Unter den Veröffentlichungen und Diskussionen anlässlich des 100. Geburtstags von Albert Camus muss uns besonders eine Veröffentlichung unseres Freundes Lou Marin, der zur HerausgeberInnen-Gruppe dieser Zeitung gehört, interessieren. 1998 erschien von ihm im Verlag Graswurzelrevolution: "Ursprung der Revolte: Albert Camus und der Anarchismus". Im kommenden Jahr wird eine vollständig überarbeitete Fassung dieses Werks bei uns erscheinen. Nun hat er im LAIKA-Verlag "Albert Camus - libertäre Schriften" übersetzt und kommentiert. Es werden nicht nur Camus' Beiträge zu libertären Zeitschriften und Kampagnen dargestellt, sondern auch Erinnerungen an ihn und kritische Diskussionen seiner Veröffentlichungen, so dass ein Bild des Beziehungsgeflechts entsteht (1).
Wie stark Camus an Diskussionen, Aktivitäten, Kampagnen von AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen beteiligt war, zeigt sehr gut die ausführliche Einleitung Lou Marins.
Die 50er Jahre sind uns atmosphärisch heute fremd, viele Themen und Bezüge verblasst, so dass eine Kommentierung von Ereignissen und Personen notwendig ist, um zu einem angemessenen Verständnis der Texte zu gelangen und diese in ihren Kontext zu stellen. Gerade die für Camus selbstverständliche Verbindung zu den Traditionen und Aktivitäten der antiautoritären ArbeiterInnen wurde auch in früheren deutschsprachigen Veröffentlichungen nicht deutlich.
I. Camus lesen und wiederlesen
1970 bestellte ich beim politischen Buchladen „Aktion“ in Tübingen mehrere Exemplare von Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ neben anderen Büchern, etwa dem Raubdruck von Anna Freuds Werk „Das Ich und die Abwehrmechanismen“, auch dieses gleich mehrfach zur Weiterverbreitung.
Langfristig war sicherlich „Das Ich“ bei den KäuferInnen wesentlich „nachhaltiger“ und besonders die Abwehrmechanismen sollen sich im Dauerbetrieb als erstaunlich stabil erwiesen haben, während die „Revolte“ auch bei mir selbst mit allerhand Ablenkungen und Unterbrechungen zu kämpfen hatte.
Es gehört zu den Problemen der Revolte und der sozialen Bewegungen, dass es hier Diskontinuitäten gibt.
Also spielte Camus nur gelegentlich in unseren Diskussionen eine Rolle, unsere Büchertische boten immer ein oder zwei Werke von Camus an. Dabei war Camus damals sehr unzeitgemäß (2). Auch später wurde in unseren Veröffentlichungen Camus immer wieder zu einem Bezugspunkt. (3)
Der „Mensch in der Revolte“ gehört für mich zu den unterschätztesten Büchern. Man kann der Beschreibung und Beurteilung jeder einzelnen Person und Bewegung widersprechen und muss doch zugeben, dass hier versucht wird, wirkliche Probleme der sozialen und ästhetischen Befreiungs-Bewegungen zu behandeln, innere Widersprüche, die ursprüngliche Impulse sogar in ihr Gegenteil verkehren können.
Es handelt sich um den Versuch, eine „Dialektik der Aufklärung“ rebellischer und revolutionärer Motive darzustellen, die wenig verstanden wurde und auch von den sich „postmodern“ Deklarierenden nicht aufgenommen wurde, obwohl viele ihrer Themen auch hier schon behandelt sind. Letzteres allerdings mit einem positiven Bezug auf die Tradition des antiautoritären Sozialismus.
