nachruf

Nachruf auf Dieter Hildebrandt

| Joseph Steinbeiß

Ist Deutschlands bekanntester Kabarettist automatisch Deutschlands bester Kabarettist? Oder ist es umgekehrt? Muss man misstrauisch sein gegenüber der Angriffslust - und Angriffslustigkeit - eines Kabarettisten, nur weil er schier allgegenwärtig war? Und benötigt ein "Gewissen der Nation" nicht nur, wer selber keines hat oder nichts damit anzufangen weiß? Fragen, die man sich stellen kann, wenn man auf die letzten Jahre der langen Karriere von Dieter Hildebrandt blickt, der nun, am 20. November 2013, im Alter von 86 Jahren in München gestorben ist.

„Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein Affe sich quält“, lässt Georg Büchner seinen Danton sagen. Und quälend war es ohne Zweifel, wie der alternde Hildebrandt durch die Talkshows gereicht wurde, in denen sich seine politischen Freunde und Gegner wie Affen vor ihm quälten – Norbert Blüm vorneweg. Dieter Hildebrandt war für ein millionenfaches Fernsehpublikum die Mensch gewordene Gewissheit, dass „das Kritische schon nicht zu kurz kommen“ werde. Der Minimalzusatz an Selbstironie, Geist, Charme, Intelligenz und Witz, um den flauen Papp des Medienbreis leidlich erträglich zu machen.

Er war aber gleichzeitig auch das zulässige Höchstmaß dieser Ingredienzien, damit sich am Ende nicht doch noch jemand an eben diesem Brei die Zunge verbrannte. Im Grunde blieb sich Hildebrandt bei derartigen Auftritten sogar treu: denn seine Karriere als Kabarettist war im Wesentlichen eine Fernsehkarriere gewesen.

Ob sich aber wohl auch nur einer jener Intendanten und Regisseure, die ihn da im weichen Sessel vor die Kamera schoben, damit er, milde und begütigend, zum hundertsten Mal über seine Erlebnisse während des Krieges, das Wunder von Bern oder Franz Josef Strauß erzählte, erinnerte, wie treffend dieser Hildebrandt einmal den Irrglauben gegeißelt hatte, massenhafter Zuspruch sei ein Zeichen für Qualität?: „Leute, fresst Scheiße! Millionen Fliegen können nicht irren“.

Hätten sie so einen wohl eingeladen?

Die künstlerische Karriere Dieter Hildebrandts ist voll von solchen Widersprüchen. Es war wohl die große Kabarettistin Helen Vita, die das Unerklärliche an dieser Karriere am besten auf den Punkt brachte: „Jemand studiert Theaterwissenschaften, geht auf die Bühne und ist dann auf einmal Dieter Hildebrandt“.

Er war nie der Beste seines Fachs. Durch die Schauspielprüfung an der berühmten Falkenbergschule in München fiel der junge Hildebrandt sang- und klanglos durch. Er konnte schlecht singen, beherrschte kein Instrument, und seine Tanzschritte waren für sich genommen schon eine äußerst erheiternde Kabarett-Nummer.

Trotzdem prägte er Orientierung, Stil und Ausdruck des Kabaretts wie kaum ein zweiter: Zum Beispiel durch seine legendären falschen Versprecher, die er im Laufe seines Bühnenlebens derart perfektionierte, dass man am Ende ständig zusammenzuckte, weil man meinte, der alte Mann habe sich tatsächlich versprochen.

Er war nie der Schärfste seines Fachs. Wolfgang Neuss – übrigens wie Hildebrandt stets treues SPD-Mitglied – war in den sechziger Jahren viel schärfer als er. Sein Freund, Regisseur und Weggefährte, der Sportreporter Sammy Drechsel, wünschte Hildebrandt sogar öffentlich „neussschen Biss“. Trotzdem war auch Hildebrandts Satire zuweilen rabenschwarz, treffsicher und gefürchtet.

„Die wahre Satire verletzt nicht“, schrieb der Literaturparodist Robert Neumann einmal: „Die wahre Satire tötet“. In seinen besten Momenten war dies auch Hildebrandts Motto. Etwa, als er mitten in den Debatten um die Berufsverbote sich selbst in einem gestellten Verhör von einem Gutachter fragen ließ: „Wie stehen Sie zum privaten Eigentum?“. Hildebrandts Antwort: „Mnjaaa…“.

Oder als er nach der Wiedervereinigung genüsslich eine Erklärung des Bischofs von Fulda verlas, in der es unter anderem hieß: „Man mache sich da keine Illusionen: Die neuen Bundesländer in ihrer Mehrheit sind weder christlich noch abendländisch, sondern nach 40 Jahren staatlich verordneter Gehirnwäsche mehrheitlich heidnische Länder. Das ist zunächst einmal nüchtern festzustellen“. Hildebrandts trockener Kommentar: „Das kann er nicht nüchtern festgestellt haben“.

