schwerpunkt: wahlnachlese

Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen … (II)

II. Vermutungen über Merkels Erfolg

| David Schuster

Viele entscheidende Zukunftsfragen werden in den Wahlkämpfen ausgeblendet, z.T. weil dafür niemand eine "Lösung" anbieten kann. Dann bleibt nur "Vertrauen", also die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Personen. Und: Ob man vermutet, dass die eigenen Interessen bei Kandidatin X besser aufgehoben sein werden als bei den "Mitbewerbern", und so wird auch der Wahlkampf betrieben.

Ein Ausdruck dafür ist auch der in zahlreichen Untersuchungen festgestellte Wunsch nach einer großen Koalition aus CDU und SPD. Gerade gegen die gespürte Krise wünschen sich die WählerInnen eine breite und gesellschaftlich sicher verankerte Konzeption, die auf Ausgleich der Interessen zielt.

Auf der anderen Seite können die Themen, die man „nicht in den Wahlkampf ziehen“ und erst entscheiden will, wenn Probleme tatsächlich zur Entscheidung reif sind, Kristallisationspunkte für neue Organisationen werden, in diesem Wahlkampf die „Alternative für Deutschland“, die das Thema Euro, Schuldenkrise in der Sicht nationaler konservativer Interessen aufgreift.

Was Strauß einmal an Kohl kritisiert hatte, er wolle „im Schlafwagen zur Macht“, hat sich als Strategie Merkels bewährt: Keine große Konfrontation, keine polarisierenden Polemiken, keine schrillen Töne. Dezente Programmatik. Man weiß, was WählerInnen schätzen und was sie abschreckt. In den Krisen der Welt sehnt man sich nach festen Bezugspunkten und Verlässlichkeit. Man kann auf eine gute Konjunktur hoffen, internationales Ansehen, auf den Amtsbonus und die Fehler, Patzer, Pannen, Peinlichkeiten der politischen GegnerInnen vertrauen, das genügt.

Merkel tritt uneitel auf, bescheiden, kein „Basta“, kein herausgehängter „Führungs“-Anspruch, keine Affären und Gehaltsforderungen, erledigt aber in einem lautlosen Macchiavellismus ganze Riegen eitler Gockel und selbstgefälliger Knalleffekthascher, man kann nur hoffen, dass es noch einige trifft. So wie es nun die FDP erwischt hat.

Hat da Rösler nicht einmal einen Scherz auf ihre Kosten gemacht? Zu früh gefreut! Die Union hat die schon flehentliche Zweitstimmenkampagne der FDP, die die „Liberalen“ noch mit großen Erfolgen in den letzten Landtagswahlkämpfen eingesetzt hatten, pariert, deutlich und offen dagegen agitiert: Die FDP muss es aus eigener Kraft schaffen (oder eben nicht!). Denn in Niedersachsen hatte das gute FDP-Ergebnis letztlich der Union die Landesregierung gekostet und SPD/Grüne knapp an die Regierung gebracht. Also hielt die Union dem Werben der FDP stand, und die Frage war nur, ob potentielle AfD-WählerInnen eine tatsächliche Entscheidung für die konservative und national agierende Wirtschaftspartei AfD für so gefährlich halten würden, dass sie das „kleinere Übel“ FDP noch einmal wählten – oder ob die Aktivitäten der FDP sie seit Jahren so abstießen, dass sie nun lieber ältere, konservative, männliche Wirtschaftsprofessoren ankreuzen wollten. Es ging, wie wir jetzt wissen, für beide Parteien die Rechnung nicht auf, auch wenn die AfD erstaunliche Erfolge besonders auch im Osten der Republik erzielen konnte und sich als konservative Kraft für enttäuschte Unions-Wähler etablieren könnte. Vor der FDP steht die Aufgabe eines kompletten Neubeginns: Keine historische Notwendigkeit, Pfälzer Wein zu trinken.

Natürlich muss Merkel den kompletten Absturz der „Partei der Freiheit“ (so die groteske Selbstbeschreibung der FDP, einer reinen Wirtschafts- und Klientelpartei mit wenig Programm außer: Machtbeteiligung, Lobbyismus …) offiziell bedauern, aber jeder kann leicht verstehen, dass sie froh ist, solche Selbstdarsteller und Sprücheklopfer loszuwerden – und nicht wenige WählerInnen hatten genau daran nicht mehr geglaubt. (1)

Merkel kann auch mit der SPD oder den Grünen regieren, wenn diese denn zum Wollen veranlasst werden können.

