Sie waren das vielleicht berühmteste Paar in der Geschichte des Anarchismus: Emma Goldman und Alexander Berkman, genannt "Sasha".
Zwei russische Juden, die es in jungen Jahren Ende des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten von Amerika verschlug. Sie, eine unermüdliche Propagandistin des Anarchismus, kompliziert, lebenslustig – „Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution!“ -, einem gewissen Luxus nicht abgeneigt. Er, ein scharfzüngiger, nach langer Haft von Depressionen gequälter Asket der revolutionären Aktion, der eher im Hintergrund wirkte, in einer Unzahl von Komitees, jedoch kaum weniger einflussreich war als sie: libertäre Umstürzler, frühe Kritiker der bolschewistischen Revolution, Pioniere der freien Liebe, als Exilierte von Land zu Land gejagt, „Amerikas erster Terrorist“ und die „rote Emma“.
Ein Liebespaar waren die beiden nur kurz. Ihre Freundschaft dagegen hielt ein Leben lang. „Meine Freundschaft zu Berkman“, schrieb Emma Goldman 1934, zwei Jahre vor seinem Selbstmord, „kann nur der Tod beenden“. Berkman und Goldman – zwei mythische Figuren der anarchistischen Bewegung(en). Aber politische Mythen haben so ihre Tücken…
Ihre 2012 von Paul Avrich und seiner Tochter Karen vorgelegte „Doppelbiographie“ ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Paul Avrich war bis zu seinem Tod im Jahr 2006 Professor für russische Geschichte und Anarchismus an der City University von New York.
Auf seinen Wunsch hin beendete seine Tochter, ihres Zeichens Schriftstellerin und Verlegerin, nach seinem Tod, gestützt auf die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Recherchen und erste Textentwürfe, eine Arbeit, die man getrost als Vollendung eines Lebenswerks bezeichnen darf.
Der Materialreichtum von „Sasha and Emma“ ist erstaunlich. Paul Avrich hatte im Laufe seines Lebens Gelegenheit, mit zahlreichen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu sprechen, die Berkman und Goldman noch persönlich gekannt hatten.
Er wertete Nachlässe aus, sammelte Briefe, studierte Zeitungsartikel, Gewerkschaftskarteien und Polizeiakten. Seine Tochter vervollständigte seine Recherchen. Vor allem aber ist es ihr gelungen, die ungeheure Menge an Material zu einer ansprechenden, flüssig lesbaren biographischen Erzählung zusammenzufügen, in der dokumentarische Genauigkeit und Zugänglichkeit Hand in Hand gehen. Nur selten schlittert „Sasha and Emma“ selbst ins romanhafte ab, und ebenso selten werden die Leserinnen und Leser mit überflüssigen Kleinigkeiten gequält, etwa, wann Emma Goldman sich wo in Paris welche Gläser für ihre Brille anfertigen ließ. „Der Biograph“, hat Kurt Tucholsky einmal gesagt, „lässt fremde Muskeln schwellen“.
Paul und Karen Avrich bewältigten ihre Aufgabe aus eigener Kraft. Beide sind so gut wie nie der Versuchung erlegen, das Leben ihrer Protagonistinnen und Protagonisten Jahrzehnte später noch einmal leben zu wollen, bis in seine unbedeutendsten Details hinein.
Man darf hoffen, dass „Sasha and Emma“ künftig innerhalb der internationalen Anarchismusforschung die ihm gebührende Beachtung als kritische Biographie finden wird.
Ob das Werk allerdings auch als Geschichte des (vor allem) US-amerikanischen Anarchismus und seines Einflusses innerhalb der Arbeiterbewegung gelesen werden kann, ist eher zweifelhaft. Einem unausgesprochenen Forschungskonsens entsprechend orientieren sich wissenschaftliche Studien zum Anarchismus seit Jahrzehnten vorrangig an den Lebensläufen einzelner Aktivistinnen und Aktivisten.
Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Dominanz oft ungenauer oder zu abstrakter Kategorien der politischen oder Sozialgeschichte, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts den wissenschaftlichen Diskurs bestimmten. Man wollte Geschichte wieder näher an die Menschen heranrücken, wollte mechanistische Modelle von Ursache und Wirkung differenzieren und erfahren, wie ein Anarchist des 19. Jahrhunderts tatsächlich lebte, dachte, aß, trank, sich kleidete und mit welchen Schwierigkeiten er fertig werden musste.
