anarchismus

Der diskrete Charme von Hausstaubmilben und Anarchie

Geschichte, Blüte und Scheitern des Münsteraner Umweltzentrum-Archivs

| Bernd Drücke

"Der UWZ-Song

Im UWZ hängt der Haussegen schief
Von wegen Archiv, von wegen Archiv
Die Spaltung ist erschreckend schwarz und tief
Von wegen Archiv, von wegen Archiv
Mal ehrlich, wer soll den ganzen Kram denn lesen?
Seit 1992 ist keiner mehr da gewesen.

Sieben alte Säcke sollt ihr sein
Und die treten ein in den Verein
Die ihre besten Zeiten längst schon hatten
In alten Debatten, in alten Debatten
Soll'n verstauben zwischen Protokollen, Büchern und Papieren
Während andere über autonome Zentren diskutieren.

Die Lösung ist recht einfach und steht fest,
Wenn man ihn nur lässt, wenn man ihn nur lässt,
Besorgt der liebe Gott recht gern den Rest
Ein heimeliges Nest, ein heimeliges Nest
Auferstanden aus Ruinen
Steigt die Uppe aus dem Sand,
der der ganze linke Krempel all die Zeit im Wege stand

Die Münsteraner Linke ist zu lieb
Es geht ums Prinzip, es geht ums Prinzip
Zuviel Liebe stört nur den Betrieb
Doch was uns blieb, doch was uns blieb:
Alles das, was heute an Gewichtigem passiert
Das wird später vom Verein für alle Zeiten archiviert
(Hä hä hä hä hä hä hä)."

Der Blarze Schwock, anarchistisches Kabarettensemble aus Münster, 2005

Der 1997 gegründete Blarze Schwock (1) ist zwar weniger bekannt, wirkte in den Nuller Jahren aber ähnlich wie in den 1970er und 1980er Jahren das legendäre West-Berliner Anarchokabarett Die Drei Tornados. (2) Als anarchistisches Kabarettensemble aus der Bewegung und für die Bewegung, das landauf, landab durchs Land tourt und dabei nicht zuletzt der eigenen Szene satirisch den Spiegel vors Gesicht hält. So auch mit dem eingangs zitierten „UWZ-Song“ (3), der die szeneinternen Auseinandersetzungen um das Münsteraner Umweltzentrum-Archiv auf die Schippe nimmt.

Wer den „UWZ-Song“ (gesprochen: „Uffz-Song“) verstehen will, sollte diesen Artikel bis zum Ende lesen. Aber auch dann ist nicht garantiert, dass sich die Insidergags des Blarzen Schwocks erschließen.

Fangen wir also an mit einem Blick in die Geschichte des Umweltzentrum-Archivs:

Wie alles anfing…

Im Jahre 1980 gründeten Mitglieder des Münsteraner Arbeitskreises Umwelt (AKU) das Umweltzentrum (UWZ). Es sollte ein Zentrum sein „für alle, die unabhängig von Parteien und Verbänden selbstorganisiert arbeiten wollen“. Mit der Gründung dieses ökologischen und libertären Bewegungsladens entstand gleichzeitig auch das Umweltzentrum-Archiv.

Ziele

Die Gründung des Archivs stand im Kontext mit der Entwicklung der Neuen Sozialen Bewegungen. Diese bilden auch im westfälischen Münster seit 1968 eine bunte „Parallelgesellschaft“, die im Kontrast steht zur Tristesse einer katholisch geprägten und jahrzehntelang von der CDU dominierten Provinzmetropole.

Dabei spielt auch die Radikalisierung und Politisierung von Teilen der 50.000 StudentInnen, die in der (heute) 290.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt leben, eine große Rolle.

Im Gegensatz zu Parteien und Institutionen gibt es für soziale Bewegungen keine offiziellen Stellen mit dem Auftrag, deren Geschichte zu bewahren. Deshalb entstanden verstärkt seit dem Aufkommen vor allem der Frauenbewegung, der Friedensbewegung, der Antifa-, HausbesetzerInnen- und Anti-AKW-Bewegung in den 1970er Jahren überall in der Bundesrepublik „Bewegungsarchive“, welche oft in Infoläden und Libertären Zentren zu finden waren und sind.