Unterschiede?

Das Problem mit den Unterschieden zwischen den Parteien ist, dass die Parteien in aller Regel etwas ganz anderes tun als angekündigt und ihrer Programmatik entsprechend. Sie folgen dann „Sachzwängen“, definiert als ökonomische oder politische Zwänge, die sich aus der Stellung des Landes in Europa, der ökonomischen Konkurrenz, Bündnisverpflichtungen usw. ergeben. Die Folgen dieser Entscheidungen sind oft ähnlich ungewiss wie es die Folgen von Unterlassungen wären. Nur die politische Illusion tut so, als sei ein einfaches Entscheiden und Handeln möglich, im Kern auch eine autoritäre Vorstellung.

Vielleicht gehört es zu Merkels Erfolgsrezept, dass sie diesen Sachverhalt – die eigentlich geringen Spielräume, die Angewiesenheit auf Kompromisse, die eigentlich geringen Differenzen offen legt, darin vielleicht politischer als ihre Gegner, weil sie so ihre Politik von vielen Ansprüchen entlastet und weniger unhaltbare Versprechungen macht, dies aber gleichzeitig in einem Stil feiert, der etwas von der früheren DDR bewahrt: Man eilt von Erfolg zu Erfolg („die erfolgreichste Regierung seit der Wiedervereinigung“), alles ist gelungen. Dann läuft natürlich ein SPD-Spruch, man „sei ins Gelingen verliebt“ (war das nicht Bloch statt Steinbrück?) ins Leere, und gar „Das WIR entscheidet“ wird durch ein „Ick bün all hier“ konterkariert.

Der Versuch, besonders in den seriösen Medien, tatsächliche Programm-Unterschiede zwischen den Parteien darzustellen, scheitert oft nicht nur an den tatsächlich geringen Unterschieden, sondern daran, dass viele noch in Erinnerung haben, dass nach den Wahlen die tatsächliche Politik nicht von den vorherigen Versprechen geleitet wird.

Das gilt im Guten wie im Bösen, aus unserer Sicht. Merkels Wahlkampf vor vier Jahren und die ersten holprigen Schritte der schwarz-grünen Regierung galten bekanntlich der Laufzeitverlängerung für AKWs, und doch hat sie durch den gesellschaftlichen Druck nach dem Fukushima-Unfall in Japan den Ausstieg schließlich auf eine so breite Basis gestellt, dass man schwerlich hinter den Beschluss wieder zurück kann ohne ganz gravierende Legitimationsverluste. Versuche, das Atomprogramm durchzusetzen, endeten für die Regierenden mehrfach mit dem Eingeständnis, der Bau von AKWs oder einer Wiederaufarbeitungsanlage seien „politisch nicht durchsetzbar“ – und das trotz einer parlamentarischen Mehrheit. Diese bröckelt in der Regel, wenn genug Protest und Widerstand mobilisiert wird.

Das „rot-grüne Projekt“ hat außenpolitisch ein militärisches „Engagement“ durchgesetzt wie es der CDU schwerlich gelungen wäre, innenpolitisch eine Enteignung unterer und mittlerer Schichten bei gleichzeitiger Konzipierung neuer Geschäftsmodelle für Banken und Versicherungen – alles in direktem Gegensatz zur Programmatik und den Wahlkampfthemen. Der Wahlkampf 2013 auch und gerade von SPD und Grünen war wesentlich Wahlkampf gegen die Regierungsbeschlüsse der letzten rot-grünen Koalition.

Eine Partei, die – wie früher die Grünen und jetzt noch die Linke – tatsächlich eine Politik vertritt, die nicht durch etwas Mediendruck und „Sachzwänge“ ohne weiteres zurechtgebogen werden kann, weil sie aus sozialen Protestbewegungen oder kulturell unvereinbaren Motiven begründet wird, muss eben von der Regierung so lange ferngehalten werden (und wird das!) bis sie sich zu einer geschmeidigeren Politik bequemt.