Hildebrandt war aber auch nie der Meistzensierte seines Fachs. Dieser Irrtum ist aufgekommen, weil sich der Bayrische Rundfunk stets besonders dusselig anstellte, wenn er in vorauseilendem Gehorsam versuchte, anstößige Sendungen Hildebrandts aus dem Programm zu streichen – am berühmtesten wohl nach Tschernobyl, als der zuständige Programmdirektor eine Sendung des „Scheibenwischer“ in Bayern ausschalten ließ. In dieser Folge spielte unter anderem Lisa Fitz die hinreißende Nummer vom verstrahlten Großvater: „Ja, müssen wir unser’n Opa denn nu‘ endlagääärn? Oder wiederaufarbeiten?“.

Wolfgang Neuss, Dietrich Kittner, Floh de Cologne… sie alle machten mehr oder weniger schmerzhaft Erfahrungen mit dem, was nach dem Willen des Grundgesetzes in Deutschland gar nicht stattfindet: der Zensur.

Eines aber hat Dieter Hildebrandt ohne Zweifel exklusiv für sich

Er war, im physischen wie im künstlerischen Sinne, einer der langlebigsten Bühnenkünstler in der über hundertjährigen Geschichte des deutschen Kabaretts. In ihm bündelten sich gut 50 Jahre erlebte, gelebte, angewandte und weiterentwickelte Kabarettkunst.

Seine Laufbahn begann er in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Münchner Kabarett „Die kleine Freiheit“ – als Platzanweiser. Erich Kästner und Martin Morlock waren die Autoren, den größten Einfluss auf Hildebrandt aber hatte Werner Finck, der eines Abends, misslaunig und gereizt, weil er eigentlich nach Hause wollte, in der „Kleinen Freiheit“ ein Gastspiel gab, das der junge Dieter nie vergessen konnte: „Eine Mischung aus Wut und Spielfreude“, wie er sich später erinnerte.

Im Kabarett „Die Namenlosen“ spielte er unter anderem mit Klaus Peter Schreiner, einem ehemaligen Mitglied des Studentenkabaretts „Die Amnestierten“, das während der 50er Jahre grell, frech und bunt gegen die Wiederbewaffnung Sturm lief. Zum ersten Ensemble der „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ gehörte der große Star des Berliner Vorkriegskabaretts, Ursula Herking. Hildebrandt entwickelte das journalistische Kabarett der Anfangsjahre rasch weiter zu einer fast schon literarischen Kunstform, ohne dabei in seinen besten Momenten an Biss und Schärfe zu verlieren.

Bald begann auch seine Präsenz im Fernsehen – mit den erwähnten Begleiterscheinungen. Eine Nummer mit Gerhard Polt über den Rhein-Main-Donau-Kanal soll Franz Josef Strauß mehrere Nächte lang vor Wut den Schlaf geraubt haben. Das gelungenste Fernsehformat Hildebrandts waren vermutlich die „Notizen aus der Provinz“: ein Fernsehmagazin, das Fernsehmagazine auf die Schippe nahm. Auch sein erstes Programm mit Werner Schneyder war erfrischend.

Ob die zahllosen Sendungen des „Scheibenwischer“ dann noch das wünschenswerte Niveau an Kunstfertigkeit und Angriffslust hatten, mögen andere beurteilen. Kabarett im Fernsehen war noch nie das beste Kabarett. Daran änderte auch Dieter Hildebrandt nichts. Aber immerhin: Er versuchte es wenigstens.

Hildebrandt war ein im besten Sinne des Wortes konservativer Kabarettist

Er verteidigte, als Kind von Krieg und Diktatur, die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland und ihr Grundgesetz. Er kämpfte für elementare Werte wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Transparenz. Er war das genaue Gegenteil eines Brandsätze schleudernden Bühnenumstürzlers. Aber man mache sich da nichts vor: Auch das Kabarett ist eine zutiefst bürgerliche, bildungsbeflissene und kulturbewahrende Kunstform. Wenn der Kabarettist mit dem erworbenen Wissenszusammenhang des Publikums spielen will, so muss er diesen Wissenszusammenhang teilen, sonst wird keine seiner Pointen zünden. Was also tun, wenn man Abend für Abend vor 300 Oberstudienräten spielt?

Die Versuche der Achtundsechziger, die gemütlichen Familienzusammenkünfte des gebildeten Bürgertums im Kleinkunstkeller durch ideologisches Gebrüll von der Bühne herab zu ersetzen, haben im Grunde nur eines bewirkt: grausige Programme. Erst die Szene-Kabaretts der „Drei Tornados“ und des „Vorläufigen Frankfurter Fronttheaters“ verschoben die ‚Kunst des Kabaretts‘ sachte in ein neues Milieu.

In gewissem Sinne war Dieter Hildebrandt tatsächlich so etwas wie die Verkörperung des deutschen Kabaretts, mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen. Die Lücke, die sein Tod gerissen hat, wird nicht leicht zu füllen sein. Denn vermutlich wird man sich schon bald nach einem intelligenten Konservativen wie ihm zurücksehnen, wenn auf der Mattscheibe endgültig nur noch grenzdebile, grunzende Dauergrinser herumhampeln und öffentlich-rechtliche Sender dieses trübe Spektakel als „Kabarett“ zu verkaufen versuchen.