Am 14. Juli 2012 wäre Woody Guthrie hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Grund versammelten sich im Oktober des gleichen Jahres auf Einladung von Guthries Tochter Nora, die auch seinen Nachlass verwaltet, diverse Größen der Rock-, Folk- und Countrymusik im Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D.C., um ihn mit einem Konzert zu ehren. Das Ergebnis liegt nun unter dem Titel "Woody Guthrie at 100! Live at the Kennedy Center" als Sammelpack aus CD und DVD vor. Und es ist... nun ja... grausig.
Woody Guthrie war der vielleicht klarsichtigste, schärfste und talentierteste politische Songschreiber der USA. Er war die „singende Zeitung“ für hobos und rambling workers, Wanderarbeiter während der Big Depression, die auf den Verbindungsgelenken der Güterwagons ritten und von staatlichen Autoritäten behandelt wurden, als seien sie Ungeziefer. In seinen Liedern erhielten sie Name, Schicksal und Würde zurück.
„Deportee“ [‚Abgeschoben‘] beispielsweise schildert den Absturz eines Flugzeugs mit mexikanischen Wanderarbeitern, die in den Fruchtplantagen Kaliforniens unter unmenschlichen Bedingungen gearbeitet hatten und auf dem Heimweg waren. Es könnte genausogut heute geschrieben worden sein. Der Tagespresse waren die Namen der toten Mexikanerinnen und Mexikaner damals keine Zeile wert.
Guthrie setzte den Opfern mit seinem Song ein Denkmal. Aber er sang auch von Kampf und Widerstand, spottete über Unrecht, Habgier und Engstirnigkeit und war fest überzeugt von der Fähigkeit der Menschen, ihre Situation verbessern zu können. Die ungekürzte Version seines berühmten Songs „This land is your land“ [‚Dieses Land ist dein Land‘], der sogar zur Nationalhymne (!) der USA gemacht werden sollte, ist ein subversives Kampflied mit Augenzwinkern: „Ich sah ein großes Schild, auf dem stand: ‚Privatbesitz’/ aber auf der anderen Seite, da stand gar nichts./ Die Seite wurde gemacht für dich und mich“. Diese Strophe fehlt bis heute auf den meisten Aufnahmen. Pete Seeger, ein Weggefährte Guthries, konnte sie Zeit seines Lebens nicht singen, ohne zu grinsen. Der kommunistische Fellow-Traveller Guthrie war das genaue Gegenteil eines Parolen plärrenden Dogmatikers. Seine Fähigkeiten beim Umgang mit Sprache reihten ihn ein unter die Großen der US-Amerikanischen Poesie. Er konnte einem Nichts von Vers, drei, vier schlichten Allerweltsvokabeln, eine Tiefe geben, die einem die Tränen in die Augen treibt. Vor allem, weil da immer diese leuchtende Lebensfreude war, dieses Staunen vor der Welt und dieser bunte Widerstandsgeist, der alles zu lieben schien, was gut, fröhlich und rebellisch war.
Dabei war Guthrie ein Getriebener, fast möchte man sagen: ein Verfluchter. Feuer war die Geißel seiner Familie. Gleich mehrere seiner Angehörigen starben in den Flammen. Und die Geisteskrankheit seiner Mutter, Huntington’s Disease, war erblich. Er wusste das. Als sie ihn schließlich einholte und Guthrie die letzten Jahre seines Lebens in einem Sanatorium nur mehr verdämmern konnte, saß der junge Bob Dylan an seinem Bett und spielte für ihn sämtliche Guthrie-Songs, die er beherrschte. Es waren viele. Man durfte also durchaus Hoffnungen haben, was die musikalische Feier zu Guthries hundertstem Geburtstag anging.
Aber leider fehlt der alten Musikerweisheit: „Nothing beats a great song“ [‚Nichts schlägt einen großen Song‘] ein wichtiger Zusatz. Der Zusatz heißt: „…except a bad performer“ [‚…außer ein mieser Performer‘]. „Woody Guthrie at 100!“ ist keine musikalische Feier. Es ist eine musikalische Inbesitznahme: „Guthrie gehört uns! Nur uns! Und nur so wie wir darf man ihn spielen. Basta!“. Trotzig stemmt sich eine Riege von Ewig-Gestrigen gegen jegliche Veränderung der Zeit. Nun gut: Nicht alle Darbietungen auf „Woody Guthrie at 100!“ sind schlecht.
Rosanne Cash, die Tochter von Johnny Cash, bietet eine recht gefühlvolle Interpretation von Guthries „I ain’t got no home“. Nett auch, dass man sie am Ende in den Applaus hinein sagen hört: „It’s just about…a perfekt song“ [‚Das ist eigentlich…ein perfektes Lied‘]. Ry Cooders Gitarre auf „Deportees“ ist hörenswert, und Jimmy LaFave lässt bei seiner Version von „Hard Travelin'“ die Stimmbänder mächtig knarren. An fast allen anderen Performern aber (und es sind noch einige!) pappt zentimeterdick der Staub des New Yorker Folk Revivals der sechziger Jahren.
Dieses Folk Revival hat einerseits Künstlern wie Bob Dylan oder Leonard Cohen eine erste Bühne geboten, und es hat Guthrie-Songs überhaupt erst wieder bekannt gemacht.
