David Graeber: Direkte Aktion. Ein Handbuch, Edition Nautilus, Hamburg 2013, 350 S., 28 Euro, ISBN 9783894017750
David Graeber, bekennender gewaltloser Anarchist, beschreibt in diesem Erfahrungsbericht das New Yorker Direct-Action-Network (DAN), das sich zum Grundprinzip der „gewaltlosen direkten Aktion“ bekannt hat (S. 104), von 1999 bis 2003.
Nach dem 9.11.2001 kam das DAN mehr und mehr unter die Räder der US-Kriegspropaganda. Insgesamt sei das DAN als Versuch zu werten, eine anarchistische Bewegung mit dezentraler, auf dem Konsensprinzip basierender Entscheidungsfindung aufzubauen.
In den ersten Kapiteln beschreibt Graeber die Traditionen der Quäker, von US-Native-Americans, des Student Nonviolent Coordinating Comittee (SNCC) in den Sechzigerjahren, der Frauenbewegung (für die der Text von Jo Freeman über „Die Tyrannei der Strukturlosigkeit“ von 1972 als Aufforderung verstanden wurde, „Gruppenprozesse so zu formalisieren, dass mehr Gleichheit sichergestellt wird“, S. 54) sowie der Anti-Atom-Bewegung der späten Siebzigerjahre mit den Besetzungen von Seabrook 1976 und Shoreham 1977 als Ursprünge heutiger Bewegungen der direkten Aktion und unmittelbar damit verbundener basisdemokratischer Entscheidungsstrukturen. Unter dem Einfluss von Seabrook wurden diese übrigens von gewaltfreien Aktionsgruppen der deutschsprachigen Graswurzelbewegung übernommen. Graeber nennt hier den Schwulenaktivisten, Quäker, Anarchisten und gewaltlosen Revolutionär George Lakey und das Movement for a New Society (MNS) in Philadelphia als „Inspirationsquelle“ (S. 55).
Diese Traditionen verbanden sich später mit Impulsen wie denen aus den Bewegungen des Südens (Einstellung des bewaffneten Kampfes bei den Zapatistas, Einflüsse der brasilianischen Landlosenbewegung Sem Terra und der indisch-gandhianischen Bauernbewegung KRRS auf die Gründung des Peoples‘ Global Action (PGA) Netzwerks): „Die radikalsten Bewegungen in Südamerika neigen dazu, so gewaltfrei zu agieren, wie sie nur können“ (S. 46).
Schließlich hatten auch gegenkulturelle Milieus wie die Punkszene und ihr Geist des DIY (Do It Yourself) mit Formen wie Containern und Lebensformen aus dem Abfall der Industriegesellschaft zu dem beigetragen, was dann in Seattle 1999 zum Ausbruch kam.
Bei der Darstellung der Bewegung von Seattle durch Graeber gibt es nicht wenige Überraschungen: Im Gegensatz zum gewaltbefürwortenden Bild der US-Szene, das wir uns durch Theorietexte diverser Splittergruppen gemacht haben – wie etwa den PrimitivistInnen um Paul Zerzan oder Ward Churchills Buch „Pacifism as Pathology“ von 1998, der jedoch anti-anarchistisch argumentiert und einen militärischen Führungsstil einfordert -, beschreibt Graeber sowohl Seattle wie auch die dann enorm Zulauf bekommenden DAN-Netzwerke in den US-Städten zu quasi 98 % als explizit auf gewaltlose direkte Aktion hin orientiert. Im Grunde macht er eine Dreiteilung der beteiligten Gruppen: erstens eine formalistisch agierende, pazifistische Fraktion mit einem reformistischen und der Polizeigewalt gegenüber naiven Bewusstsein; zweitens eine gewaltlos-offensive anarchistische Fraktion, der Graeber angehörte, die vielleicht am ehesten mit den italienischen Tute Bianche zu vergleichen ist (in den USA yellow Overalls), deren „Taktik, sich mit Polsterung und anderen Mitteln zu schützen, ihnen mehr Initiative und Mobilität ermöglichte, als dies bei Lockdowns (Ankettungsaktionen) der Fall war“ (S. 256); und schließlich – größte Überraschung – der sich weitgehend zur Gewaltlosigkeit bekennende Black Bloc, der in den USA laut Graeber weder Steine noch Mollis auf Menschen, auch nicht auf PolizistInnen werfe (S. 276f.).
Wir müssen hier unsere von deutschen Autonomen geprägte Sicht (die sich in den letzten Jahren aufgrund von Post-Autonomen und interventionistischen Linken ja bereits geändert hat) beiseitelegen: Der von Graeber beschriebene Black-Bloc in den USA bleibt beim gezielten Fensterscheibenzerstören und dem, falls möglichen, „Rausziehen“ von Gefangenen vor Abtransport durch die Polizei bewusst stehen und beschreibt das als Sabotage oder gewaltfreie Sachbeschädigung, nicht jedoch als „Gewalt gegen Sachen“. Graeber beschreibt einzelne „Friedenscops“ aus der ersten Fraktion, die in Seattle gegenüber Black-Bloc-AktivistInnen „handgreiflich“ wurden, „während diese (die ihre Selbstverpflichtung zur Gewaltlosigkeit meistens sehr ernst nehmen) nicht zurückschlugen“ (S. 276).