Dass das Buch kaum systematisch diskutiert wurde, hat neben dem Zeitgeist möglicherweise auch mit der Übersetzung zu tun und einer fehlenden Kommentierung, so dass man bei der Kommune nicht an die Pariser Commune denkt, sondern an die „Gemeinde“, die auch schon bessere Zeiten erlebt hat und einmal Freiheiten gegen feudale und absolutistische Ordnung verteidigte, während heutige LeserInnen bei dem Wort eher an ihre Schlaf- und Überwachungsstädte denken. Mir ist schon die Übersetzung des Titels nicht recht geheuer: “ … in der Revolte“ hat – gegen die Intention des Verfassers – eine Tendenz zur Verdinglichung und Verräumlichung. Wie wäre „Der revoltierende Mensch“? Besser noch: „(Wir) Revoltierende Menschen“, denn die Konzeption zielt auf den Plural und auf Brüderlichkeit, Anerkennung zwischen den Revoltierenden: Der immer wieder abirrende, von enormen Rückschlägen begleitete Weg „Vom Ich zum Wir“.
Die ästhetischen und philosophischen Revolten, der Individualismus kommen ja über bloße Modernisierungsbewegungen nicht hinaus, versumpfen im Betrieb. Zu ihrer Erweiterung und Stabilisierung bedarf es einer gesellschaftlichen Synthese aus Freiheit und Gerechtigkeit, die nie gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
Wie oft war die Bewegung der Rebellion so wie es Camus‘ Leser Dylan dargestellt hat:
„There was music in the cafes at night
and revolution in the air.
Then he started into dealing with slaves
And something inside of him died …“
(Tangled up in blue, wie auch der Plattentitel sagt: Blood on the tracks!).
Im Gegensatz zu einem erfolgsanbeterischen „Immer mehr, immer besser“ (wogegen auch Gustav Landauer schon vergeblich gepredigt hat und wie es leider nicht nur für Sozialdemokratie und „real existierenden Sozialismus“ so typisch werden sollte) ist für die sozialen Bewegungen wie die anarchistische Theorie gerade die Frage nach den Niederlagen und den Niederlagen in den Scheinsiegen das zentrale Thema.
„Der Mensch in der Revolte“ ist ein Buch über Ziele und Mittel, das auch von viel zu vielen libertären Erörterungen über „Ethik“ ignoriert wird, ein Buch, das mit Simone Weil die konkrete Situation der Arbeitenden in den Blick nimmt und damit ihre Versklavung unter Technik und Organisation (die Disziplin, die am Arbeitsplatz gelernt wird, schult nicht etwa in Vorbereitung auf den Sozialismus, wie Marx postulierte, sondern sie zerstört den unabhängigen Geist der Freiheit wie des Gerechtigkeitsempfindens außer in konkurrierenden Schrumpfformen und zuletzt bleibt auch von der Brüderlichkeit nur: Die Ich-AG!). Deshalb gab es in den 70er Jahren die Fragestellung, ob revolutionär nicht nur die Industriearbeiter der ersten Generation sind, diejenigen, die einen moralökonomischen Hintergrund haben, wie er auch bei Camus immer wieder anklingt und die eben noch Utopien mitbringen, die sie nicht ohne weiteres dem Technikfetisch und einer Standortlogik opfern.
Revoltieren nicht nur die, die sich noch nicht eingewöhnt haben?
Ich führe ein letztes Beispiel an: Wie viele Einführungen in Sozialismus oder Herrschaftslosigkeit begnügen sich immer noch saint-simonistisch damit, zu behaupten, Ziel sei „die Ablösung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Verwaltung von Sachen“. Diese alte Formel wurde so oft wiederholt, dass dabei ganz vergessen wurde, dass längst die „Verwaltung von Sachen“ (und damit von Menschen als Sachen, Camus war natürlich zu seiner Zeit geprägt durch die nationalsozialistischen und stalinistischen Lager!) zum entscheidenden Merkmal von Herrschaft geworden ist (es genügen heute eben Daten, um nur das neueste Beispiel anzuführen). Und dabei hatte schon Max Weber das allzu simple Verfahren kritisiert, die gute Verwaltung gegen die böse Herrschaft auszuspielen. (4)
Eine mögliche Lesart des Buches wäre auch: Die Abenteuer der Säkularisierung. Nach dem Tod Gottes entstehen ständig neue Götter, es wird eine säkularisierte Unsterblichkeit in vielen Kunstreligionen (nicht nur Kunst im engeren Sinn, sondern besonders im Nationalismus: Du musst sterben, damit Dein Volk leben kann, und dadurch wirst Du unsterblich: Heldendenkmäler wollen diese Botschaft verbreiten) konstruiert, nicht zuletzt wird die Selbstvergottung tägliche Praxis. Was natürlich jede Solidarisierung und damit jede Hoffnung auf Befreiung untergräbt.
