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Gegen Ausbeutung, für Autonomie

Luz Kerkelings Studie zum "indigenen Widerstand" im Süden Mexikos lässt die AkteurInnen selbst zu Wort kommen

| Jens Kastner

Luz Kerkeling: Resistencia! Südmexiko: Umweltzerstörung, Marginalisierung und indigener Widerstand. Unrast Verlag, Münster 2013, 576 Seiten, 26,80 Euro, ISBN 978-3-89771-038-2

Es ist einer scheinbar libertären Geste geschuldet, wenn der Soziologe Bruno Latour die „Vernarrtheit der Sozialtheoretiker in emanzipative Politik“ beklagt.

Die Sozialwissenschaften, gerade die sich als kritisch bezeichnenden, hätten sich immer über die Akteurinnen und Akteure selbst gestellt. Sie hätten so getan, als wüssten sie es besser, als könnten nur sie die Schleier von Verblödung und Verblendung lüften und enthüllen, was die einfachen Leute selbst nicht sehen. Und, wie die „kritische Soziologie“ in den Augen Latours, überall Macht am Werke zu sehen, würde die Leute eher betäuben statt aufrütteln und das sei schon ein „politisches Verbrechen“ (148). Harte Worte – geäußert in „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ (Frankfurt a. M. 2010) , die sich vor allem gegen Pierre Bourdieu und seine AnhängerInnen richten.

Nun ist Luz Kerkeling kein Sozialtheoretiker. Aber sein neues Buch ist eine soziologische Studie, und die ist ganz explizit emanzipatorischer Politik verpflichtet. Man muss Latour widersprechen und das geht mit dieser Arbeit in der Hand sehr gut. Wollten wir es in der Latour’schen Drastik tun, müssten wir sagen: Es wäre eine Katastrophe, gäbe es nicht weiterhin solch parteiische und machtanalytische, solch akribische und vielstimmige Studien wie die von Kerkeling!

Inwiefern?

Kerkeling beschreibt seine Arbeit selbst als „eine akteursorientierte und deskriptiv-analytische Langzeitstudie“ (17).

Er bezeichnet sich selbst in Anführungszeichen als „Lautsprecher“ für die Themen und Menschen, denen er sich gewidmet hat. Auf theoretische Interventionen kommt es ihm weniger an. Gegenstand der Studie sind die sozialen Bewegungen im Süden Mexikos, die sich gegen Marginalisierung, rassistische Ausgrenzung und gegen Umweltzerstörung zur Wehr setzen und für ein würdiges Leben eintreten. Selbstverständlich sind dabei dem Zapatismus, der 1994 mit einem Aufstand im Bundesstaat Chiapas für internationalen Wirbel sorgte, ein eigenes Kapitel und verschiedene Nebenbetrachtungen gewidmet.

Aber er steht nicht allein im Zentrum der Arbeit, und es ist das erste Verdienst Kerkelings, einer hiesigen LeserInnenschaft einen Einblick in ähnliche Konfliktfelder und Bewegungsdynamiken zu liefern, die neben Chiapas auch noch Oaxaca und Guerrero umfassen.

Alle drei gehören zu denjenigen der 32 mexikanischen Bundesstaaten, in denen sowohl die Armut als auch der Anteil der indigenen Bevölkerungsgruppen an der Gesamtbevölkerung besonders groß ist. Das ist keine zufällige Koinzidenz, sondern ein systematischer Zusammenhang. Auch solche Hintergründe, vor denen der schließlich untersuchte „indigene Widerstand“ sich abspielt, präsentiert das Buch mit langen Zitaten aus der Sicht der Befragten.

Kerkeling hat bei mehrmaligen Aufenthalten vor Ort über 100 Interviews geführt. Nicht nur mit Aktivistinnen und Aktivisten, sondern auch mit NGO-MitarbeiterInnen, wissenschaftlichen ExpertInnen zu den jeweiligen Themen und anderen. Auch staatliche Quellen, Statistiken wie Statements, werden integriert.

Indigener Widerstand besteht aus einer Vielzahl von radikalen Basisorganisationen, er findet sich punktuell gegen infrastrukturelle und/oder touristische Großprojekte zusammen oder existiert organisatorisch langfristig wie im Falle der Zapatistas oder des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI).

