antimilitarismus

Proletarischer Patriotismus

Nationalismus, Militarismus und Krieg in der deutschen Sozialdemokratie bis 1914

Am 4. August 1914 erklärte der damalige Parteivorsitzende der SPD, Hugo Haase, im Namen seiner Fraktion vor dem Reichstag: „Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecken feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.“ (1)

Ein Scheitern ohne Kampf

Bei der anschließenden Abstimmung im Reichstag unterwarfen sich auch jene vierzehn Abgeordneten der SPD dem Fraktionszwang, die in der vorausgegangenen Fraktionssitzung noch gegen die Kredite votiert hatten. Mit dieser Entscheidung erklärte die Führung der deutschen Sozialdemokratie, der damals größten Organisation in der sozialistischen Internationale, öffentlich ihre Kapitulation vor der von ihr sogenannten „ehernen Tatsache des Krieges.“

Dem Verhalten der Führung entsprach die Stimmung an der Basis: Abgesehen von verschwindend geringen Ausnahmen schwenkte die deutsche Arbeiterschaft in den nationalistischen, kriegsbegeisterten Taumel des August 1914 ein. Und so diszipliniert, wie sie kurz zuvor noch für den Frieden demonstriert hatte, zog sie nun in den Krieg.

Vom Ende her betrachtet, vom Weltkrieg also, stellt sich die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bis 1914 als eine Geschichte des Scheiterns dar, und zwar als Geschichte eines Scheiterns ohne Kampf. Ob antimilitaristische Anstrengungen der Arbeiterbewegung den Krieg hätten verhindern oder zumindest wesentlich abkürzen können, darüber lässt sich nur spekulieren. Festzuhalten ist jedoch, dass die organisierte Arbeiterbewegung bei Kriegsausbruch und in den Jahren zuvor, als die Politik der Großmächte hart am Krieg entlang steuerte, zumindest in Deutschland erst gar nicht versucht hat, praktischen Widerstand zu organisieren.

Die Strategien des Kampfes gegen Militarismus und Krieg waren in allen Fraktionen der Arbeiterbewegung aufs Engste verknüpft mit den Strategien der ökonomischen und politischen Befriedung des Proletariats. Krieg, Frieden und Revolution bzw. „friedlicher Übergang“ zum Sozialismus waren nicht voneinander zu trennen. Die Einsicht, dass es keinen dauerhaften Frieden geben könne, solange Kapitalismus und bürgerlicher Staat fortbestehen, unterschied den proletarischen Antimilitarismus gleich welcher Couleur fundamental vom bürgerlichen Pazifismus, der mittels moralischer Mobilisierung und internationaler Schiedsgerichtsbarkeit innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung Kriege abschaffen zu können hoffte.

Für die Arbeiterbewegung hing also alles daran, das Ende der staatlich und kapitalistisch organisierten Gesellschaft herbeizuführen. Der Friede war eine postkapitalistische und damit eine postrevolutionäre Strategie. Daraus resultierte eine Haltung, die, bezogen auf Marx und Engels, „revolutionärer Opportunismus“ genannt wurde. Stellungnahmen dieser beiden waren jeweils primär davon bestimmt, welche Chancen für die Revolution sie von einer bestimmten außen- oder militärpolitischen Entscheidung bzw. von einem Krieg erwarteten.

Vor allem die Positionen des alten Engels, der sich so ausgiebig und leidenschaftlich mit Militärfragen beschäftigte, dass ihm die Genossen den Spitznamen „der General“ verliehen, wurden dabei für das Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie grundlegend.

Marx und Engels als revolutionäre Opportunisten

Während der Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 bezogen die beiden „Londoner“ zeitweise eine andere Position als August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die Führer der Partei in Deutschland. Während diese durch Stimmenthaltung ihre prinzipielle Gegnerschaft zum Krieg und zum preußischen Staat demonstrierten und dafür auch ins Gefängnis wanderten, ergriffen Marx und Engels zunächst Partei für die deutsche Seite. „Die Franzosen brauchen Prügel!“, schrieb Marx am 20. Juli 1870, einen Tag nach der Kriegserklärung, an seinen Freund Engels.

Die beiden erhofften vom Krieg die politische Einigung Deutschlands und von dieser wiederum verbesserte Chancen zur Organisierung des deutschen Proletariats. Sie argumentierten dabei durchaus traditionell und erklärten den Krieg zum nationalen Verteidigungsfeldzug gegen den bonapartistischen Angreifer.

Erst als durch die Annexion Elsaß-Lothringens die Gefahr einer russisch-französischen Allianz auftauchte, wandten sie sich entschieden gegen die Weiterführung des Krieges.