II. Weder Opfer noch Henker
Besonders „Der Mensch in der Revolte“, aber auch andere Schriften von Camus werden verständlicher durch die Zeitungsartikel, Aufrufe, Reden, die in dem Band nun auch deutsch vorliegen (eine französische Ausgabe erschien zuerst 2008 (5)), ganz besonders aber durch die lange Einleitung Lou Marins, die Verbindungen und Themen offen legt (6).
Denn viele Konfrontationen und Hoffnungen der Zeit sind uns heute weitgehend unbekannt. Die älteren unter uns erinnern sich noch, dass Kriegsdienstverweigerer nicht nur in Frankreich für das gleiche Delikt mehrfach bestraft wurden (aber nein, sie verweigerten ja erneut, ein Dieb, der wieder stiehlt, kann auch wieder bestraft werden – so gingen die Begründungen), dass der Anarchist Louis Lecoin durch viele Kampagnen und einen Hungerstreik schließlich ein „Statut“ für die Verweigerer erkämpfen konnte, für das aber nicht öffentlich geworben werden durfte!
Hier nun findet man Camus‘ Beiträge genau dokumentiert, und nicht nur seinen unermüdlichen Einsatz für die Kriegsdienstverweigerer und Verweigerer des Algerienkrieges, sondern ganz besonders für die spanischen Flüchtlinge, für die Meinungs- und Pressefreiheit überall auf der Welt, für die Opfer stalinistischer Repression, gegen Folter und Todesstrafe überall. Und alle Aktivitäten fanden in enger, kameradschaftlicher Zusammenarbeit mit SyndikalistInnen und AnarchistInnen und früheren TrotzkistInnen statt, denen Camus mit seinem berühmten Namen und mit Geld half, weil er sich selbst als Teil dieser Bewegungen begriff.
„Camus war von jener seltenen Sorte Mensch, der überhaupt keine Selbstdarstellung suchte oder irgendeinen Heldenschein aufgrund seiner Solidaritätsgesten bekommen wollte. Er bestand im Gegenteil darauf, dass nicht bekannt werde, dass diese oder jene Geldsumme zur Unterstützung eines gefangenen Genossen oder seiner Familie von ihm stammte. Brassens verfuhr ebenso …“ (Fernando Gómez Peláez, zit. S. 357)
Dabei fühlte er sich, wenn er als Journalist arbeitete, offensichtlich besonders unter den DruckereiarbeiterInnen wohl, war mehr mit Setzern und Druckern zusammen als mit den anderen Journalisten und fand hier ein intelligentes, sympathisches, klassenbewusstes Milieu.
Und die AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen führten ihn in die Traditionen des libertären Sozialismus ein, besprachen auch nicht wenige Verirrungen, denn in diesem Milieu waren etliche Anarchobolschewisten, die ihre Ansichten geändert hatten und durch schwere Kämpfe mit den Stalinisten gelernt hatten, dass die konkreten Freiheiten nicht auf dem Altar einer angeblichen historischen Notwendigkeit oder einer besseren Zukunft geopfert werden dürfen.
