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Türkei: Es gibt viele Gründe, den Kriegsdienst zu verweigern

| Rudi Friedrich

Auf einem Treffen zur Kriegsdienstverweigerung im Februar 2012 in Istanbul entstand die Idee, die wachsende Bewegung zur Kriegsdienstverweigerung und die sehr unterschiedlichen Motive der Verweigerer und Verweigerinnen in der Türkei zu dokumentieren. Im Laufe der nächsten Monate führten wir von Connection e.V., unterstützt von Julian Irlenkäuser (1), eine ganze Reihe von Interviews, die wir schließlich im November 2013 in einer Broschüre veröffentlichen konnten.

Abstimmung mit den Füßen

Wer einen Blick auf die türkischsprachige Website www.savaskarsitlari.org wirft, findet dort unter dem Stichpunkt „Vicdani Ret“ (Kriegsdienstverweigerung) eine Auflistung der Personen, die seit 1989, also in den letzten fast 25 Jahren, ihre Kriegsdienstverweigerung öffentlich erklärt haben. Insgesamt nennt die Website etwa 550 Personen.

Nicht aufgeführt sind hier noch weitere etwa 200 türkische Wehrpflichtige, die ihre Verweigerung im Ausland erklärten und ihr Asylbegehren damit begründeten.

Darüber hinaus gibt es nach offiziellen Angaben etwa 750.000 Dienstflüchtige, so berichtete die Tageszeitung Sabah im Oktober 2013. (2) Zehntausende leben also zum Teil seit Jahren in der Türkei auf der Flucht vor dem Militärdienst. Sie haben sich in einer Illegalität einrichten müssen, die ihnen alle bürgerlichen Rechte verwehrt. Es ist ein Leben im Geheimen, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 24. Januar 2006 als „zivilen Tod“ bezeichnete. Praktisch bedeutet das, dass sie in der Türkei keinen Pass erhalten können. Sie können kein Konto anmelden, nicht heiraten, ihre Kinder nicht anerkennen und keiner legalen Arbeit nachgehen. Sie sind nicht sozialversichert, nicht krankenversichert und werden keine Rente erhalten.

Unter den 750.000 gibt es sicher auch Zehntausende, die sich ins Ausland abgesetzt haben, um der Rekrutierung und drohenden Verfolgung zu entgehen. Wenn es ihnen gelungen ist, Asyl oder auf andere Art und Weise ein Aufenthaltsrecht zu erhalten, sind sie zumindest auf der sicheren Seite, auch wenn ihnen bei einer Reise in die Türkei weiter die Rekrutierung droht. (3)

Angesichts dieser Zahlen gibt es ganz offensichtlich einen Widerspruch zwischen der in der Türkei nach wie vor hochgehaltenen Ideologie, jeder Türke sei als Soldat geboren, wie Julian Irlenkäuser und Gürsel Yildirim in einem Beitrag in der Tageszeitung junge Welt ausführten (4) und der ganz praktischen Entscheidung vieler Wehrpflichtiger. Immerhin ist das Heer der Militärdienstentzieher damit größer als die Armee selbst, die eine Stärke von 612.000 Soldaten (5) hat.

Dieses Ausmaß der Dienstflucht ist eine Abstimmung mit den Füßen, aber keine offene nach außen getragene Entscheidung, die damit auch öffentlich die Militarisierung der Gesellschaft angreift, sondern eine Entscheidung im Geheimen.

Die türkische Regierung sah sich gleichwohl zu verschiedenen Maßnahmen genötigt, um das Ausmaß der Militärdienstentziehung zu begrenzen. Dabei wird auf die Taktik von Zuckerbrot und Peitsche zurückgegriffen, um den Status quo beizubehalten. So hat die Regierung Anfang 2012 befristet eine Freikaufsregelung auch für türkische Staatsbürger vorgesehen, die in der Türkei leben.

Mit 13.000 Euro war der Betrag allerdings eindeutig keine Option für die ärmere Bevölkerung. Im Oktober 2013 wurde per Kabinettsbeschluss auch die Militärdienstzeit von 15 auf 12 Monate verkürzt.