Überhaupt sahen Marx und Engels im zaristischen Russland die Hauptbedrohung der europäischen Arbeiterbewegung.

„Von einer aktiven publizistischen Unterstützung kriegerischer Pläne gegenüber Russland ließen sie erst dann ab, als sie glaubten, die inneren Verhältnisse in Russland tendierten eher auf Revolution denn auf dynastischen Krieg. Von diesem Zeitpunkt betrachtet, etwa seit 1878, wurde der Krieg im Denken von Marx und Engels nicht mehr als revolutionsfördernd betrachtet.“ (2)

Vor allem Engels wurde fortan nicht müde, vor einem europäischen Krieg zu warnen, dessen verheerende Folgen er realistisch prognostizierte.

Ihre Grundlage hatte dieser Wandel zu einer Strategie der Kriegsverhütung und Rüstungskontrolle in der Annahme, die kapitalistische Gesellschaft werde zwangsläufig an ihrer eigenen Dynamik zugrunde gehen und auf ihr Ende folge dann der sozialistische Volksstaat. Engels sprach in diesem Zusammenhang von der Dialektik des Militarismus: Wie der Kapitalismus und mit ihm, sollte auch der Militarismus untergehen an der Widersprüchlichkeit seiner eigenen Entwicklung.

Was für den Kapitalismus die Entfaltung der Produktivkräfte bedeutete, sollte für den Militarismus die allgemeine Wehrpflicht sein: Ihre konsequente Durchführung brachte immer mehr Proletarier in die Armee, die sich auf diese Weise nach und nach in ein Volksheer verwandeln sollte. Optimistisch blickte daher Engels 1891 in die Zukunft:

„Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenigen Jahren werden wir einen auf drei haben und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluss. Die Berliner Regierung sieht es kommen, ebenso gut wie wir, aber sie ist ohnmächtig. Die Armee entschlüpft ihr.“ (3)

Wer die Geschichte so auf seiner Seite wusste, der konnte getrost darauf verzichten, ihr durch eigene Anstrengungen nachzuhelfen. Damit war die theoretische Begründung für die parlamentarische, legalistische Praxis der SPD geliefert, deren für eine Zeit lang noch aufrecht erhaltene revolutionäre Rhetorik mehr und mehr zur bloßen Phrase verblasste.

Linksradikale SozialistInnen und Anarchosyndikalismus

Gegen den attentistischen Kurs der Parteimehrheit hatte sich schon früh Widerspruch innerhalb und außerhalb der Partei erhoben: Linksradikale SozialistInnen in der SPD – vor allem Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Karl Radek, Clara Zetkin und Anton Pannekoek sind hier zu nennen – attackierten den „Nurparlamentarismus“ der Partei. Sie setzten dagegen eine zweigleisige Strategie von parlamentarischer Agitation und politischen Massenstreiks mit dem Ziel revolutionärer Machtübernahme.

Verharrten die Linksradikalen in einer Haltung loyaler Kritik gegenüber der Partei, einer Haltung, die in den Zielperspektiven noch ganz mit der offiziellen Parteilinie konform ging und vor allem ein Zuviel an lähmender Zukunftsgewissheit und ein Zuwenig an revolutionärem Aktivismus monierten, so kam eine weit radikalere Kritik von AnarchistInnen und SyndikalistInnen. Diese Bewegungen hatten in Deutschland im Vergleich zur Viermillionen-Partei SPD kaum Einfluss. Stark waren sie dagegen in den romanischen Ländern, insbesondere in Frankreich und Spanien, wo die Mehrzahl der Gewerkschaften eine Allianz mit politischen Parteien konsequent ablehnte und Streiks, Sabotage und Boykott mit der Perspektive des revolutionären Generalstreiks propagierte.

Ausschließlich der siegreiche Generalstreik sollte ihrer Ansicht nach Kapitalismus und bürgerlichen Staat stürzen und die freie Assoziation der Produzierenden aufrichten können.

Jeder Streik war bereits verkleinertes Abbild und zugleich praktische Vorbereitung des endgültigen Aufstands.

Im Folgenden geht es darum, den von 1904 bis 1914 intensiv geführten Streit dieser drei Hauptströmungen der Arbeiterbewegung – also erstens die Mehrheit aus Revisionismus und marxistischem Zentrum (Karl Kautsky) in der SPD, zweitens die linksradikalen SozialistInnen und drittens die SyndikalistInnen und AnarchistInnen – über den antimilitaristischen Kampf auszuloten. Die Auseinandersetzungen entzündeten sich insbesondere an drei Fragen: an der Haltung zu Nationalstaat und nationaler Verteidigung; an der Frage der besonderen Soldatenagitation und drittens an der Frage „was tun?“, wenn der Krieg ausbricht oder unmittelbar bevorsteht.