Die BetreiberInnen wollen dadurch eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte unterstützen, indem sie „als eine Art ‚Gedächtnis für die Linke‘ fungieren, Materialien sammeln und Interessierten für Geschichtsarbeit zur Verfügung stellen“, so das Berliner Papiertiger-Archiv in einer Selbstdarstellung.

Für Bewegungen von unten werde es zukünftig von großer Bedeutung sein, dass die Zeugnisse ihrer Geschichte nicht verloren gehen und breiten Kreisen frei zugänglich bleiben.

„Archive […] bieten […] für heutige Initiativen Anknüpfungspunkte zu früheren Erfahrungen und ermöglichen dadurch theoretische und praktische Kontinuität politischen Handelns, die auf Grund der spezifischen Bewegungsstrukturen sonst nur schwer hergestellt werden können. Soweit es uns möglich ist, wollen wir diesen Prozess durch unsere Arbeit unterstützen.“

Das UWZ-Archiv und die Szene

Der AKU war ein heterogener Zusammenhang. Er bestand vor allem aus außerparlamentarisch orientierten, anarchistischen, spontaneistischen, autonomen und anderen linksradikalen AktivistInnen, die sich u.a. in der HausbesetzerInnenszene, Anti-AKW-Bewegung und Antifa-Bewegung engagierten. Im Laufe der Jahre wurden die Materialien des UWZ-Archivs von vielen in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen aktiven Menschen vor allem aus Münster und Nordrhein-Westfalen zusammengetragen.

Die Themenbereiche waren mit der Arbeit der UWZ-Gruppen verbunden, die sich im Laufe der Jahrzehnte gebildet und oft nach wenigen Jahren wieder aufgelöst hatten. Thematische Schwerpunkte des Archivs: Umwelt, Anti-Atompolitik, Internationalismus, Antimilitarismus, Kriminalisierung, Frauenbewegung, Anarchismus, Gesundheit, Münster, Alternativen, Antifaschismus, Geschichte, Theorie, Philosophie u. a.

In den mehr als 20 Jahren seines Bestehens wurde dieses ehrenamtlich betreute Archiv der Sozialen Bewegungen zu einem der größten seiner Art.

Dazu haben u.a. viele Buch- und Zeitungsspenden beigetragen. Auch die AnArchive der seit 1972 erscheinenden Graswurzelrevolution, die ihren Redaktionssitz seit 1999 in Münster hat, des von 1988 bis 1992 in Münster existierenden Anarchistischen Zentrums Themroc, des 1992 gegründeten Infoladens Bankrott sowie Teile des privaten BD-Archivs und diverse Gruppenarchive wurden in das UWZ-Archiv integriert.

„Die Bestände dieser Alternativbibliothek füllen derzeit ca. 300 Regalmeter, 15.000 in der Datenbank vorhandene Titel mit 33.000 Schlagwörtern“, so der Umweltzentrum Archiv-Verein 2007.

Repression

Das Umweltzentrum verstand sich als „Umwälzzentrum“ und war immer auch ein wichtiger Bezugspunkt der libertären und autonomen Bewegung in Münster und weit darüber hinaus. Hier hatten viele Projekte ihre Postfächer und der Laden diente als Szenetreff. Das UWZ stand immer unter Beobachtung der Behörden und wurde 1992 im NRW-Verfassungsschutzbericht erwähnt.

Bereits im Gründungsjahr des Umweltzentrums kam es zu einer Razzia. Der Ehapa-Verlag, der u.a. die Asterix-Comics herausgibt, stellte in den 1980er Jahren Strafanzeigen gegen Unbekannt und beauftragte zudem Privatdetektive, die herausbekommen sollten, wer für die nicht vom Ehapa-Verlag herausgegebenen „Asterix und das Atomkraftwerk“, „Asterix und die Pershings“ und „Asterix im Hüttendorf“ verantwortlich war. Diese klandestin produzierten Szene-Comics verwenden zum Teil Zeichnungen aus den Original-Asterix-Comics, allerdings versehen mit linksradikalen Texten. Sie waren nicht nur in der Szene beliebt und der Verkauf trug erheblich zur Finanzierung von Projekten aus den sozialen Bewegungen bei. Im September 1980 wurde u.a. das Umweltzentrum nach inkriminierten „Asterix und das Atomkraftwerk“-Comics durchsucht, wegen Verstoßes gegen das Urheberrechtsgesetz und das Warenzeichengesetz. (4)