Das Milieu, in dem Camus Bekannte und FreundInnen fand, konnte über soziale Bewegungen und anarchistische Erfahrungen seit den 1890er Jahren berichten: Rirette Maîtrejean, die frühere Lebensgefährtin von Victor Serge, hatte seit den individualistischen Bewegungen um 1890 alle gewerkschaftlichen und internationalistischen Bewegungen erlebt, Nicolas Lazarévitch (in Deutschland bekannter ist seine Lebensgefährtin Ida Mett wegen ihrer Arbeit über den Kronstädter Aufstand 1921 gegen die Bolschewiki) verkörpert geradezu die leidvolle Geschichte libertärer Bewegungen. Viele Freunde Camus‘ waren Aktivisten der syndikalistischen CGT (Pierre Monatte), manche schon vor dem ersten Weltkrieg gewesen und oft nach verschiedenen Irrungen wieder bei internationalistischen syndikalistischen Gruppen und Zeitungen wie „Revolution proletarienne“ (Rosmer) , andere waren in den anarchistischen Föderationen aktiv (Andre Prudhommeaux). Besonders wichtig war die antimilitaristische Kulturzeitschrift „Temoins“; hier erschienen u.a. Diskussionsbeiträge Camus‘ zum 19. Juli 1936, dem Beginn der spanischen Revolution, zum 17.Juni 1953, dem ostdeutschen Arbeiteraufstand, zur ungarischen Revolution 1956.
Camus legte großen Wert auf ein Bündnis freiheitlicher Intellektueller und syndikalistischer ArbeiterInnen.
Sehr interessant fand ich , dass die wenigen Seiten, die im „homme révolté“ ganz direkt Bakunin gewidmet sind (indirekt ist Bakunin an ganz vielen Stellen anwesend) 1952 eine lange (50 S.) und polemische Antwort von Gaston Leval im „Libertaire“ provoziert hatten. Glücklich die Zeitung, die über so viele Seiten solche Themen diskutiert, solche Diskussionen sollten allen Kapiteln des Buches gewidmet werden! In Zeiten des „Infotainments“ leider völlig ausgeschlossen.
Leval erhebt kluge und häufig zutreffende Einwände und beschuldigt Camus eines Bakunin-Leserückstands von einigen Tausend Seiten; dennoch kommt es mir so vor, dass er das Bakunin-Kapitel zu sehr isoliert (gelesen hat). Im Kontext könnte man die kritisierten Seiten so lesen, dass hier selbst-widersprüchlicheTendenzen und offene Widersprüche bei Bakunin benannt werden – während die ganze Konzeption des Buches geradezu bakunistisch ist (7).
Das sagt ganz zum Schluss seiner Polemik auch Leval: „wenn Sie das Denken Bakunins wirklich kennten, bemerken würden, dass Sie selbst zu einem großen Teil bakunistisch sind“ (S. 148), und Camus stimmt ihm letztlich zu und sagt sogar, dass Bakunins Widersprüche auch seine eigenen seien. Weiter wird dann im Buch gelegentlich (etwa zwischen Leval und Samson) noch die Frage behandelt, ob Bakunin wissenschaftsfeindlich war. (8)
Camus‘ Verbindungen zu den früheren Kampfgefährten aus der „Resistance“ wurden nach dem Krieg schnell schwächer, die Wege trennten sich oft. Was einmal Gemeinsamkeit gewesen war, wurde zerrieben zwischen den Ost-West-Spannungen des Kalten Krieges. Camus wollte weder mit „Demokratien“ paktieren, die das franquistische Spanien willkommen hießen, noch mit einem „sozialistischen“ Block, der Schauprozesse, Lager, bewaffnete Niederschlagung von Arbeiteraufständen verteidigte.
So waren seine Bezugspunkte ganz natürlich die libertären Gruppen, die die gleiche Weigerung, eine Freiheit ohne Gerechtigkeit oder eine Gerechtigkeit ohne Freiheit für auch nur denkmöglich zu halten, mit ihm teilten. Während marxistische Parteien mit der bürgerlichen Freiheit gleich die tatsächlichen Freiheiten als „Illusion“ oder „Schimäre“ denunzieren und verachten, kommt für Camus und seine Freunde (besonders Jean-Paul Samson von den „Témoins“) alles darauf an, die tatsächliche Freiheit zu erkämpfen: Gegen die „realsozialistische“ Repression und die bürgerliche Scheinfreiheit der reichen Leute.