Nationalstaat und „Vaterlandsverteidigung“

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkte sich die militant-chauvinistische Propaganda der konservativen Parteien und Militärs. Sie diente der psychologischen Mobilisierung für den kommenden imperialistischen Krieg auf der einen Seite, dem innenpolitischen Kampf gegen die Sozialdemokratie auf der anderen.

Mit ihrer Hetze, die Sozialdemokratie sei prinzipielle Gegnerin nationaler Wehrpolitik und damit sozusagen Hochverräterin per Parteibuch, nötigten die reaktionären Kräfte der SPD eine Klärung der eigenen Positionen geradezu auf.

Als nach dem extrem nationalistisch geführten Wahlkampf der Rechten die SPD bei den Reichtagswahlen von 1907 zum ersten Mal nach mehr als zwanzig Jahren Stimmverluste hinnehmen musste, spitzten sich die innerparteilichen Gegensätze zu. Die Parteirechte machte die Linksradikalen für die Wahlniederlage verantwortlich und schlug nun selbst nationalistische Töne an. Gustav Noske etwa empfahl sich damals bereits als der spätere Bluthund und erklärte in seiner ersten Parlamentsrede überhaupt:

„Unsere Stellung zum Militärwesen ist gegeben durch unsere Auffassung des Nationalitätsprinzips. Wir fordern die Unabhängigkeit jeder Nation. Aber das bedingt, dass wir auch darauf Wert legen, dass die Unabhängigkeit des deutschen Volkes gewahrt wird. Wir sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht etwa von irgendeinem anderen Volk an die Wand gedrückt wird. Wenn ein solcher Versuch gemacht werden sollte, dann würden wir uns selbstverständlich mit ebenso großer Entschiedenheit wehren, wie das nur irgendeiner der Herren auf der rechten Seite des Hauses tun kann, die jetzt so tun, als wenn sie den Patriotismus in Erbpacht genommen haben.“ (4)

Ganz vaterlandslos mochten demgegenüber auch die Linksradikalen nicht sein. Doch für sie war es allein ein sozialistisches Deutschland wert, verteidigt zu werden. Bis dahin hatte ihrer Ansicht nach die Arbeiterbewegung die Pflicht, jedem Krieg die Unterstützung zu entziehen und ihn, falls er dennoch ausbrechen sollte, international durch Massenstreiks zu beenden bzw. in eine Revolution umzuwandeln. Exemplarisch fasste Clara Zetkin in einer Rede auf dem Essener Parteitag von 1907 diese Haltung des „proletarischen Patriotismus“ zusammen:

„Der Patriotismus der herrschenden Klassen ist konservativ, ist reaktionär. Er hat nur ein Ziel: diesen Klassen das Vaterland als Domäne der Klassenausbeutung und Klassenherrschaft über die Ländergrenzen auszudehnen. Der Patriotismus des Proletariats ist dagegen revolutionär. Er geht von der Auffassung aus, dass das Vaterland erst im Kampf gegen den inneren Feind die innere Klassenherrschaft erobert, dass es umgewälzt werden muss, um ein Vaterland für alle zu sein.“ (5)

Wenn es in der Sozialdemokratie konsequente InternationalistInnen gab, dann unter den Linksradikalen, und ihre Rede vom noch zu erkämpfenden Vaterland mag oft auch ein taktisches Anknüpfen an das Alltagsbewusstsein der Parteibasis gewesen sein. Es sollte sich jedoch 1914 zeigen – und seitdem noch einige Male -, dass der nationale Diskurs nicht „umzudrehen“ ist. Wer ihn führt, begibt sich auf das Terrain des Gegners und hat entweder verloren oder gewinnt um den Preis der kaum noch zu unterscheidenden Ähnlichkeit mit dem Feind.

AnarchistInnen und SyndikalistInnen hatten mit dem Vaterland rein gar nichts im Sinn. Ihr Programm war konsequenter Antipatriotismus. Der Herausgeber der politisch-literarischen Avantgarde-Zeitschrift „Die Aktion“, Franz Pfemfert, brachte es auf die einfache Formel: „Wir haben die Ehre der Vaterlandslosigkeit zu wahren!“ (6)

Für die AnarchistInnen folgte diese Haltung unmittelbar aus ihrem Kampf gegen die Basisideologie aller modernen Staaten, gegen das Prinzip der Nation.