Gefunden wurden nur wenige Exemplare. Eine Anekdote aus dieser Zeit erzählt, dass ein Ladengruppenmitglied während der Razzia auf seinem Stuhl saß, während seine Jacke über der Stuhllehne hing. Erst nachdem die Polizei nach der mehrstündigen Durchsuchung abgezogen war, soll er aufgestanden sein und erleichtert aufgeatmet haben. Unter seinem Stuhl habe sich eine von der Polizei übersehene Kiste befunden, prall gefüllt mit „Asterix und das Atomkraftwerk“-Comics.

Bedrohlicher für die Existenz des Umweltzentrums wurden in den 1980er und 1990er Jahren die zahlreichen Razzien, von denen das Umweltzentrum und sein Archiv betroffen waren.

Eine unvollständige Chronik

Am 27. Oktober 1983 wurde das Umweltzentrum zwei Stunden lang von sieben Beamten des Landeskriminalamts durchsucht. Gegen die drei Vorstandsmitglieder des Umweltzentrum e.V. wurde ein Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB wegen kommentarlos abgedruckter Bekennerbriefe der Revolutionären Zellen in Münsters „Info – Zeitung für eine zündende Idee“ Nr. 2 eingeleitet. Die Verfahren wurden später eingestellt. (5)

Im Juli 1986 bis Februar 1987 kam es zur bundesweiten Durchsuchung von über 100 Buchhandlungen, Infozentren und Privatwohnungen auf der Suche nach den unbekannten HerstellerInnen und VertreiberInnen der bundesweit verbreiteten autonomen Szenezeitschrift radikal Nr. 132. Betroffen waren jeweils auch das Umweltzentrum und sein Archiv.

Am 7. Januar 1992 wurden das Umweltzentrum, das Archiv und die UWZ-Druckerei durchsucht. Sieben Stunden lang suchten 80 PolizistInnen, BKA- und LKA-Beamte nach Hinweisen auf „Verfasser, Herausgeber, Hersteller und Verbreiter der Druckschrift unfassba Nr.7/8″. (6)

Den unbekannten MacherInnen des mit Auflagen bis 1.500 Stück erschienen Anarchoblattes wurde unterstellt, sie hätten mit der Forderung nach Zusammenlegung politischer Gefangener eine „terroristische Vereinigung“ unterstützt.

Ein breites Bündnis von 90 Gruppen, von der Katholischen Studierenden Gemeinde Münster bis zum Initiativkreis Hafenstraße Hamburg protestierte gegen die Durchsuchungen. Dennoch wurden weitere Ausgaben der unfassba inkriminiert: Nr. 9, 10, 11 und 18, mit Hilfe der §§ 111, 129a und 130a StGB. (7)

Nach der Razzia löste die unfassba-Redaktion ihr Postfach im Umweltzentrum auf. (8)

Krisen, Spaltungen, Neubeginn

Im Mai 1992 kam es zur Spaltung der UWZ-Ladengruppe. Teile der ehemaligen UWZ-Ladengruppe und die ehemalige UWZ-Frauen/Lesben-Archivgruppe gründeten daraufhin den Infoladen Bankrott, der erst 16 Jahre später sein Ladenlokal im Dahlweg auflöste und in die Räume des sich nun Interkulturelles Zentrum Don Quijote (9) nennenden UWZ zurückkehrte.

Die Spaltung 1992 war nicht die einzige, von der das Umweltzentrum (und auch das Archiv) betroffen war.

Im Dezember 2004 nahmen etwa 40 AktivistInnen an einer Vollversammlung der FreundInnen und NutzerInnen des Umweltzentrums teil. Anlass waren u.a. die tiefen Gräben, die sich zwischen verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen im Umweltzentrum aufgetan hatten. Genau genommen gab es eine Serie von Spaltungen.

Wer den Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ gesehen hat, kennt die Judäische Volksfront, die Volksfront von Judäa und die Populäre Front. Ganz so einfach wie im Film ist es in der Realität sicher nicht. Auch wenn manchmal der Eindruck entsteht, dass sich einige Anti-Atomkraft-Gruppen häufiger spalten als die Atome im AKW.