Die methodische Hegemonie des Biographismus hat in der historischen Anarchismusforschung die Detailkenntnisse zu Akteurinnen und Akteuren nationaler anarchistischer Gruppen und Bewegungen enorm vergrößert und so manchen bemerkenswerten Lebenslauf vor dem Vergessen bewahrt.
Um aber auf diesem Wege ein schlüssiges Gesamtbild der politischen und sozialen Situation zu bekommen, müssten geradezu olympische Forschungsleistungen erbracht werden (man denke nur an Jean Maitron und sein gewaltiges Nachschlagewerk zur französischen Arbeiterbewegung, das nahezu ausschließlich aus biographischen Portraits besteht).
Eine biographistische Perspektive ist naturgemäß beschränkt. Denn man folgt für gewöhnlich den Schritten eines Menschen. Kein Einzelner jedoch ist repräsentativ für „das Ganze“. Und selbst, wenn man versucht, sein Denken und Handeln in einen größeren Rahmen zu stellen, so darf man sich doch nie zu weit von seinen Hosen- oder Rocksäumen entfernen, will man nicht seinerseits in Ungenauigkeiten verfallen oder die Kohärenz seiner Studie gefährden.
Biographismus ist kein Königsweg zu historischer Erkenntnis
Nun ist es natürlich absurd, einer ausgewiesenen Biographie vorzuwerfen, sie sei „biographistisch“. Gleichwohl ist „Sasha and Emma“ bei allen Stärken auch ein anschauliches Beispiel für die Grenzen, an denen eine ganz auf das Leben Einzelner ausgerichtete Forschung stehen bleiben muss.
Es fällt beispielsweise beim Lesen schwer, einzuschätzen, wie relevant der Anarchismus innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft eigentlich war.
Folgt man der äußerst genauen Auflistung von Emma Goldmans zahllosen Vorträgen, muss der Eindruck entstehen, noch im kleinsten Dorf habe man um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die schwarze Fahne aufgezogen. Dass dem nicht so war, bedarf kaum der Erwähnung.
Die Dominanz sozialistischer Organisationen – Goldmans persönlicher Freund etwa, der Schriftsteller Jack London, hielt als überzeugter Sozialist wenig von ihren politischen Ideen – und der rasch wachsende Einfluss kommunistischer Gruppen, zumal auf die US-amerikanische und europäische Intelligenz, werden allenfalls gestreift.
Ganz auf biographische Daten und private Korrespondenz konzentriert, vermerken Paul und Karen Avrich zum Beispiel den massiven Widerstand, den gerade in England Kommunisten gegen die bolschewismuskritischen Vorträge Goldmans organisierten, zu knapp und eher am Rande. Goldman selbst neigte dazu, in Briefen an Freunde diese Schwierigkeiten herunterzuspielen. Sie sind für eine Schilderung der sich verschiebenden politischen Hegemonien in Europa daher wenig hilfreich.
Es fehlt „Sasha and Emma“ gelegentlich an einschränkender Kontextualisierung, und häufig muss man sich Informationen über das größere politische Panorama aus Nebensätzen zusammenklauben.
Am besten ist das Buch immer dann, wenn das Leben Berkmans und Goldmans umfassend kontextualisiert wird mit den Entwicklungen und Ereignissen innerhalb der Arbeiterbewegung. Dies geschieht allerdings im Grunde nur ein einziges Mal, nämlich bei der Schilderung der Vorgeschichte zum gescheiterten Attentat Berkmans auf den Industriellen Henry Clay Frick, das ihm 14 Jahre Haft in einem infernalischen Loch in Pittsburgh einbrachte: dem berühmten Homestead-Streik.
In Homestead (Pennsylvania) war es 1892 zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Streikenden eines Carnegie-Stahlwerks und Pinkerton-Detektiven gekommen, die von der Werksleitung angefordert worden waren.
Die Detektei Pinkerton war ein nicht-staatlicher Sicherheitsdienst für Großunternehmer, private Schlägern und Mordgesellen, die Streiks mit Gewalt brechen sollten. Die Arbeiter bewaffneten und verschanzten sich, und als die Pinkerton-Leute auf zwei Lastkähnen den Fluss hinaufkamen, nahmen sie sie unter Feuer.