Auf der anderen Seite, so berichtete Sabah, wurde angekündigt, dass die Daten der Dienstflüchtigen nun in das zentrale Fahndungssystem eingespeist werden sollen. Damit wird es sehr viel wahrscheinlicher, dass Militärdienstentzieher und damit auch Kriegsdienstverweigerer bei einer zufälligen Kontrolle aufgegriffen und den Rekrutierungsbüros ausgeliefert werden. (6)

„Die Kriegsdienstverweigerung kann sehr wirksam werden“

Kemal Acar aus der Kurdischen Kriegsdienstverweigerungsbewegung spricht in seinem Interview (7) die politische Perspektive der Kriegsdienstverweigerung an: „Natürlich haben die Menschen bestimmte Befürchtungen. Das muss überwunden werden. Wenn es so weit ist, könnte die Kriegsdienstverweigerung eine Macht darstellen. Es bedeutet nicht nur, dass weniger Menschen die Waffe in die Hand nehmen, sondern auch, dass sie den Militarismus hinterfragen und das System verlassen. In diesem Sinne kann die Kriegsdienstverweigerung sehr wirksam werden.“

Er weist hier auf die mögliche politische Bedeutung der Aktionsform Kriegsdienstverweigerung hin, die allerdings voraussetzt, dass sich Menschen öffentlich gegen Krieg und Kriegsdienst aussprechen.

Und das ist angesichts der nach wie vor bestehenden Vorherrschaft des Militärischen in der türkischen Gesellschaft ganz sicher ein entscheidender Punkt. Die Kriegsdienstverweigerung greift die militaristische Ideologie an – und noch kann sich der Staat auf die vorherrschende Meinung verlassen, dass Verweigerer als Vaterlandsverräter angesehen werden. Kemal Acar sieht jedoch eine Möglichkeit der Veränderung, wenn die Kriegsdienstverweigerung zu einem Teil der Gesellschaft wird.

So weit ist es noch nicht – und folglich reagiert in der Türkei der Staat mit Militär und Justiz auf die Kriegsdienstverweigerung und öffentliche Kritik am Militär mit Repressionen und Strafverfolgung. Vier Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei haben die türkische Regierung bislang nicht dazu veranlasst, ihre Verpflichtungen in Übereinstimmung mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu erfüllen. „Bedauerlicherweise“, so die Rechtsanwältin Hülya Ücpinar in einer Stellungnahme an das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen im Oktober 2012, „gibt es keine formale Debatte zum Thema Kriegsdienstverweigerung und keine Vorbereitungen rechtlicher Art, um die Probleme der Kriegsdienstverweigerer zu lösen.“ (8) Ein von der BDP am 22. November 2011 eingereichter Gesetzentwurf (9) wurde vom Parlament bislang nicht behandelt.

Und in der Tat unterliegen die Kriegsdienstverweigerer in der Türkei weiter drohender Rekrutierung und Strafverfolgung, die ohne Unterlass fortgesetzt werden kann. Denn in der Türkei gilt die Wehrpflicht erst nach Ableistung des Militärdienstes als erfüllt.

Hinzu kommt, dass die öffentlichen Erklärungen von Kriegsdienstverweigerern und -verweigerinnen auch immer wieder nach Artikel 318 des türkischen Strafgesetzbuches strafrechtlich verfolgt werden, wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“. So hat allein die öffentliche Aussage, „Jeder Türke wird als Baby geboren“, die das allgemein gebräuchliche Sprichwort ummünzte, ein Strafverfahren nach sich gezogen.

Es gibt viele Gründe Nein zu sagen

Ungeachtet dessen hat sich in den letzten Jahren die Idee der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei verbreitet. Zunächst war es über die Entscheidungen auf europäischer Ebene gelungen, den faktischen Medienboykott zum Thema zu brechen und auch die türkische Regierung zu Stellungnahmen zu bewegen. Aber viel wichtiger ist, dass auch die Aktionsform der Kriegsdienstverweigerung, die öffentliche Erklärung, sich nicht mehr im Militär oder für das Militär verpflichten zu lassen, weitere Kreise erreicht hat.

Die Ansätze der Verweigerer und Verweigerinnen sind sehr unterschiedlich. Türkisch-kurdische Wehrpflichtige verweigern die Einberufung in eine Armee, die gegen ihre eigenen Familien eingesetzt wird.