III. Spanien – die Hoffnung dieser Generation
Immer wieder wird deutlich, dass der Ort von Camus‘ Utopie das revolutionäre Spanien war, auch viele Verbindungen (mit Louis Mercier, Helmut Rüdiger, seine Mitarbeit an den Groupes de Liaison Internationale …) weisen in diese Richtung. Er spricht voller Pathos über das freie Spanien, den Heroismus der Freiheit: „Spanien war unser wahrer Lehrmeister“ (S. 225).
Man muss sich dazu verdeutlichen, dass es durchaus nicht selbstverständlich war, dass Franco sich 1945 an der Macht halten konnte, es gab die Hoffnung, dass er mit seinen faschistischen Unterstützern ebenfalls gestürzt werden könnte. Aber der Ost-West-Konflikt ließ die Westmächte schnell auf Francos Eingliederung in „die Verteidigung des Abendlandes“ setzen. In Spanien ging der Krieg weiter. Das wurde für Camus zu einem zentralen Thema, er kämpft dagegen, dass diplomatische Beziehungen zu Franco-Spanien aufgenommen werden und lehnt eine Zusammenarbeit mit der UNESCO ab, weil diese das faschistische Spanien aufnehmen will.
Mitte der 50er Jahre muss Camus schon die Unzeitgemäßheit seiner Hoffnungen und der spanischen freiheitlichen Bewegungen anerkennen und feiert mit Don Quijote „350 Jahre Unzeitgemäßheit“ mit den Syndikalisten „in den Katakomben des Exils“ (S. 165).
„Der Kult der Geschichte ist nichts anderes als der Kult der vollendeten Tatsachen.“, heißt es auf Seite 225 der „Libertären Schriften“.
Die Zukunft Europas hängt für Camus – um es zugespitzt zu sagen – an Spanien, und dort letztlich an der CNT: „Es ist diese Kultur, die uns dabei helfen kann, ein neues Europa aufzubauen, das nichts auf dieser Welt ausschließt und den Menschen nirgendwo verstümmelt.“ (S. 287). Und in der Streikbewegung 1951 sieht er, „dass das wahre Spanien nicht tot ist und dass es von Neuem seinen Platz einfordert.“
Unmöglich, hier alles aufzuzählen, was Camus und die CNT verband, das tut überzeugend einer der schönsten Aufsätze des Bandes: Freddy Gomez: Brüderlichkeit im Kampfe, Treue in der Einsamkeit: Camus und die Solidaridad Obrera (S. 349-362). So wundert es auch nicht, dass Felipe Alaíz 1952 den „Menschen in der Revolte“ in der Solidaridad Obrera in zehn Artikeln diskutierte; eine Übersetzung könnte interessant sein.
Camus unterscheidet nun eine freiheitliche von einer fortschrittlichen Linken, der Trennungspunkt ist, ob man „historische Notwendigkeiten“ und „effektive“ Gewalt anbetet oder den alten Pflichten der Freiheit die Treue hält.
Aber auch die spanische Erfahrung 1936 bleibt nicht ohne Kritik; Camus setzt sich für die Veröffentlichung von Simone Weils Brief an Bernanos in Temoins ein, in dem sie die Gewalt auch der Anarchisten kritisiert. (9) Die dazu abgedruckten Texte zeigen ein intellektuell redliches und problembewusstes Milieu wie es nicht allzu häufig zu finden ist.
Um den Wert der Freiheit wiederherzustellen, muss vor allem die falsche Gegenüberstellung überwunden werden, die so tut als sei für die arbeitenden Klassen nur Gerechtigkeit, gar Versorgung ein Thema. „Je mehr die Freiheit in der Welt an Boden verliert, desto mehr wächst das Elend …“ (S. 302) Auch Kultur und Arbeit können niemals getrennt sein, sonst entstehen darauf lediglich Privilegien für bürgerliche Intellektuelle.