Eine der aktivsten Anti-AKW-Aktionsgruppen im Umweltzentrum war die WigA (Widerstand gegen Atomanlagen). Sie war 1989 aus der Hamm-Gruppe hervorgegangen und leistete 15 Jahre lang Aufklärungs- und Bewegungsarbeit. 2004 gingen aus ihr die Gruppen SofA (Sofortiger Atomausstieg) (10), Pollux und (Rest-)WigA hervor.

Neben den Anti-Atom-Gruppen gab es in der Münsteraner Szene noch weitere Spaltungslinien. Diese aufzudröseln, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Schauen wir stattdessen auf die Folgen der „großen Spaltung 2004“.

Sie hatte vereinfacht gesagt verschiedene „Konzepte“ hervorgebracht:

Zusammen mit der Marxistischen Gruppe (MG) Destruktive Kritik und der zwischenzeitlich „antideutsch“ orientierten Offenen Antifa Münster gründete die Rest-WigA den Club Courage im Hinterhof der Friedensstraße 42 als „Selbstverwaltetes Zentrum für Jugend, Kultur, Umwelt und Politik“. (11)

Raider heißt jetzt Twix, UWZ heißt jetzt Don Qui

Die im Umweltzentrum verbliebenen Gruppen und Einzelpersonen nannten das Umweltzentrum fortan Don Quijote. Im September 2012 fand der Umzug des „Don Qui“ in die Nieberdingstraße 8 statt.

Eine Soziale Zentrumsgruppe organisierte sich im Versetzt, einem kleinen Libertären Zentrum in der Grevener Straße. (12) Das Ladenlokal wurde den BesetzerInnen der ehemaligen Uppenbergschule („Uppe“) 2001 nach der Räumung von der Stadt zur Verfügung gestellt.

Diese Gruppe versuchte auch in den folgenden Jahren vor allem durch diverse Hausbesetzungen ein großes Autonomes Zentrum durchzusetzen. (13)

Nachdem aber alle besetzten Häuser geräumt wurden, wurde 2011 ein kleiner (Info-)Laden in der Nieberdingstraße 8 angemietet, das Krachtz. (14)

Auf der UWZ-Vollversammlung 2004 wurden im Konsens „sieben alte Säcke“(Der Blarze Schwock) gewählt, die das Vertrauen aller Gruppen und anwesenden Einzelpersonen genossen. Eine Frau und sechs Männer aus verschiedenen linken und libertären Münsteraner Gruppen wurden aufgefordert einen „neutralen“ Trägerverein für das Umweltzentrum-Archiv zu gründen. Sie sollten sicher stellen, dass das Archiv nicht zerrissen oder für bestimmte Gruppen unzugänglich wird. Diese sieben „SzeneveteranInnen“ gründeten im Auftrag der UWZ-Vollversammlung den gemeinnützigen Umweltzentrum-Archiv e.V.

Das Projekt „Münsters Geschichte von unten“

skulptur projekte münster, so nennt sich eine internationale Großausstellung, die seit 1977 alle zehn Jahre stattfindet. Dabei werden KünstlerInnen eingeladen, die an einem selbst gewählten Ort innerhalb Münsters ein dreidimensionales Kunstwerk erschaffen. Einige Werke sind nach den 100 Tagen Ausstellungszeit von der Stadt oder von Unternehmen gekauft worden und wurden dauerhafter Bestandteil des Stadtbilds. Zu den skulptur projekten 07 wurde auch die Frankfurter Künstlerin Silke Wagner eingeladen.

Anfang 2006 nahm sie Kontakt zum Umweltzentrum Archiv e.V. auf.

Sie stellte ihre Ideen für eine künstlerische Nutzung des UWZ-Archivs im Zusammenhang mit den skulptur projekten münster 07 auch auf den Vollversammlungen der NutzerInnen des Archivs vor.

Nach zahlreichen Gesprächen und Diskussionen entwickelte Silke Wagner gemeinsam mit mir als Vertreter des UWZ-Archiv-Vereins das Konzept für die skulptur projekte münster 07 weiter. Dabei berücksichtigte sie auch Anregungen und Kritiken aus den Reihen des Archiv-Vereins und des Don Quijote.

