anarchismus

„Wir bekämpfen das System in der Art, wie wir sind“

Ein Gespräch mit Wolf-Dieter Narr. Teil 3

| Interview: Bernd Drücke und Muriel Schiller, Juli 2012

Der emeritierte Politikprofessor und bekannte Menschenrechtsaktivist Wolf-Dieter Narr (* 1937) reiht sich in die anarchistische Tradition ein. Mit ihm sprachen Bernd Drücke und Muriel Schiller. Teil 1 des gekürzten Interviews erschien im September unter dem Titel "Menschenrechtliche Arbeit, die nicht in der Luft schwebt" in der GWR 371, Teil 2 im Oktober unter dem Titel "Die anarchistische Konzeption nimmt das Gegenüber ernst" in der GWR 372. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Welche Perspektiven der Sozialen Bewegungen siehst Du heute? Was sagst Du dazu, dass David Graeber, ein Anarchist und Protagonist der Occupy-Bewegung in den USA, heute durch jede Talkshow tingelt und in jeder größeren Zeitung seine Bücher besprochen werden?

Wolf-Dieter Narr (WDN): Man kann die Entwicklung Sozialer Bewegungen nicht voraussehen. Keiner von uns hat Ende der 60er Jahre angenommen, dass eine Anti-AKW-Bewegung entstehen würde, die nicht nur die Atomkraftwerke, die Umwelt und vieles mehr zum Thema machte. Mit dem Protest der Bauern in Wyhl fing diese Massenbewegung Anfang der 70er Jahre an.

In den 50er Jahren haben sogar die Forscher, die gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr waren, die „friedliche Nutzung der Atomenergie“ für nötig gehalten.

Es wurden über 100 Atomkraftwerke geplant. Plötzlich kommen einige Bäuerlein und andere, und finden das nicht gut, und setzen eine Bewegung in Gang, die kein Mensch erwartet hat. Eine Soziale Bewegung, die die Bundesrepublik verändert hat, bis hin zur Kehrtwende der CDU/CSU/FDP-Regierung in dieser Legislaturperiode. Wie auch immer man diese „Kehrtwende“ beurteile.

Man kann wenig untergründiges voraussehen, es kann immer etwas passieren, auch im guten Sinne. Und das ist auch die Angst, die die Kapitalisten in Gang hält. Deshalb versuchen sie schon kleine Demonstrationen zu verhindern. Sie haben alle Angst, da könnte plötzlich von unten ein Untier aufstehen, seit alters Masse genannt, die Anarchie könnte sich ereignen und gar Gleichheit in Gang setzen. Dann wäre es mit dem Mehrwert zu Ende, die Profitrate sänke auf Null und „das Kapital“ raste abwärts.

Insofern sollte man diese Angst nicht unterschätzen. Sie hält den Sicherheitsapparat am Laufen. Aber nicht nur die. Sie hält das ganze Kapital am Laufen.

Man muss ja nur mal gucken, was sie machen, wenn eine Krise kommt. Null. Das ist katastrophal. Was beispielsweise die Wallstreet-Enthusiasten zur Krise 2008 zu sagen hatten.

Nichts, sie können nur Milliarden scheffeln, damit die Regierung sie wieder funktionsfähig mache. Das wäre eine Krisenanalyse wert, was man daraus lernen kann.

Man kann Soziale Bewegungen nicht voraussagen, man kann auch ihr Ende nicht verkünden. Abgesehen davon, dass es immer beunruhigend Unberechenbares gibt. Nicht erst seit den Bauernkriegen im Mittelalter gab es immer soziale Unruhe, Kämpfe um Allmende, Steuerverweigerungen, und, und, und…

Solche Traditionen im Untergrund gilt es für uns wahrzunehmen und öffentlich wirksam zu machen. Ein Pilzgeflecht wächst. Und irgendwann schießen über Nacht Pilze hoch.

Das Problem ist die kapitalistische Herrschaft und die Verinnerlichung dieser Herrschaft. Der moderne Kapitalismus ist so feinziselig geworden, dass seine Wucherungen überall hineinreichen. Bis ins letzte Detail, in den Sport, in Religion, in Bildung. Überall gilt seine Logik: „Time is money“. Diese Internalisierung ist vielleicht die wirksamste Erscheinung, die in der Tat von der veränderten Wiege bis zur umgebauten Bahre so sichten ist.

Aber gleichzeitig gilt auch: Noch so penetrante Herrschaft ist nie perfekt. Es bleiben immer Störfaktoren, „normale Katastrophen“, wie sie Charles Perrow, ein trefflicher Bürokratie- und Technologiesoziologe, genannt hat, also Randphänomene und Unvorhersehbarkeiten. Individuell wie kollektiv.

Auch die besten Kapitalisten, Herr Ackermann, dieser Widerling, wenn ich das mal so sagen darf, dieser nicht nur geistlich arme Kerl, hat Elemente in seiner Seele und in seinem Körper, wo er nicht ruhig ist, wo es ihn zwickt, wo er merkt, dass er die frische Fröhlichkeit der Freiheit nicht atmen und humorvoll singen kann.

Das gilt sowohl für einzelne Personen, das gilt auch für die „Multitude“ Kapital insgesamt.