„Die Tyranneien wie auch die auf Geld basierenden Demokratien wissen, dass man die Arbeit von der Kultur trennen muss, um zu herrschen.“ (S. 330).
Camus glaubt auch nicht an eine spezifische Arbeiterliteratur, sondern wenn Arbeiter gute Literatur schreiben, dann ist ihre Literatur – große Literatur! Wie die von Tolstoi. Camus‘ Utopie ist, dass es auf der „einen Seite keine Künstler und auf der anderen Seite keine Arbeiter mehr geben“ wird, „sondern nur noch eine einzige Klasse der Schöpferischen.“ (S. 331) .
IV. Algerien
Besonders bitter ist die bis heute anhaltende Geschichte der Verleumdungen Camus‘ wegen seiner kritischen Haltung der FLN (Front de Libération nationale) gegenüber. Camus war seit langem der algerischen Nationalbewegung von Messali Hadj verbunden, die nun von der FLN diffamiert und mit teilweise terroristischen Methoden verdrängt wurde. Camus setzte sich mehrfach für einen Waffenstillstand als Voraussetzung für Verhandlungen aller Beteiligten ein.
Besonders zum Vorwurf gemacht wurde Camus dann eine Aussage, die er nach der Nobelpreisverleihung in Stockholm 1957 bei einer Diskussion mit StudentInnen gemacht hatte (auch Helmut Rüdiger war zugegen und berichtete für das SAC-Organ Arbetaren).
Auf die etwas provozierende Frage des jungen Said Kessal hatte Camus ganz im Sinne seiner Ablehnung terroristischer Gewalt gegen Zivilisten geantwortet:
„In diesem Moment wirft man Bomben auf die Straßenbahnen von Algier. Meine Mutter könnte sich in einer dieser Straßenbahnen befinden. Wenn genau das Gerechtigkeit ist, dann ziehe ich meine Mutter vor.“ (zit. S. 60). Daraus wurde in Paris ein „Skandal“: Er wählt seine Mutter statt der Gerechtigkeit. Jahre später hat sich der Schriftsteller José Lenzini auf die Suche nach dem damaligen Studenten gemacht und von dem inzwischen alten Mann erfahren, dass dieser von dem Vorgang selbst überrascht war und sich erst danach mit Camus beschäftigte, dessen alte Artikelserie über das Elend in der Kabylei und seine anderen Bücher las. Said Kessal war selbst Kabyle. Er suchte nun das Gespräch und wollte ihn 1960 besuchen – aber da war Camus gerade durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Said Kessal konnte nur noch Blumen auf das Grab in Lourmarin legen.
Für maghrebinische Intellektuelle ist Camus seit den 90er Jahren Thema: Die Islamische Heilsfront wurde um ihren Wahlsieg gebracht durch einen Militärputsch, mit extremer Gewalt standen sich dann Staat und Islamisten gegenüber, die islamistischen Gruppen radikalisierten sich nicht selten in Richtung Al-Quaida, zahllose Grausamkeiten wurden an ZivilistInnen von beiden Seiten begangen … Die Konzeptionen Camus‘, die für föderalistische und pluralistische Lebensweisen statt eines Kults von Nation, Einheit, Geschlossenheit, Gewalt eintraten, seine Gewaltkritik wurden neu durchdacht. Im englischsprachigen Raum ist die Diskussion gerade entbrannt durch die Übersetzung der Schriften zu Algerien in der Übersetzung von Arthur Goldhammer: Algerian Chronicles, ed. and with an introd. by Alice Kaplan (Belknap Press/Harvard Univ. Pr.) 2013.
Über Camus wurde seit Jahren nicht mehr so viel gestritten; seine Ideen werden heute nicht zuletzt dank Lou Marin erstmals von sehr vielen LeserInnen, KritikerInnen, RezensentInnen als anarchistisch, anarchosyndikalistisch oder libertär begriffen.