Wir erhofften uns, dass durch die Zusammenarbeit das Umweltzentrum-Archiv und die hier archivierten Materialien aus den sozialen Bewegungen einer größeren Öffentlichkeit bekannter werden, und die Kooperation zum Erhalt und weiteren Ausbau des Archivs beitragen kann. Die Neugier auch der rund 550.000 BesucherInnen der skulptur projekte münster 07 sollte geweckt werden – auf eine Geschichte, wie sie nicht in den Geschichtsbüchern zu finden ist. Eine alternative „Geschichtsschreibung von unten“, die sich nicht an Eliten orientiert, sondern stattdessen die Historie sozialer Bewegungen und von „kleinen Leuten“ zugänglich macht.

„Vergessene“ Geschichten, wie die des 1938 von den Nazis zwangssterilisierten Paul Wulf, der sich als libertärer Antimilitarist und Antifaschist sein Leben lang für eine klassenlose, menschengerechte, herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzte und häufiger Besucher des UWZ-Archivs war. (15)

In Zusammenarbeit mit Silke Wagner entstand im Rahmen der skulptur projekte münster 07 die Internetseite www.uwz-archiv.de und die ebenfalls zum Projekt „Münsters Geschichte von unten“ gehörende 3,40 Meter hohe Paul Wulf-Skulptur. Letztere wurde 2007 von den LeserInnen der Münsterschen Zeitung zur beliebtesten Skulptur gewählt und die Obdachlosenzeitung draußen verlieh ihr den „Berber-Preis“ für die menschenfreundlichste Skulptur.

Im Ausstellungskatalog „skulptur projekte münster 07“ formulierte der UWZ-Archiv-Verein seine an die Kooperation mit der Künstlerin geknüpften Hoffnungen: „Wir erhoffen uns durch die Zusammenarbeit und die damit verbundene Öffentlichkeit des Archivs Impulse für die weitere Entwicklung. Aufgrund von Geldmangel konnte sich der ohne staatliche Zuschüsse betriebene Umweltzentrum-Archiv-Verein bisher nur in einem sehr bescheidenen Maße an den Mietkosten für die Räumlichkeiten in der Scharnhorststraße 57 beteiligen. Bisher sind wir auf die Unterstützung durch das Don Quijote angewiesen. Das zurzeit leider nur von wenigen Menschen betreute und genutzte Umweltzentrum-Archiv finanziert sich ausschließlich durch Spenden und hofft im Zusammenhang mit den skulptur projekten münster 07 auf Unterstützung, auch in Form von Engagement und Mitarbeit.“ (16)

Die Paul Wulf-Skulptur schaffte es 2007 sogar auf die Titelseite der „International Herald Tribune“. Sie machte den 1938 von den Nazis zwangssterilisierten und 1999 gestorbenen Münsteraner Anarchisten Paul Wulf zu einer öffentlichen Person.

Erst im September 2010, nach dem jahrelangen Versuch von konservativer Seite, eine Wiederaufstellung zu verhindern, konnte die durch Spendengelder finanzierte Skulptur wieder in die Öffentlichkeit zurückkehren. Sie wurde auf dem Servatiiplatz aufgestellt.

Das Umweltzentrum-Archiv wurde aber weiterhin öffentlich kaum wahrgenommen. und so konstatierte auch der Geschichtsprofessor Franz-Werner Kersting in einem Referat über „Die ‚anderen‘ Archive“ treffend:

„Diese Beteiligung eines freien linken Archivs an der renommierten Münsterschen ’skulptur projekte‘-Ausstellung ist nach meinem Eindruck von der kunstinteressierten Öffentlichkeit, wenn überhaupt, so nur am Rande registriert worden. Noch unbekannter dürfte sein, dass durch das Gemeinschaftsprojekt zwischen Trägerverein und Künstlerin auch die Gestaltung der neuen Webseite des Archivs sowie die Digitalisierung erster Materialbestände angestoßen wurde (…). Der materielle Überlieferungsschwerpunkt liegt auch im Umweltzentrum-Archiv klar auf den beiden Feldern ‚Sammlungsgut‘ und ‚Bibliothek‘, und der inhaltliche Fokus wird von den Themen und Schlagworten Umwelt, Anti-Atom-Bewegung, Hausbesetzungen (oder auch ‚Häuserkampf‘), politische Zensur und ‚Kriminalisierung‘, Internationalismus, Antifaschismus und Anarchismus bestimmt.“ (17)