Darin stecken auch riesige Gefahren. Man stelle sich beispielsweise vor, die größte Militär- und immer noch Wirtschaftsmacht der Welt, die USA, drohten von der Number One zur Number Two zu werden. Viele Amerikaner glauben , Gott habe sie, also die USA zur ewigen Number One erkoren. Die Gefahr jäht nah, dass sie, wenn die Number One kippt, atomar zuschlagen. Gefahren, Unsicherheiten, Unberechenbarkeiten, wo man hinschaut.

Zwischen den USA und China gibt es abgründige Konflikte, auch wenn die beiden Giganten dem Scheine nach wunderbar korrespondieren:, der eine als Geldgeber, der andere als Geldnehmer.

Der asiatische Kapitalismus funktioniert bei weitem mehr von Abgründen umstellt, als man „westlich“ wachstumsnaiv, auf Anlage und Absatzräume angewiesen, annimmt. Konflikte, sog. ethnische wie meist sich überlappend soziale, rumoren überall.

In China sind einzelne Dissidenten wie Ai Weiwei nur Symptome – so widerlich und menschenfeindlich es ist, als Symptom unterdrückt zu werden -, die strukturelle Konflikte im ökonomisch gegründeten Herrschafts- und Angst-Wachstum enthüllen.

Und deswegen ist es für fundamental herrschaftskritische Typen wie mich auch wichtig, nicht nur primär jammervoll zu rennen. Zu überlegen ist aufgehalten unaufhaltsam, wie man heutige Gesellschaften global lokal gestalten könnte.

Nicht nur im Sinne einer Vorratshaltung von Alternativen, wohl aber im Sinne des immer erneuten Versuchs kleine andersartige, nicht herrschaftsfaul muffelnde Blumen zu züchten. Sie möchten vielleicht einmal groß werden. Und zwar so groß, dass sie nicht wieder bürokratisch und gewaltsam missraten.

GWR: Was sagst Du zur Entwicklung der Occupy-Bewegung?

WDN: Was die Sozialen Bewegungen heute angeht, auch jetzt die jüngste aus den USA zeigt, dass die Globalisierung Sozialer Bewegungen stattfindet. Auch mit dem Hilfsmittel Internet. Man darf dasselbe nicht überschätzen, vor allem die einzelnen Informationen nicht.

Das gilt auch gerade in Bezug auf den „Arabischen Frühling“, der mit Frühling nichts zu tun hat. Wenn man sich das genauer angucken würde, nähme man ein solch fahrlässiges Wort, das nur durch seinen Duft betören und blind machen soll, nicht in den Mund.

Viele Leute wollen nur hoffen. Das sollen sie. Aber sie sollen es mit offenen Augen tut. Und sie sollen dann selbst in ihrem Umkreis das nötig Mögliche tun.

Ob sich die Occupy-Gruppen, die ja auch von den Entwicklungen in Tunesien und Ägypten mit inspiriert wurden, auf Dauer entwickeln können, ist nicht klar. „Auf Dauer“, das heißt bei Studentinnen und Studenten meist nur zwei, drei Jahre. Ob sie ein paar Jahre Unruhe schaffen können, die auch neue Möglichkeiten eröffnete, etwa an den Unis Änderungen in Lehre, Lernen und Forschung bewirken könnte, ist fraglich.

Das sogenannte Exzellenzprojekt ist fast reine, nur der Verwertungslogik folgende Torheit.

Mit allen gegebenen intellektuellen Mitteln und Möglichkeiten wird nicht bedacht, wie etwa heutige Riesengesellschaften human, sozial gleich und demokratisch organisiert werden können. Und das nicht durch a – soziale Expansionen im Techfix.

Wie könnte auch nur die Bundesrepublik einigermaßen demokratisch gestaltet werden über ihr Als Ob als „repräsentative Demokratie“ hinaus?

Es bedarf schon eines steril verinnerlichten und/oder administrativ veräußerlichten, allerdings geheimdienstlich wirkenden Verfassungsschutzes, damit der repressive Glaube bleibe: wir lebten, „freiheitlich demokratisch grundgeordnet“ . …

Ob es den Gruppen, die bei Occupy aktiv sind, gelingt, ein bisschen Kontinuität zu schaffen, damit nicht jedes Semester ein erneuter Anfang verzaubere, lässt sich schwer sagen. Gut war wenigstens und wenn auch nur einen Lidschlag lang, die neue kleine, vielleicht größer werdende Verweigerung, mitzumachen. J. Ruben, einer der Studentenführer in Berkeley, hat 1968 in etwa gesagt: „Wir bekämpfen das System nicht dadurch, was wir – programmatisch – wollen, sondern in der Art, wie wir sind.“

Also, zuerst ist das andere, das nicht mitmachende Verhalten wichtig. Mit seinen Einsprengseln gegenseitiger Hilfe, Entscheidungen im Konsens zu bilden (oder nicht zu entscheiden). Mit seinen humorigen Äußerungen und Auftritten.

Das scheint mir, der ich nicht mehr mitmachen kann, attraktiv.

Die Frage drängt und bleibt aber, ob das über einen schönen Augenblick hinausgeht.

Die Pariser Commune, in welcher Spektralfarbe immer, ist nicht zu institutionalisieren.

Anmerkungen

Transkription/Bearbeitung: Bernd Drücke

Eine längere Version dieses Interviews erscheint voraussichtlich 2013 in dem von Bernd Drücke im Karin Kramer Verlag in Berlin herausgegebenen Interviewband "ja! Anarchismus Hoch Zwei. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert".