeblich um ihre Rehabilitierung und eine Entschuldigung für die an ihnen begangenen Verbrechen. Viele von ihnen sind den Rest ihres Lebens traumatisiert.
In allen diesen und vielen anderen Fällen haben wir es mit Gefühlsverhärtungen zu tun. Sie deuten auf einen selektiven Umgang und ein gestörtes Verhältnis zu Gewaltereignissen in der namibischen Geschichte. Diese werden zu unterschiedlichen Zwecken instrumentalisiert, ignoriert oder einfach verharmlosend abgetan. Eine kollektive Trauer, die Täter und Opfer beziehungsweise deren Nachfahren im Versuch zur nachträglichen Überwindung des Verlusts von Menschlichkeit der Beteiligten während der Ereignisse zusammen führt findet nicht statt.
Das Nebeneinander ähnelt weiterhin eher einem Gegeneinander als einem Miteinander.
Die von den Psychologen Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 diagnostizierte kollektive „Unfähigkeit zu trauern“ ist somit keinesfalls nur ein auf die Aufarbeitung der Nazi-Diktatur begrenztes deutsches Phänomen.
„Die Welt hat den Sinn, den man ihr gibt“, stellte der radikale Humanist Albert Camus in seinem Werk „Der Mensch in der Revolte“ fest. Wie der vom Holocaust nachhaltig geprägte Erich Fried verwarf er aufgrund seiner Erfahrungen in der französischen Resistance jegliche Form der Gewalt als Entmenschlichung. Seit 1948 führten die ersten Nachrichten über den Gulag unter dem autoritären, menschenverachtenden Sowjetregime Stalins zu erbitterten Kontroversen innerhalb der westeuropäischen Linken. Viele distanzierten sich von einer Diktatur, deren Herrschaftsformen für sie mit der Idee des Kommunismus nichts gemein hatten. Zu ihnen gehörte auch Albert Camus, der gegenüber den Apologeten der Sowjetmacht kategorisch fest stellte: „Es ist besser, sich zu irren und niemanden umzubringen, als recht zu haben auf einem Berg von Leichen.“
Nun gibt es aber die Berge von Leichen, nicht nur in den Gulags dieser Welt. So auch in der Omaheke des damaligen Deutsch-Südwestafrika, wo im Originalton der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabes des deutschen Kaisers das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinns in der erhabenen Stille der Unendlichkeit verhallten und die Hereros aufgehört hatten, ein selbständiger Volksstamm zu sein. Es gibt sie in den anlässlich des Burenkriegs von den Briten eingerichteten Konzentrationslagern Südafrikas zur Wende in das 20. Jahrhundert ebenso wie in denen ein paar Jahre danach in Lüderitzbucht und Swakopmund, wo die kriegsgefangenen Herero, Nama und Damara (zumeist Frauen und Kinder) wie die Fliegen krepierten.
Die Aufzählung der Gewaltexzesse umfasst im Falle Namibias auch die Liquidierung des Widerstands innerhalb der Befreiungsbewegung SWAPO zu Mitte der 1970er Jahre in den sambischen Stützpunkten, in denen sich hunderte der SWAPO-Kämpfer gegen die autoritäre Führungsclique wendeten und massenhaft verhaftet oder hingerichtet wurden.
Sie schließt das Flüchtlingslager und den Militärstützpunkt der SWAPO im südangolanischen Kassinga ein, die nach dem Luft- und Bodenangriff der südafrikanischen Armee am 4. Mai 1978 als Folge der Bombenabwürfe und dem Giftgaseinsatz zum Schauplatz des größten Massakers in der Geschichte des Befreiungskampfes wurde. Ebenso gehören zu den Schauplätzen des organisierten Grauens aber auch die Erdlöcher, in denen vermeintliche Dissidenten der SWAPO während der 1980er Jahre im südangolanischen Exil gefangen gehalten wurden und häufig die Folter und Auszehrung nicht überlebten, sofern sie nicht direkt exekutiert wurden.