Und weiter: „Interessanterweise ist in den USA die einzige wichtigere anarchistische Gruppe, die nicht auf Gewaltlosigkeit setzt, die Anti-Racist-Action, die regelmäßig Nazis die Stirn bietet“ (S. 321), was in den USA im Vergleich zu Europa auf den Straßen aber selten vorkomme.
Im Buch leistet Graeber dann eine Kritik derjenigen gewaltlosen Aktionen, die in Bewegungslosigkeit erstarren (klassische Blockaden, aber auch Ankettungen, sogar Baumbesetzungen) und ab diesem Zeitpunkt faktisch die Kontrolle der Situation an die Polizei abgeben, während ständig bewegliche Umzüge, typisch auch mit Clowns und überlebensgroßen Puppen (etwa des Revolutionary Anarchist Clowns Bloc) von Graeber so interpretiert werden, dass die Polizei darauf geradezu einen Hass entwickelt habe, weil sie der Polizei durch Beweglichkeit die Macht nehmen, die Situation zu kontrollieren. Das fußt auf Erfahrungen, wonach die Polizei in den USA Angeketteten regelmäßig starkes Pfefferspray in die Augen spritzte (S. 235f.), was Menschenrechtsgruppen als Folter bezeichneten und vor Gericht brachten, dann aber vom entscheidenden US-Gericht als rechtsgültig anerkannt wurde.
Weitere Erfahrung: Ein Baumbesetzer, David Chain, wurde von einem aggressiven Waldarbeiter umgebracht, als der einen Baum so fällte, dass er direkt auf den Baumbesetzer fiel (S. 234). Diese Erfahrungen hatten eine Abwendung mancher AktivistInnen von Aktionen der Bewegungslosigkeit zur Folge, die dann besonders, wie Graeber es beschreibt, die situationistischen Theorien von Guy Debord und Raoul Vaneigem (S. 40 u. 299) für gewaltlose Aktionen der Beweglichkeit nutzten, besonders Vaneigems „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“ (1967 in Paris, 1972 erstmals in Deutsch erschienen).
Interessant sind auch die ausführlichen Analysen Graebers über Polizeistrategien und offizielle Medienpolitik. Letztere habe sich seit ihrer Öffnung in den Sechzigerjahren und während des Vietnamkriegs, aus dem die Aktionen im Stile Martin-Luther-Kings Nutzen zogen, radikal verändert. Die Journa-listInnen würden heute bereits mit der Schere im Kopf arbeiten und entweder nur über friedliche Massendemonstrationen (positiv) oder über den Black Bloc (negativ) berichten, wobei sowohl Polizei wie JournalistInnen Letzterem überall Waffenlager und Gewalt unterstellen, die den AktivistInnen niemals in den Sinn kämen (noch Puppen etwa würden zerstört, weil in ihnen angeblich Waffen transportiert würden).
Die Mainstream-JournalistInnen erfinden die Bedrohung selbst, sie schaffen realitätsfremde Mythen, weil sie einem von Redaktionen, Polizeistrategen und Fernsehkonsumenten vorgefertigten Bild entsprechen müssen, sonst wird ihr Bericht nicht gedruckt. So wundert sich Graeber nicht, dass in Artikeln über Aktionen faktisch niemals über Ankettaktionen, Tree-Spiking (Bäume vernageln, damit Kettensägen beim Abholzen kaputt gehen), die yellow Overalls und schon gar nicht über den Einsatz von staatlichen Agents Provocateurs berichtet wird.
Man muss Graeber nicht in allem zustimmen: Aus einem Bericht über eine Black-Bloc-Bewegungsaktion, in der er vor allem die Solidarität untereinander lobt, kann man auch ganz andere Schlüsse ziehen, nämlich, dass am Ende die bewegliche Masse durch einzelnes, unsolidarisches Abtröpfeln ausdünnte, was der Polizei dann doch die Gelegenheit zur Repression bot (S. 198ff.). Aber seine oft aus direkten Notizen stammenden Einschätzungen und Selbstkritiken sind aufschlussreich: z.B. über ein DAN-Treffen für ein Aktionsbündnis, in dem ein überformalisiertes Konsensverfahren mit drei (!) Moderatorinnen auf anwesende Gewerkschafter und African-American-Zusammenhänge stieß, die diese Entscheidungsstrukturen gar nicht kannten, was auf ihre white-bohemian-Tradition verweist (S. 142-151). Graeber gibt nicht immer Antworten, aber er stellt die richtigen Fragen.