Andererseits aber bekannte sich, wer damals Folk hörte (oder spielte), zu einer allein selig machenden Kirche. Politisch rechnete man sich dem weißen Linksliberalismus des städtischen Bürgertums zu, sah überall nur kulturellen Niedergang und Verfall um sich her und hielt für gewöhnlich wenig davon, seine Gitarre zu stimmen.
Folk galt als ursprüngliches, urtümliches Fundament der US-amerikanischen Kultur, unberührt von allen Versuchungen und Verwerfungen des kapitalistischen Musikmarktes. Und wehe dem, der es wagte, auch nur eine Note zu ändern! Folkfans waren musikalische Fundamentalisten, eine Sekte angehender Studienräte und Oberstudienräte, die aus dem fließenden, sprudelnden Quell populärer Kreativität ein für die Ewigkeit tiefgefrorenes Artefakt machen wollten.
„Woody Guthrie at 100!“ ist die böse Wiederkehr dieser längst verweht geglaubten Geister. Das Konzert artet aus zu einer Mischung aus musikalischer Abendandacht und Museumsführung, bei der man immer wieder verstohlen auf die Uhr blickt und versucht, sein Gähnen zu unterdrücken. Denn einige Dinge sind amerikanischen Folk-Puristen noch heute ein Greul: ein sauberer Rhythmus zum Beispiel. Das rumpelt, klappert, stochert und stolpert, dass man beim Hören unwillkürlich die Arme ausstrecken möchte, um die Musiker von Old Crow Medicine Show oder Sweet Honey in The Rock aufzufangen, wenn sie fallen.
Ein einigermaßen tonsicherer Gesang gilt ebenfalls als üble Verräterei. Und damit ist nicht allein der inzwischen in Würden gealterte Ramblin‘ Jack Eliott gemeint. Der darf, als Höhepunkt authentisch-volkstümlichen Nichtskönnens, als Headliner auftreten, um mit seiner brüchigen Greisenstimme den Abend seiner trübseligen Klimax entgegenzufisteln.
Denn auch Größen wie Lucinda Williams knödeln ihren Song herunter, als säßen sie spät abends in der Musikschule und wollten eilig heim, um Fernsehen zu schauen. Und wehe, jemand käme auf die Idee, Guthrie-Songs zu Beginn des 21. Jahrhunderts anders zu spielen als in den 60er Jahren des letzten. Tom Morello, der begabte Ex-Gitarrist von Rage against the Machine, versucht es wenigstens. Der Blitz soll ihn treffen! Gitarre, Akkordeon, Mandoline, um Himmels Willen kein Schlagzeug (weil siehe oben), dafür im Geiste ein prasselndes Lagerfeuer, und alle brüllen durcheinander: „This land is yoooour laaaaand….“. So geht das!
Es ist zum Haareraufen
Die Krönung aber ist, dass all diese müffelnden Klangarchivare nicht einmal in der Lage sind, Guthries Texte richtig zu lernen. LaFave verschluckt gleich zwei volle Strophen von „Hard Travelin'“, und auch sonst geht es an diesem Abend textlich drunter und drüber.
Man sollte sich wirklich entscheiden: Entweder man versteht Guthries Lieder als das, was sie sind, nämlich eine rebellische Einladung zur Kreativität. Dann muss man zwar auch nicht gleich anfangen, an ihren Texten herum zu schludern, aber man muss auch nicht in Ehrfurcht vor ihnen erstarren. Guthrie selbst hat sich – mehrfach – einen solchen Umgang mit seinen Liedern gewünscht.
Oder man ernennt „Union Maid“ und „Riding in my car“ zu erhabenen Meisterwerken eines im Grunde nicht mehr menschlichen Genies. Dann allerdings gehört es sich nicht, nachlässig mit ihren Texten umzuspringen. Andernfalls könnte man genauso gut ein Kaugummi auf die Mona Lisa kleben. Man merkt an solchen Schlampereien auf „Woody Guthrie at 100!“ mit bitterem Lächeln, dass viele der selbsternannten Wächter von Guthries Erbe seine Musik gar nicht verstanden haben. Wie wenig das die Veranstalter allerdings gestört zu haben scheint, erkennt man daran, dass alle Texte korrekt und vollständig im Beiheft abgedruckt sind. Nur gesungen werden sie eben nicht. Aber wen schert’s? Authentizität geht vor Songtexten, und populäre Kultur ist schlampig, oder? Deshalb: Je schlechter, desto authentischer. Fundamentalistische Folk-Oberstudienräte, die zu faul sind zum Textlernen. Alles Gute zum Geburtstag, Woody!
2006 hat die New Yorker Klezmer-Band The Klezmatics eine CD herausgebracht, auf der sie weitgehend unbekannte Texte von Woody Guthrie neu vertont hat. Auf seiner aktuellen Live-CD spielt Ry Cooder gleich drei alte Guthrie-Nummern, gemischt mit mexikanischen Mariachi-Klängen oder als düstere Blues-Balladen. Man kann nur hoffen, dass der Geist Guthries eher diesen Künstlern zugehört hat, und nicht den Aposteln einer aus der Zeit gefallenen Folk-Orthodoxie. Kreativität kennt keinen Stillstand.
Nichts verdeutlicht das so sehr wie Guthries Songs. Wer Stillstand fordert, sollte künftige Geburtstagsfeiern lieber anderen überlassen. Denn ein Exklusivrecht an Guthries Musik gibt es zum Glück nicht. Auch, wenn manche das nach 50 Jahren noch immer nicht wahr haben wollen.