Vom sexuellen Missbrauch der Mädchen und Frauen durch die Repräsentanten der „Befreiungsmacht“ ganz zu schweigen – diese Form der männlichen Selbstbedienung gehörte zu den Alltagspraktiken der vermeintlichen „Emanzipation vom kolonialen Joch“.
Zu solchen Formen des skrupellosen Machtmissbrauchs und den dadurch geschaffenen Bergen von Leichen gehören auch die mehreren hundert am 1. April 1989 unter dem Waffenstillstand der Übergangsregelung für die Unabhängigkeit Namibias in den Norden des Landes zurück beorderten Guerilleros der SWAPO, die aufgrund pseudo-strategischen Kalküls ahnungslos in den kaltblütig exekutierten Massenmord durch die südafrikanische Armee marschierten. – Nur um nach dem Willen der politischen Führung der SWAPO zu dokumentieren, dass es eine militärische Präsenz im Lande auch schon vor dem Waffenstillstand gegeben habe.
Egal wer auf solchen Leichenbergen Recht reklamiert hat nach Albert Camus ein solches Recht als Anspruch auf Menschlichkeit verwirkt.
In den nur scheinbar völlig unterschiedlichen Diskursen zum Umgang mit der Gewalt in Namibia finden sich Gemeinsamkeiten. Sie alle stellen sich nicht der Verantwortung einer bekennenden Einlassung. Sie leugnen, relativieren, rechtfertigen, oder beschuldigen Andere der ideologischen Verblendung und agitatorischen Aufwiegelung. Sie beschwören einen Scheinfrieden der vorgetäuschten Versöhnung, der auf Schuldverdrängung ohne Sühne baut und damit wenn schon nicht Vergebung, dann doch wenigstens Respekt vor dem Gegenüber unmöglich macht.
Wenn es aber um Mensch-Sein geht, müssen wir zu einer Form des Miteinander finden, indem wir uns jenseits von quantifizierenden Zahlenspielereien für prinzipiell begangenes Unrecht verantwortlich fühlen. Einem Unrecht, durch das wir mittels der dadurch geschaffenen neuen Strukturen zu den Nutznießern gehören.
Dafür können wir nichts, sofern wir nicht am Tathergang beteiligt gewesen sind oder diesen wissentlich und billigend in Kauf genommen haben. Aber wir können etwas dafür, wie wir uns zu dem geschehenen, meist von Anderen begangenem Unrecht verhalten, das – ob wir es wollen oder nicht – auch uns selbst betrifft.
Die Freiheit Namibias wurde dem Liedtext der mit „Land of the Brave“ (Land der Mutigen) betitelten Nationalhymne zufolge vom Blut dieser Mutigen getränkt. Diese haben sich auf allen Seiten der zahlreichen Konflikte befunden. Aber sie waren meist die Opfer. Zu diesen Mutigen gehören aber auch jene, die sich heute der Gewalt in der Geschichte stellen. – Sie als Aufforderung begreifen dazu beizutragen, dass diese sich in der Gegenwart und Zukunft nicht wiederholt.
(1) Anm. d. Red.: Henning Melber ist Direktor der Dag Hammerskjöld Foundation in Uppsala (Schweden) und Extraordinary Professor an der Universität Pretoria (Südafrika). Als Sohn deutscher Einwanderer trat er 1974 in Namibia in die antikoloniale Befreiungsbewegung SWAPO ein. Zum Thema hat er in der GWR weitere Artikel veröffentlicht: Kenias Kleptokraten (GWR 328/2008, S. 2); Schacher um Simbabwe (GWR 331/2008, S. 1, 8); Von der Befreiungsbewegung zur Herrschaftspartei (GWR 345/2010, S. 13-14); Befreiungskämpfe, die nicht befreien (GWR 346/2010, S. 1, 9); Sag mir, wo die Helden sind... (GWR 351/2010, S. 14); Das Recht, Mensch zu sein (GWR 355/2011, S. 14)