Die SyndikalistInnen wiederum machten ernst mit dem Satz aus dem „Kommunistischen Manifest“, dass der/die ProletarierIn kein Vaterland habe. Jeder zwischenstaatliche Krieg konnte für das Proletariat nur ein Mehr an Ausbeutung und Unterdrückung bringen.

Deshalb, so schrieb der französische Syndikalist und Linkssozialist Gustave Hervé in seiner antipatriotischen Kampfschrift „Leur Patrie“ (Deren Vaterland), sind „Proletarier, die sich für die jetzt bestehenden Vaterländer töten lassen, dumme beschränkte Gimpel.“ (7)

Soldatenagitation

Hervé hatte auch maßgeblichen Anteil an der antimilitaristischen Soldatenagitation, die die französischen SyndikalistInnen betrieben. Sie verbreiteten in hohen Auflagen Soldatenzeitungen an die frisch eingezogenen Rekruten, erstellten ferner ein Soldatenhandbuch, das innerhalb zweier Jahre eine Auflage von über 200.000 erlebte. In dieser Broschüre forderten sie die Wehrpflichtigen auf, bei einem Einsatz im Inneren nicht auf Streikende oder Aufständische zu schießen und bei Kriegsausbruch zu desertieren, zu meutern, in keinem Fall aber ins Feld zu ziehen.

Zur antimilitaristischen Agitation kam die praktische Solidaritätsarbeit. Viele Syndikate richteten einen „Soldaten-Pfennig“ ein: die durch monatliche Abzüge von den Gewerkschaftsbeiträgen aufgebrachten Summen wurden mit entsprechenden Begleitbriefen an eingezogene Genossen gesandt.

Die Gewerkschaftshäuser veranstalteten regelmäßig Soldatenabende, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen ArbeiterInnen in der Fabrik und Arbeitern in der Kaserne zu stärken. Planmäßig unterstützt wurden Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Die antimilitaristische Kampagne in Frankreich, die zwischen 1903 und 1908 ihre Hochphase erlebte, blieb nicht ohne Wirkung.

In Montceau-les-Mines fraternisierten Truppen offen mit Streikenden; in Südfrankreich meuterte ein ganzes Regiment, das Winzerunruhen niederschlagen sollte. Spektakuläre Prozesse u.a. gegen Hervé, gaben der antimilitaristischen Bewegung eher noch Aufwind. Bescheidene Versuche, auch in Deutschland den militärischen Ungehorsam zu propagieren, wurden von Polizei und Militärverwaltung bereits im Keim erstickt.

Die deutsche Sozialdemokratie hatte, sieht mensch einmal von Karl Liebknecht ab, mit Soldatenagitation ohnehin nicht viel im Sinn. Sie hielt sich strikt an Bebels Ratschlag für Parteigenossen in der Armee, solange sie in Königs Rock steckten, sollten sie den Mund halten und sich nicht merken lassen, dass sie Sozialdemokraten seien, weil ihnen das schlecht bekommen möchte.

Als Karl Liebknecht 1907 dann seine Broschüre „Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung“ publizierte und darin forderte, den parlamentarischen Antimilitarismus der Partei durch außerparlamentarische Agitation, insbesondere unter der wehrpflichtigen Jugend zu ergänzen, da brachte ihm das nicht nur einen Hochverratsprozess und anderthalb Jahre Festungshaft ein, sondern auch herbe Kritik aus den eigenen Reihen. Dabei hatte Liebknecht jede Aufforderung zu gesetzeswidrigem Verhalten unterlassen, hatte die sozialistische Jugend allein mit den Mitteln der Aufklärung gegen Militarismus und Chauvinismus immunisieren wollen.

Verhalten bei Kriegsgefahr und Kriegsausbruch

Bereits 1868 hatte die Brüsseler Internationale, in der Marxisten und Bakunisten noch zusammenarbeiteten, eine Resolution verabschiedet – Marx und Engels hatten diese Resolution übrigens als töricht kritisiert -, in der die Arbeitenden aufgefordert wurden, im Falle eines Krieges die Arbeit niederzulegen.

Die Forderung nach Massenstreiks im Kriegsfall beschäftigte dann seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts regelmäßig die internationalen sozialistischen Kongresse. Die Vorschläge reichten dabei von Militärstreiks über Arbeitsniederlegungen in Rüstungs- und kriegswichtigen Industrien bis zu Generalstreik und allgemeiner Volkserhebung.