Islamische oder auch christliche Verweigerer wollen nicht in einer Armee dienen, die ihren Glauben nicht respektiert. Anarchistische Verweigerer wenden sich gegen ein autoritäres System, Frauen verweigern, um damit die patriarchalen Strukturen des Militarismus offen zu legen. In den Interviews spiegelt sich das wider. Es sind persönliche Zeugnisse, die einen Einblick in sehr unterschiedliche und auch umstrittene Positionen sowie Diskussionen geben. Ich will im Folgenden auf vier Schwerpunkte der Interviews eingehen. (10)

„Es geht nicht nur um den Kampf mit der Armee“

Insbesondere Necdet Özaktin fordert in seinem Interview eine grundsätzlichere Haltung gegen Gewalt und gegen den bewaffneten Kampf ein und kritisiert damit auch die Position einer ganzen Reihe von neueren Kriegsdienstverweigerern, die ein unkritisches Verhältnis zur PKK haben.

„Sie können doch nicht einfach die Waffen übersehen“, so Necdet Özaktin, „wenn es um bewaffneten Widerstand geht. Der Widerstand kann ja völlig richtig sein, aber deswegen dürfen sie doch nicht Menschen ermorden.“

Der seit Anfang der 1980er Jahre geführte Krieg in Kurdistan forderte mehr als 40.000 Opfer, Tausende von Dörfern wurden von türkischen Sicherheitskräften zerstört, Tausende Oppositionelle kamen in Haft.

Nach fast 30 Jahren begann die türkische Regierung, mit dem ehemaligen Führer der PKK und seit 1999 inhaftierten Abdullah Öcalan über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Nach einem Aufruf von Öcalan am 21. März 2013 herrscht zwar Waffenruhe auf beiden Seiten, aber die Lage ist nach wie vor gespannt. Von vielen Beobachtern wird angezweifelt, dass die türkische Regierung wirklich ein ernsthaftes Interesse an einem Friedensschluss mit der PKK hat.

Wie stehst du zum Krieg und zum bewaffneten Widerstand im eigenen Land? Dies ist eine Frage, die über die Ablehnung des Militärdienstes und über die Frage des Menschenrechtes auf Kriegsdienstverweigerung hinausgeht. Während im Westen der Türkei wenig vom Krieg im Osten zu spüren war, war der Bürgerkrieg im Osten „hautnah“ zu erleben, wie Mehmet Tarhan schildert, der als Beamter Musterungen durchführte.

„Ich sah nicht nur, was die Armee tat. Ich spürte auch, was es bedeutet, unter dem Kommando einer organisierten Gewalt und der ständigen Drohung der Gewaltanwendung zu stehen. Die ganze Zeit über spürte ich den Druck des Militärsystems, zumal zu dieser Zeit in Ostanatolien der Ausnahmezustand herrschte. Die Drohungen wurden auch in die Tat umgesetzt, und ich beobachtete all das aus der Nähe. Ich denke, das ist letztlich der für mich entscheidende Grund gewesen, den Kriegsdienst zu verweigern.“

Die eigenen Erfahrungen, aber auch die Auseinandersetzung mit der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung und der Gewalt des Militärs und der türkischen Streitkräfte sind für viele Interviewte wichtige Bezugspunkte. Merve Arkun sieht „den Krieg nicht als zweiseitig an, sondern als eine Auslöschungspolitik des türkischen Staates“. Furkan Celik kritisiert die Position „vieler Gewaltgegner, die beide Organisationen, die türkischen Streitkräfte und die PKK gleichstellen, weil sie autoritär und hierarchisch sind“. „Ich denke das nicht“, fährt er fort, „denn die PKK kämpft für Freiheit. Seit 89 Jahren ist die Armee dabei, ein Volk zu assimilieren und zu verleugnen. Der Kampf der PKK gegen diese Unterdrückung kann nicht als ein und dasselbe gewertet werden.“

Deutlich wird an den beispielhaft herausgegriffenen Zitaten von Merve Arkun und Furkan Celik, dass sie aufgrund der völlig unterschiedlichen Kräfteverhältnisse der bewaffneten Kräfte und der bestehenden Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung dem Kampf der PKK positiv gegenüberstehen.

Der Einsatz der Waffen wird nicht in Frage gestellt, auch wenn Merve Arkun in ihrem Interview darauf hinweist, dass die Strategien sehr wohl kritisiert werden könnten.

Nicht in Frage gestellt wird auch der starke nationalistische Charakter der kurdischen Bewegung. Die Fragen von Hierarchie und Unterordnung werden hinten angestellt, auch wenn sich insbesondere Furkan Celik als überzeugter Anarchist versteht. Und nicht zuletzt: Die Folgen eines Krieges für die Bevölkerung und die mit einem Krieg verbundene Militarisierung der Gesellschaft, eben auch der kurdischen, werden weitgehend ignoriert.