Die Themen und Situationen, an denen sich solche Widerstände entzünden, sind so vielfältig wie systematisch, insofern sie alle im Kontext kapitalistischer Entwicklungs- und Modernisierungslogik stehen: Im Umweltbereich etwa beschreibt Kerkeling die Durchsetzung von Monokulturen, den Tagebau, Großstaudämme und auch den Tourismus als Konfliktanlässe. Aber auch Umsiedlungsprojekte wie die Gründung sogenannter „Landstädte“, die die verstreut in Dörfern und Siedlungen lebende Landbevölkerung in zentralisierten Einheiten zusammenfassen sollen und von Kerkeling als „komplexer Kontrollmechanismus“ (117) bezeichnet werden, sind als Auslöser für Widerstand beschrieben.

Kerkeling überzeugt dabei einerseits mit detailliertem und immer wieder beinahe erschlagendem Faktenwissen und liefert damit bereits eine für Lateinamerikastudien fortan unumgängliche Arbeit zu Sozialstruktur und Politik in Mexiko. Inhaltlich ist das oft niederschmetternd, wenn etwa aufgezeigt wird, dass allein durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in zehn Jahren mehr als 6,2 Millionen Bauern und Bäuerinnen in die Migration gezwungen wurden. (132)

Auf diese Art von Machteffekten hinzuweisen, ist dennoch alles andere als entmutigend. Erstens, weil Machteffekte hier nicht als diffuse Wolke erscheinen, die alles vernebelt, sondern in Form konkret benennbarer Kräfte beschrieben werden (etwa Agrar- und Pharmakonzerne, neoliberale Think Tanks, die mexikanische Regierung etc.). Das heißt nicht, dass Kerkeling von einem homogenen, repressiven Block oder von Herrschaftsmechanismen ausgeht, die sich nicht verändern.

Das Entwicklungsprogramm „Chiapas Solidario“ etwa schildert er als Regierungsform, in der explizit mit dem Aufgreifen vormals linker, oppositioneller Vorstellungen und Vokabeln gearbeitet wird.

Zweitens, und das ist ja das Hauptanliegen des Buches, kommen eben gerade diejenigen zu Wort, die sich zur Wehr setzen. Die vielfachen Autonomiebestrebungen werden immer auch als Alternative zur kapitalistischen Modernisierung diskutiert. Verschiedene aktivistische Zusammenschlüsse wie etwa die „Indianischen Organisationen für Menschenrechte in Oaxaca“ (OIDHO), der schon genannte CNI oder die neben der EZLN tätigen Guerilla-Gruppen in Chiapas werden ausführlich in ihren Organisationsstrukturen wie auch hinsichtlich ihrer Bündnispolitiken beschrieben. Und dies geschieht immer entlang der Auskünfte und Sichtweisen der Beteiligten. Dabei werden auch quer zu den jeweiligen Gruppen und Anlässen liegende bzw. sie durchziehende Kampfschauplätze berücksichtigt: Kerkeling widmet den Kämpfen von Frauen ein eigenes Kapitel und vergleicht Forderungen und Problemlagen zwischen den Bewegungen.

Der alltäglichen Mehrfachbelastung und der Diskriminierung auch in den eigenen Reihen wird mit selbstbewusster geführten Kämpfen gegen die Viktimisierung begegnet, mit konkreten Gesundheits- und Ernährungsprojekten sowie mit Erklärungen wie jener der ökologischen Fraueninitiative OMESP, in der es schlicht heißt: „Keine Art des Wandels wäre gut, wenn wir dabei nicht wertgeschätzt und respektiert würden.“ (399)

Es ließe sich nun sicherlich darüber streiten, ob all dieser Widerstand selbst „indigen“ ist oder ob es sich bei der ethnischen Bestimmung nicht nur um die Klassifizierung der Leute handelt, die ihn ausüben. Auch die sich widersprechenden Gebrauchsweisen von Worten wie „Zivilgesellschaft“ müssten schließlich vielleicht doch aus einer Metaperspektive bewertet und aufgelöst werden. Und zwar, um seine Relevanz beurteilen zu können. Zu konstatieren, dass die Perspektive desjenigen, der hier über zehn Jahre analysiert und vergleicht, zu anderen Ergebnissen kommt als diejenigen, die direkt involviert sind, kann jedenfalls auch als logisch und ehrlich statt als verwerflich gelten.

Das Problem, dass man sich damit potenziell wieder über die Leute selbst stellt, oder zumindest neben sie, hat auch Latour nicht gelöst. Es sozialtheoretisch zu lösen, hat Kerkeling sich im Übrigen nicht zur Aufgabe gemacht. Die, die er sich gestellt hat, ein nah an den Kämpfen orientiertes Panoramabild über die Situation in Südmexiko zu liefern, hat er hervorragend gelöst. So ein Buch sollte es für alle Regionen geben, in denen die sozialen und politischen Widersprüche zu Mobilisierungen von unten führen.