Wahlbeteiligung signalisiert vielleicht stärker den Wunsch, sich als dazugehörig darzustellen (im Gegensatz zu den Verlierern, die eben nicht mehr wählen, die 20% der Ausgeschlossenen und Abgehängten) als dass sie irgendetwas mit Programmen zu tun hätte. So wie auch andere Formen des Konsums soziale Distinktion und den Willen, irgendwo dazuzugehören darstellen.

So bleiben oft die deutlichsten Differenzen jene zwischen Personen und deren Habitus.

Mit der offensichtlichen Differenz der Verhaltensstile der politischen RepräsentantInnen setzt sich der Leiter des taz-Parlamentsbüros Ulrich Schulte so auseinander, dass er die hohen Sympathiewerte Angela Merkels auf ihre scheinbare Normalität zurückführt (hat es nicht doch mit ihrer Politik zu tun? Machen die wirklich nur andere?): „Merkels Normalität trifft ein Bedürfnis, anders ist ihre Beliebtheit nicht zu erklären.“ (2) Er nutzt diese Spekulation nur, um seine eigenen Bedürfnisse bekannt zu machen: „Ich will von einem Politiker eigentlich nur eines. Er soll klug und hart das Programm vertreten, das er mir verspricht. Wie er sonst tickt, interessiert mich nicht. Mein Bundeskanzler darf viel mehr Geld verdienen als ein Sparkassendirektor, solange er für die Bedürfnisse der Armen kämpft. Er darf Champagner trinken, solange er in Europa solidarisch agiert …Ich verstehe auch nicht, wie man einem Politiker vorwerfen kann, er sei ein arroganter Besserwisser. Ja klar, Typen wie Steinbrück, Trittin, Westerwelle oder Röttgen sind Rechthaber. Sie haben ständig alle Fakten parat, ihnen strahlt die Selbstgewissheit aus jedem Knopfloch … Ich sage: Willkommen, Besserwisser! Ich will, dass der Bundeskanzler seinen Job erledigt. Ich will den oder die Klügste, den oder die Härteste, kurz: Den oder die Beste. Etwas Verschlagenheit nehme ich gerne mit dazu. Politik ist ein brutales Geschäft. In dem etwas abgründige Bosheit nicht schadet, sondern nutzt. Politiker stehen für die Interessen gesellschaftlicher Gruppen, die sie miteinander aushandeln …“

Nach diesen Redensarten nehme ich an, dass Schulte versucht hat, wieder Karl-Theodor zu Guttenberg zu wählen, den einstmals strahlend großen Hoffnungsträger, der nun über die New York Times und Financial Times – doch, doch, die Netzwerke halten – versucht, Merkels „energisches Zögern“ bloßzustellen. Warum bei der Hessenwahl nicht wieder für Roland Koch stimmen, der gerade 1200 Stellen bei Bilfinger streichen will (Organisation straffen, Verwaltung zentralisieren, „Synergieeffekte nutzen“, alles bewährte Konzepte der Besserwisser) und in kurzer Zeit bereits zwei seiner Vorstandskollegen herausgeekelt hat, ja, das sind noch Männer: Nur die harten kommen zu Gazprom!

In der Tat sind solche Erörterungen sicherlich zwischen Männern und Frauen strittig, und das wird sich auch im Wahlergebnis zeigen lassen. Ich wette, dass die weibliche Anhängerschaft Steinbrücks sich sehr in Grenzen hält, trotz einiger Versuche, ihn mit dem Weichzeichner zu bearbeiten.

Schultes Tirade klingt wie das späte Echo einer ehedem beliebten Kritik an der „Tyrannei der Intimität“, ein großer Renner der „kritischen Kritik“ der 80er Jahre. (3)

Aber auf welche KandidatInnen wäre jene von Horx und Co. schon zu Tode gerittener Kritik-Gestus denn heute anzuwenden?

Es ist nicht Merkel, die für Gala als Frida Kahlo Modell steht, Merkels Mann bleibt im Hintergrund und niemand weiß, ob sie überhaupt einen Hund hat, jedenfalls schmückt dieser keine Rossmann-Produkte.

(1) Der marxistische Analytiker Georg Fülberth im Neuen Deutschland vom 24.08.13: "Dass die FDP wieder in den Bundestag kommt, scheint ohnehin klar, alle Untergangsprophezeiungen für diese Partei seit fünfeinhalb Jahrzehnten haben sich blamiert."

(2) taz vom 21./22.09.13, S. 7: Bitte keinen Streuselkuchen mehr

(3) Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 1983