Das Gefecht dauerte Stunden, hinterließ mehrere Tote und endete mit einem Sieg der Stahlarbeiter. Es war der spektakulärste „Arbeitskampf“ der US-amerikanischen Geschichte.
Der Triumph war allerdings nur von kurzer Dauer. Mit ausdrücklicher Genehmigung seines Vorgesetzten rief Frick, der Manager des Stahlwerks, nun die Nationalgarde zur Hilfe, um die Region zu „befrieden“.
Diese „Befriedung“ ging ausschließlich zu Lasten der protestierenden Arbeiter. Der Streik wurde unterdrückt. Für den jungen, fanatischen Berkman bedeutete Homestead das lange erwartete „Erwachen der Arbeiterschaft“, und das Eingreifen der Nationalgarde auf Seiten der Unternehmer, dass der Staat mit Ausbeutern und „Arbeitermördern“ unter einer Decke steckte.
Er verschaffte sich mit Goldmans Hilfe einen Revolver, bastelte sich ein Messer und machte sich von New York aus auf den Weg, um Frick zu töten.
Noch aus einem anderen Grund sind die Kapitel zu Homestead, Berkmans Attentat und seiner Verurteilung in der Gesamtkomposition des Buches besonders interessant. Denn auf ebenso unaufdringliche wie detaillierte Weise diskutieren Paul und Karen Avrich an dieser Stelle Hintergründe, Motivationen und Wirkungen des individuellen Terrors, jener „Propaganda der Tat“, deren Geschichte in der Vorstellung weiter Teile der Öffentlichkeit dem Anarchismus noch heute wie ein schauriger Widergänger nachtappt.
Selten sind die Schilderungen in „Sasha and Emma“ so dicht und – man kann es nicht anders sagen – packend wie während der Vorbereitung Goldmans und Berkmans auf das Attentat.
Wohl selten allerdings ist auch der blutige Irrsinn des individuellen Terrors so schlüssig verdeutlicht worden.
Sowohl Berkman als auch Goldman befürworteten und verteidigten Zeit ihres Lebens revolutionäre (auch individuelle) Gewalt als legitimes Kampfmittel. Als allerdings der junge Berkman, gerade einmal Anfang Zwanzig, nach seinem gescheiterten Mordanschlag blutbeschmiert und geschlagen durch die Straßen von Homestead geführt wurde, schlug ihm von Seiten der streikenden Arbeiter und ihrer Familien blanke Feindseligkeit entgegen.
Entsetzt musste er feststellen, dass man ihn keineswegs als „Helden der Revolution“ feierte, der im Sinne der „Vielen“ gehandelt habe. Im Gegenteil: Frick, der sich seinem Attentäter mutig widersetzt und sogar verhindert hatte, dass man ihn lynchte, gewann durch den Anschlag jene Sympathien zurück, die er auf nationaler Ebene durch den Einsatz der Pinkertons verspielt hatte.
So ungleich waren Sympathie und Antipathie innerhalb der Arbeiterschaft verteilt, dass einige Arbeiterzeitungen sogar mutmaßten, Berkman sei von Frick für das Attentat bezahlt worden, um sein Image aufpolieren zu können. Hugh O’Donnell, Chairman der Eisen- und Stahlarbeitergewerkschaft, sagte: „Die Kugel aus Berkmans Pistole […] ging mitten durchs Herz des Streiks von Homestead“ (S. 78).
Paul und Karen Avrich weisen darüber hinaus nach, dass Berkman sein Attentat wesentlich nach einem Vorbild aus der russischen Romanliteratur (!) konzipiert hatte. Die Kollision von heroischer Fiktion und Wirklichkeit war blutig und folgenschwer.
Trotz der erwähnten gattungs- und methodenbedingten Schwächen bietet „Sasha and Emma“ insgesamt eine lehrreiche, anregende Lektüre auf wissenschaftlich hohem Niveau. Sie ist ebenso dazu angetan, überlebte Mythen zu korrigieren, wie die Faszination eines nicht-wissenschaftlichen und bewegungsfernen Publikums zu wecken für Leben und Werk zweier Menschen, die immer ihren Idealen treu geblieben sind – im Guten wie im Bösen.
Avrich, Paul, Karen Avrich, Sasha and Emma. The Anarchist Odyssey of Alexander Berkman and Emma Goldman, Cambridge/MA, London (The Belknap Press of Harvard University Press) 2012