„Die Gerechtigkeit lebt.“
Nachwort
„Was für die männliche Zweckbestimmtheit die qualvollste aller Strafen ist, nämlich die Plackerei des Sisyphos, war für viele Frauen der Normalzustand: Die Hausarbeit, die Reproduktion des täglichen Lebens.“
(Adriano Sofri: Der Knoten & der Nagel. Ein Buch zur linken Hand. Frankfurt a.M. 1998, S. 83)
(1) Lou Marin (Hrsg.): Albert Camus - libertäre Schriften (1948-1960). Hamburg: Laika-Verl., 2013, 380 S. (Laika-Theorie ; 28) ISBN 978-3-942281-56-0 24,90 Euro. Für die LeserInnen dieser Zeitung sei erwähnt, dass die Verbindungen Lou Marins zur Graswurzelrevolution sehr deutlich benannt sind.
(2) Leider hat Sabine Kebir in einem "Kulturkommentar" des "Freitag" (7.11.2013) dem arrogant-herablassenden Ton ihre Stimme geliehen: "100 Jahre Camus: die Delikatessen der Popularphilosophie" (der Titel sagt schon alles, da schlägt sich die Ecole Normale Superieure auf die Schenkel und feiert ihre feinen Unterschiede). Sie referiert ihn dann so: "Organisierter Widerstand sollte sich auf anarcho-syndikalistische Gewerkschaften beschränken." Will sagen: Camus kam über ein bloß gewerkschaftliches Bewusstsein nicht hinaus - und die "Eingeweihten" wissen sofort was da fehlte: Die Partei. In der wirklichen Welt aber liegt Beschränkung und Beschränktheit eher bei den bewaffneten Parteien, die gerade wieder einmal einen "Frühling" in eine Kältestarre versetzen. Business as usual.
(3) etwa Lou Marin: Revolution und Revolte, in: Graswurzelrevolution 1999 (Taschenkalender) S. 202-215 ; vgl. auch Sändig, Brigitte (Hrsg.): "Ich revoltiere, also sind wir". Nach dem Mauerfall: Diskussion um Albert Camus' "Der Mensch in der Revolte", Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2009
(4) vgl. auch S. Münster, Exterminismus und Revolution, in: Wege des Ungehorsams. Kassel-Bettenhausen 1984, S. 19-48
(5) Albert Camus et les libertaires (1948-1960) : écrits rassemblés par Lou Marin. Marseille 2008 (der Titel ist angemessener als der spätere französische und der deutsche, weil es sich keineswegs nur um Texte von Camus handelt).
(6) Das haben auch andere Rezensenten so empfunden, etwa Rupert Neudeck im Neuen Deutschland vom 01.11.2013, der schreibt: "Das Buch ist wie eine Offenbarung ..."
(7) auch wenn wir damals noch nicht viel über Bakunin wussten, steht in meinem Exemplar doch oft "Bakunin!" am Rand. Hier finde ich etwas schade, dass Lou Marin seine Übersetzungen nicht auf die neuen Bakunin-Ausgaben und Kommentare von Wolfgang Eckhardt stützt, die unser Verständnis vieler Debatten und Konflikte enorm bereichern.
(8) Kritisch neu aufgenommen werden sollte dieses Thema über das hinaus, was wir etwa im Graswurzelrevolution-Kalender 1990 gelesen haben: S. Münster: Michael Bakunin - im Kampf gegen die herrschende Klasse den Sieg einer neuen Klasse verhindern! S. 212-233
(9) im vorliegenden Band S. 209ff. Lou Marin hat hier eine wichtige Korrektur gegenüber dem Abdruck in "Lebenserfahrung und Geistesarbeit: Simone Weil und der Anarchismus" Nettersheim 2006 untergebracht: Nicht Durruti hat die Ermordung eines 15jährigen Jungen, der für die Falange kämpfte, angeordnet, sondern Dorfbewohner haben den Gefangenen nachts entführt und getötet (S. 215)