Es ist einerseits sehr ernüchternd, dass diese Argumente von so vielen Aktiven vorgetragen werden, auf der anderen Seite spiegelt es den gegenwärtigen Diskussionsstand der AntimilitaristInnen wider.

Möglicherweise könnte eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung z.B. mit Erfahrungen von Bewegungen anderer Länder zur Frage des bewaffneten Widerstandes dazu führen, diese Diskussion weiterzuführen. Ercan Aktas, der wegen Mitgliedschaft in der PKK inhaftiert war, schildert dies für sich selbst: „Ich ging als Sozialist und Kurde ins Gefängnis und war zum Zeitpunkt meiner Entlassung Antimilitarist und Kriegsdienstverweigerer. Ich habe im Gefängnis eine Transformation durchlebt. Natürlich habe ich meine Verbindung zur kurdischen Bewegung nicht abgebrochen.“

„Als Anarchist sollte man Antimilitarist sein“

Viele der Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen verstehen sich als Anarchisten, einige sind auch in anarchistischen Gruppen aktiv, wie der Anarchistischen Aktion in der Schule (11) oder dem Kolektiv 26A. Abdulmelik Yalcin erklärt dazu: „Als Anarchist sollte man sowieso Antimilitarist sein und nicht zum Militär gehen. Es wäre nicht richtig, im Militär zu dienen und Teil der Kultur des Gehorsams zu werden. Wir haben eine aktive Gruppe in der Schule. Wir versuchen die Kultur des Gehorsams und des Egoismus‘ zu beseitigen. Zu diesem Zweck haben wir eine Tauschbörse organisiert. Auch die Kriegsdienstverweigerung ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.“

Wie oben schon beschrieben, schließt das allerdings nicht unbedingt eine prinzipielle Haltung gegen bewaffneten Widerstand mit ein. Auch Abdulmelik Yalcin sagt dies in seinem Interview bezüglich der PKK: „Dort ist ein Volk seit hundert Jahren schwerster Repression ausgesetzt. Es war für dieses Volk notwendig, organisiert zur Waffe zu greifen, um die eigene Sprache und Kultur zu verteidigen.“ Und dennoch sieht er die Kriegsdienstverweigerung als „eine entscheidende Aussage für den Frieden. Man stärkt den Friedensprozess, indem man nicht am Unterdrückungsapparat des Staates teilnimmt, besser noch, sich beiden Seiten entzieht.“

„In islamischen Staaten gab es angewandte Kriegsdienstverweigerung“

2007 trat mit dem Kriegsdienstverweigerer Enver Aydemir in der Türkei der erste an die Öffentlichkeit, der seine Verweigerung ausdrücklich mit seinem muslimischen Glauben begründete. Das ist nicht nur eine neue, sondern auch bedeutsame Entwicklung, ist doch die Kriegsdienstverweigerung häufig verbunden mit christlichen Motiven oder westlich geprägten Vorstellungen.

Zwei Extreme dieser Argumentation finden sich auch in den Interviews wieder. So gehört Muhammed Cihad Ebrari der Gruppe der Antikapitalistischen Muslime an, die die Auffassung vertreten, dass jeder Prophet zugleich als eine „Widerstandsposition gegen das herrschende System seiner Zeit“ zu verstehen sei. (12)

Bekannt geworden ist die Gruppe mit einem alternativen Fastenbrechen am Ende des Ramadan im Juli 2013, mit dem sie auf der wichtigsten Geschäftsstraße in Istanbul, der Istiklal, gegen die Polizeigewalt gegen die Gezi-Park-Bewegung protestierte. „Mit jeden zehn Metern, die die improvisierte Tafel länger wurde und sich in Richtung Taksim Platz ausdehnte, klatschten die umstehenden Leute Beifall und riefen den Slogan der letzten Wochen: ‚Überall ist Taksim, überall ist Widerstand‘.“ (13)

Muhammed Cihad Ebrari sieht sich als „Antikapitalist und Antimilitarist“. „Die Streitkräfte“, so sagt er, „sind zum Schutz der kapitalistischen Ordnung dar. Militarismus und seine Kriege vernichten die Natur. Jeder Bürger ist dem türkischen Staat die Ableistung des Militärdienstes schuldig. Wir sind dem Staat aber überhaupt nichts schuldig, sondern er steht im Gegenteil in unserer Schuld. Ich war z.B. mit 13 mit meiner Mutter und meinen Geschwistern im Gefängnis, obwohl wir nichts getan hatten. Der Staat hat mich meiner Kindheit und meiner Jugend beraubt.“