Die Hoffnung des Umweltzentrum-Archiv e.V. auf eine dauerhafte finanzielle Unterstützung des Archivs durch BürgerInnen platzte wie eine Seifenblase. Die Medien berichteten viel über das Kunstprojekt (18), erwähnten aber so gut wie nie, dass „Münsters Geschichte von unten“ auch eine Koproduktion der Künstlerin mit dem Bewegungsarchiv ist. Das änderte sich erst im August 2010.

„Wir müssen hier raus…“ (Ton, Steine, Scherben)

Ab dem 3. August 2010 berichteten die Westfälischen Nachrichten mit einer fünfteiligen Artikelserie über die Arbeit des Umweltzentrum-Archiv-Vereins im Zusammenhang mit der Paul Wulf Skulptur. Titel: „Wir müssen raus, wir wollen raus“. (19)

Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Archiv allerdings schon in einer Existenzkrise, nicht nur weil die allesamt ehrenamtlichen Mitglieder kaum noch Zeit fanden, es angemessen zu betreuen.

Eine Untersuchung hatte gezeigt, dass die Räumlichkeiten in der Scharnhorststraße 57 so feucht sind, dass dem Archiv auf Dauer der Schimmelbefall gedroht hätte.

Der Archiv-Verein bemühte sich intensiv darum, fand aber in Münster keine bezahlbaren Räume. Zudem wollte sich die Druckereigenossenschaft FairDruckt (20), die sich einen großen Raum mit dem Archiv teilte, im Interkulturellen Zentrum Don Quijote vergrößern.

Bei Gründung des Umweltzentrum-Archiv e.V. wurde in der Satzung formuliert, dass bei Auflösung des Vereins das UWZ-Archiv dem Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas) (21) oder einem anderen befreundeten Archiv übergeben werden soll.

Aufgrund der über viele Jahre gewachsenen Vertrauensbasis und der guten Zusammenarbeit mit dem afas beschloss der Umweltzentrum Archiv e.V. schließlich das UWZ-Archiv 2011 peu á peu dem afas anzugliedern. Das afas ist somit zum wohl größten Alternativarchiv in der Bundesrepublik geworden.

Was bleibt?

Die Homepage www.uwz-archiv.de wird weiterhin ausgebaut. Auch die Paul Wulf-Skulptur wird mindestens bis September 2013 regelmäßig mit Dokumenten aus dem UWZ-Archiv plakatiert. Zu den wechselnden Themen zählen „Häuserkampf in Münster“, „Anti-AKW-Bewegung in Münster“, „Zensur alternativer Medien in Münster“ und „Der Antifaschist Paul Wulf“. Aber der Umweltzentrum-Archiv e.V. wird voraussichtlich aufgelöst. Und das Münsteraner Umweltzentrum-Archiv ist nicht mehr in der Domstadt zu finden. Es kann stattdessen in Duisburg als Teil des afas weiter genutzt werden.

Die Perspektiven, die wir als Archivgruppe im Mai 2005 in der Graswurzelrevolution Nr. 299 beschrieben haben, sind nicht an eine Stadt gebunden. Sie bleiben aktuell:

„Wir wollen, dass der Duft von Hausstaubmilben, Anarchie, Freiheit und Abenteuer auch noch in den nächsten 25 Jahren durch die (Archiv-) Ordner (ohne Herrschaft) weht und Menschen zu kreativem Widerstand und dem Leben von Utopien inspiriert.“ (22)

(1) Internetseite des Blarzen Schwocks: http://schwock.net

(2) www.die-3-tornados.de/index.php/literatur

(3) Siehe Video auf: www.kabadu.de/node/2757

(4) Der "Asterix und das Atomkraftwerk"-Comic ist als PDF dokumentiert auf: www.uwz-archiv.de/Asterix-und-das-Atomkraftwerk.141.0.html

(5) Vgl.: Schwarze Texte, ID-Archiv, Amsterdam 1989, S. 70 ; Kriminalisierung, Dokumentation, Umweltzentrum, Münster 1984, S. 46 ff.