Auf dem Stuttgarter Kongress von 1907, auf dem die Kriegsfrage wieder im Mittelpunkt stand, gab der bereits erwähnte Gustave Hervé, gestärkt von den Erfolgen der antimilitaristischen Bewegung in Frankreich, die Losung aus: „Eher Aufstand als Krieg!“ Er fand dafür allerdings wenig Zustimmung. Die Mehrheit stimmte einer Resolution zu, die in sehr allgemein gehaltenen Formulierungen alle Sektionen der Internationale aufforderte, „alles aufzubieten, um den Ausbruch eines Krieges durch Anwendung aller ihnen zweckmäßig erscheinenden Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern; falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der weitesten Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.“ (8)

Es macht die Mittelposition der Linksradikalen deutlich, dass dieser Resolutionstext von Luxemburg und Lenin als Kompromiss zwischen den weitergehenden Anträgen vor allem aus Frankreich und einem noch unverbindlicheren der SPD formuliert wurde. Ausgelöst durch die Revolution von 1905 in Russland hatte in der deutschen Sozialdemokratie bereits zwei Jahre vor dem Kongress in Stuttgart eine Debatte über den politischen Massenstreik als Mittel revolutionärer Machteroberung stattgefunden.

Dabei hatten die Linksradikalen, die über die Massenstreikstrategie die Partei aus ihrer parlamentarischen Selbstknebelung zu befreien hofften, eine Niederlage erlitten. Für die Parteimehrheit war Generalstreik ein Generalunsinn, wie es der bayerische Abgeordnete Auer formulierte.

Das Dilemma der sozialdemokratischen Antikriegsaktionen lag darin, dass sie, um wirksam zu sein, mit der sozialen Revolution als Konsequenz einer Kriegserklärung hätte drohen müssen. In der Partei wurde zwar die akute Kriegsgefahr gesehen, für noch gefährlicher hielt mensch jedoch die Gefahr einer Zerschlagung der eigenen Organisation. In den Augen der Parteiführung durfte aber der eigene Apparat auf keinen Fall gefährdet werden, war er doch die Basis eines sozialistischen Neubeginns nach dem erwarteten „Kladderadatsch“, dem Zusammenbruch des Kapitalismus.

Deshalb betrieb die SPD das, was paradoxe Mobilisierung genannt werden kann: Immer wenn in den Jahren vor 1914 die Politik der Großmächte direkt auf einen Krieg zusteuerte, so bei der Marokkokrise 1911, beim Ausbruch des Balkankrieges 1912 und auch in der Krise des Frühsommers 1914, setzte die SPD eine Welle von Demonstrationen und Massenversammlungen in Gang, hielt dabei den Protest aber im strikt gesetzlichen Rahmen und vermied auch alle Ankündigungen von Streikmaßnahmen für den Fall des Kriegsausbruchs.

So diente die Mobilisierung des Protests zugleich einer Kanalisierung in harmlose Bahnen und damit der Demobilisierung potentiellen Widerstands.

Um Argumente für diese Politik und gegen die Linksradikalen waren die Führer der sozialdemokratischen Mehrheit nicht verlegen. Und wo Argumente nicht ausreichten, da gab es noch die Parteidisziplin, der sich die Linksradikalen unterwarfen, um sich nicht durch Ausschluss zu isolieren.

Der Parteiführung waren gerade unmittelbare Kriegsgefahr bzw. Kriegsausbruch für Massenaktionen die denkbar schlechtesten Augenblicke, da dann die patriotische Begeisterung auch bei den ArbeiterInnen am größten und ihre Widerstandsbereitschaft am geringsten sei. Wenn ein Krieg nicht im Vorhinein verhindert werden könne, sei es erst recht aussichtslos, ihn direkt zu bekämpfen, sobald er begonnen habe. Kautsky vom marxistischen Zentrum der SPD empfahl statt Massenstreik und Militärdienstverweigerung die von ihm sogenannte „Damoklesschwertstrategie“: „Die sozialistischen Parteien sollten sich auf keine konkreten Maßnahmen festlegen, müssten alles in der Schwebe halten, um unfassbar zu bleiben.“ (9)

Praktisch bedeutete dieser Vorschlag nichts anderes als das Abwürgen aller Diskussionen über Antikriegsaktionen. Was dann nach dem August 1914 geschah, war wirklich unfassbar, aber in einem ganz anderen Sinne, als Kautsky es gemeint hatte. In ihrer im Gefängnis verfassten Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie“, bekannter als „Junius-Broschüre“, schrieb Rosa Luxemburg 1915, ein dreiviertel Jahr nach Kriegsausbruch:

„Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung. Der Fall des sozialistischen Proletariats im gegenwärtigen Weltkrieg ist beispiellos, ist ein Unglück für die Menschheit. Verloren wäre der Sozialismus nur dann, wenn das internationale Proletariat die Tiefe dieses Falls nicht ermessen, aus ihm nicht lernen wollte.“ (10)