Muhammed Serdar Delice hingegen versteht sich als muslimischer Nationalist und ist Kriegsdienstverweigerer geworden, weil er im Militär seinen muslimischen Glauben nicht leben konnte. Ausschlaggebend war für ihn eine Situation beim Abendrapport im Militär, als sie seinen Gebetsteppich und seinen Koran aus dem Fenster warfen. „Ich habe beide aufgelesen“, berichtet er „und begab mich ins obere Stockwerk. Da stand der Feldwebel. Ich fuhr ihn an: ‚Was bist du für ein Mensch? Du kannst nicht so mit mir umgehen. Es reicht oder ich bringe dich um.‘ Dann kamen der Hauptmann, der Bataillonskommandeur und der Kompanieführer dazu. Sie sagten, als Rekrut müsse ich ihnen gehorchen. ‚Ist das so?‘, fragte ich und zog mich aus. Ich stand in meinen Unterhosen da. ‚Und was bin ich jetzt?‘ fragte ich. ‚Ich bin in erster Linie ein Mensch, kein Soldat. Ich ziehe diese Stiefel nicht mehr an, nehme keine Waffe in meine Hand. Ich bin kein Soldat, ich erkläre hier in ihrer Gegenwart meine Kriegsdienstverweigerung.'“

Mit seiner Vorstellung von Nationalismus, die Gottesfürchtigkeit als Überlegenheit sieht, bezieht er sich auf die Lehre des persischen Mystikers Dschalal ad-Din ar-Rumi, der die wahre Erfüllung im Leben darin sieht, Gott durch Liebe näher zu kommen.

Insbesondere die Position von Muhammed Serdar Delice ist sehr umstritten, gerade auch bei Kriegsdienstverweigerern.

Allerdings wird es von anderen Aktiven eher als exzentrische Position einer Haltung gegen Militär angesehen, statt als nationalistisch untermauerte Aktionsform gegen den Staat, da er sich von dem in der Türkei vorherrschenden Nationalismus der MHP (14) distanziert. Die Reaktion ist nicht: Wir können auf keinen Fall miteinander reden, sondern: Wir sollten unbedingt miteinander reden und diskutieren.

„Militarismus und Patriarchat sind nicht voneinander zu trennen“

Eine Besonderheit in der Türkei ist sicherlich, dass dort auch Frauen öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklären, auch wenn es keine Wehrpflicht für Frauen gibt. Wir hatten dies auch mit dem Titel der Broschüre deutlich gemacht, und so sofort Widerspruch geerntet. Frauen können doch gar nicht verweigern, hieß es. Das sieht z.B. Zeynep Varol völlig anders: „Ich sehe die Kriegsdienstverweigerung als die radikalste Aktion an, die eine Türkin angesichts des Krieges in der Türkei machen kann. Neben allen offensichtlichen Auswirkungen gibt es auch weniger deutliche Aspekte, wie z.B. die wechselseitige Beziehung zwischen Militarismus und Patriarchat. Zum Beispiel entstehen in Kriegsgebieten Bordelle.

Soldaten werden während ihrer Ausbildung mit einem negativen Bild der Frau aufgestachelt und angetrieben, ihre Männlichkeit zu beweisen. In meiner Kriegsdienstverweigerung ging es mir darum, auf diese Aspekte aufmerksam zu machen und meinen Widerstand zu erklären.“

Als sich Zeynep Varol, damals Mitglied der Föderation Sozialistischer Jugendvereine, entschieden hatte, ihre Verweigerung öffentlich zu machen, bekam sie unversehens Widerspruch von ihren männlichen Genossen. „Die fanden das sinnlos. Es sei viel bedeutender, dass Männer den Kriegsdienst verweigern“.

Sie kommt zum Schluss, dass „sich das Patriarchat auch in unseren Reihen widerspiegelt“. Mit dieser Erfahrung steht sie nicht allein und es war bei den Interviews sehr erfreulich, zu sehen, mit welcher Vehemenz und Hartnäckigkeit die Frauen ihre Position mit einbringen.