(6) Ermittlungen gegen Umweltzentrum, in: Münstersche Zeitung, Münster, 08.01,1992, S. 1.

(7) Zum Thema siehe: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998 ; sowie: B. Drücke, Beispiele politischer Zensur und Kriminalisierung von Texten in Deutschland von 1968 bis heute, www.uwz-archiv.de/Kriminalisierung.3.0.html

(8) Die 1990 gegründete und in Szenekreisen als "Unvieh" (Unfi) bezeichnete anarchistische Zeitschrift erschien ab der Kriminalisierung 1992 in Utrecht. Mit Erscheinen der unfassba Nr. 19 im Sommer 1996 wurde sie eingestellt.

(9) www.muenster.org/quijote/

(10) www.sofa-ms.de

(11) www.clubcourage.de

(12) http://versetzt.blogsport.de/

(13) Siehe dazu: "Leute bleibt heiter, der Häuserkampf geht weiter", Die BesetzerInnenbewegung in Münster 1972 - 2008, Bernd Drücke, in: Graswurzelrevolution Nr. 325, Januar 2008, www.graswurzel.net/325/haeuser.shtml

(14) http://krachtz.blogsport.eu/

(15) Der Nachlass von Paul Wulf wird in der antifaschistischen Bildungsstätte Villa ten Hompel am Kaiser-Wilhelm Ring 28 in Münster erschlossen und zugänglich gemacht. Drei MitarbeiterInnen des Umweltzentrum Archiv e.V. engagieren sich im Freundeskreis Paul Wulf und sind an der Archivierung und Erschließung des Nachlasses in der Bildungsstätte beteiligt. Auch durch Veröffentlichung des im März 2007 im Verlag Graswurzelrevolution herausgegebenen Buches "Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand" wollten wir ein Stück Erinnerungspolitik leisten.

(16) Auszug aus einem Gespräch zwischen Anna Sophia Schultz und dem Umweltzentrum-Archiv e.V., in: Brigitte Franzen, Kaspar König und Catarina Plath (Hg.), skultur projekte münster 07, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2007, S. 253 ff.

(17) Siehe: www.uwz-archiv.de/Referat-Die-anderen-Archive.245.0.html

(18) Siehe Pressespiegel: www.uwz-archiv.de/Pressespiegel.218.0.html

(19) "Wir müssen raus, wir wollen raus" / Umweltzentrum sucht neue Bleibe / Drei Jahre plakatieren für die Wulf-Säule, Gerhard Kock, in: Westfälische Nachrichten, Münster, 3.8.2012

(20) www.catarrhini.de

(21) Archiv für alternatives Schrifttum Schwarzenberger Str. 147 47226 Duisburg, Tel.: 02065/747-15, Fax: -37, afas-archiv@t-online.de, www.afas-archiv.de

(22) www.graswurzel.net/299/uwz.shtml

Zum Autor

Bernd Drücke, Dr. phil., Soziologe, lebt seit 1986 in Münster, seit 1991 in einem alternativen Wohnprojekt. Seit 1998 GWR-Redakteur, bis Sommer 2003 Lehrbeauftragter. Mit Unterbrechungen hat er ab 1988 das UWZ-Archiv mit aufgebaut, 1992 den Infoladen Bankrott, 1999 den "Freundeskreis Paul Wulf" und 2005 den UWZ-Archiv e.V. mitgegründet. Mit Silke Wagner hat er für die "skulptur projekte münster 07" das Projekt "Münsters Geschichte von unten" (www.uwz-archiv.de) entwickelt.

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Buch: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, das voraussichtlich im März 2013 in Berlin im Verlag der Jugendkulturen erscheinen und von Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel herausgegeben wird. 21,5 x 21,5; Hardcover, Innenteil s/w, mit Abb., ca. 280 Seiten, ISBN 978-3-943774-18-4 print; 978-3-943774-19-1 ebook pdf; 978-3-943774-20-7 ebook epub. Preis(e): 25 Euro / Subskription 18 Euro / E-Book 9,99 www.shop.jugendkulturen.de