Verein für Kriegsdienstverweigerung gegründet

Kurz nach dem Abschluss der Interviews, zum 15. Mai 2013, dem Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, ergriffen Aktive in der Türkei die Initiative und gründeten den Verein für Kriegsdienstverweigerung (VR-DER). Viele der Interviewten, so unterschiedlich auch ihre Hintergründe und Beweggründe sind, sind in dem Verein aktiv. Es besteht ob der sehr unterschiedlichen Motive Diskussionsbedarf.

Erfreulicherweise geschieht dies derzeit in dem Verein. Ercan Aktas berichtet dazu: „Unser gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung der Wehrpflicht und Unterstützung der Kriegsdienstverweigerung. An dem Punkt entsteht ein Dialog und du fängst an deine Vorurteile zu hinterfragen. Muhammed Serdar sagte mir bei der letzten Versammlung, er hätte vor sechs Monaten nicht geglaubt, er würde demnächst in solch einer Versammlung sitzen und mit Anarchisten zusammen arbeiten. Ich hinterfrage mich, er hinterfragt sich; so finden wir unseren gemeinsamen Weg.“

Der Verein setzt sich nicht nur für die Freilassung inhaftierter Verweigerer ein, sondern geht an die Öffentlichkeit, macht Lobbyarbeit und ist international vernetzt. Die Aktiven wollen zudem eine Beratungsstelle eröffnen und eine Unterschriftensammlung an das Parlament initiieren.

Auf die von der türkischen Regierung angekündigte Verkürzung des Militärdienstes machte der Verein in einer Presseerklärung deutlich, was den Menschen wirklich unter den Nägeln brennt: „Das System der Wehrpflicht hat besonders infolge des Kriegs in Kurdistan ausgedient. Die Nachrichten von jungen Menschen, die in einem Krieg geopfert wurden, den sie nicht verstehen, hat besonders bei Familien von Soldaten zu heftigen Reaktionen geführt.

Alle jungen Männer, die hierbei umgekommen sind, kommen ausgerechnet aus armen Familien. Das bestätigt: Es handelt sich um eine ’soziale Wunde‘. Als Verein für Kriegsdienstverweigerung fordern wir eine sofortige Abschaffung der Wehrpflicht und die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Wir erklären unsere Solidarität mit den ‚Dienstflüchtigen‘ und rufen sie auf, als Protest auf die Menschenjagd ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären.

(1) Julian Irlenkäuser ist Koordinator des Master of European Studies der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)

(2) Sabah: 750 bin kacak asker icin dügmeye basildi. 23. Oktober 2013. www.connection-ev.org/article-1895

(3) Dauerhaft in Deutschland lebende türkische Staatsbürger (auch Doppelstaater) unterliegen in der Türkei weiter der Wehrpflicht. Sie können sich davon gegen Zahlung von aktuell 6.000 Euro freikaufen, was von aktiven Kriegsdienstverweigerern als Erpressung angesehen wird. Mehr dazu unter www.Connection-eV.org/article-1609

(4) Julian Irlenkäuser und Gürsel Yildirim: Milliardengeschäft Wehrdienstfreikauf. Junge Welt, 27. August 2013. Online in aktualisierter Fassung unter www.connection-ev.org/article-1907

(5) nach www.globalfirepower.com

(6) Sabah, a.a.O.

(7) Alle Interviews aus der Broschüre "Türkei: Es gibt viele Gründe Nein zu sagen - Männer und Frauen verweigern den Kriegsdienst", Offenbach, November 2013

(8) Hülya Ücpinar: Aktuelle Situation von Kriegsdienstverweigerern in der Türkei. www.Connection-eV.org/article-1897

(9) Der von Sebahat Tuncel von der Partei für Frieden und Demokratie (Baris ve Demokrasi Partisi) eingebrachte Gesetzentwurf ist dokumentiert unter www.Connection-eV.org/article-1681

(10) Die folgenden Zitate, soweit nicht anders angegeben, sind der Broschüre "Türkei: Es gibt viele Gründe Nein zu sagen - Männer und Frauen verweigern den Kriegsdienst", Offenbach, November 2013, entnommen.

(11) Lisede Anarsist Faaliyet (LAF)

(12) zitiert nach Murat Cakir: Antikapitalismus und Islam. www.antikapitalistische-linke.de/article/733.islam.html

(13) Jürgen Gottschlich: Essen gegen Erdogan. taz vom 10. Juli 2013

(14) Milliyetci Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung

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