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Der Kampf ums Isental

Ermittlungen zwischen Resentiments und identitärer Verortung

| Franziska Wittig

Leonhard F. Seidl: Genagelt. emons-Verlag, Köln 2014, Broschur, 304 Seiten, 10,90 Euro, ISBN 978-3-95451-303-1

Trachtenvereine, CSU, die katholische Kirche und ein Mordfall? Schon wieder ein Bayernkrimi? Doch „Genagelt“ ist mehr als nur ein Kriminalroman: es geht u.a. um die Zerstörung des Isentals für die A 94, korrupte Baufirmen, Homosexualität, Rassismen und andere Vorurteile und um das schwierige Thema Kindesmissbrauch. Uns begegnen unter anderem dörfliche Klüngel, ein katholischer Pfarrer, der sich dem Bau der Autobahn in den Weg stellt, und eine Gruppe schwuler Schuhplattler.

Schwule Schuhplattler? So wie die „Schwuhplattler“ (1) , die in Leonhard F. Seidls Roman „Genagelt“ auftreten, existiert auch der Dorfener „Schwammerl“ (2) tatsächlich: ein überdimensionaler Fliegenpilz zum Unterstellen bei Unwetter, der zum Symbol des seit den 1970er Jahren aktiven Widerstands (3) gegen die Autobahn durch das ökologisch vielfältige und etwa eine Million Jahre alte Isental wurde.

Eben dort beginnt Seidls neuer Roman: Freddie Deichslers alter „Schulspezl“ (4) Kurbi wurde an den „Schwammerl“ genagelt und erwürgt, sein Penis hängt aus der Hose und über seinem Kopf ein Bibelzitat. Kurzentschlossen beginnt der Privatdetektiv in Elternzeit auf eigene Faust zu ermitteln – den Sohn David im Tragsystem mit dabei. Dummerweise hat er sein Handy am Tatort verloren und gilt somit als Hauptverdächtiger.

So muss er sich bei seiner Ermittlungsarbeit vor der nahezu omnipräsenten Polizei verstecken, was vieles erschwert. Gleichzeitig arbeitet er selbst nicht immer mit ganz einwandfreien Methoden. Um an Informationen zu kommen, täuscht er z.B. vor selbst Polizist zu sein und droht einem jungen Krankenpfleger, der auf seine Schweigepflicht verweist: „Ich kann dich auch gleich durchsuchen. Inklusive Prostatamassage. […] In Bayern dürfen wir das nämlich. Verdachtsunabhängige Kontrollen nennt sich sowas.“

Unterschlupf findet Deichsler auf einem Hof, der der Isentalautobahn weichen soll. Die Ambivalenz ländlicher Strukturen wird spürbar: neben dörflichem Tratsch und Scheinheiligkeit steht auch ein starker Zusammenhalt und Deichsler erfährt an vielen Stellen Unterstützung. Allerdings ist so manches anders, als es zunächst scheint.

Während Deichsler zwischen Psychiatrie, Friedhof, Bauwagensiedlung, Waldwegen und Privatwohnungen ermittelt, kommt es zu neuen Morden. Die Situation wird auch für ihn und seinen kleinen Sohn immer bedrohlicher. Dabei jagt ein skurriles Ereignis das nächste. Dass der Roman dabei überaus glaubwürdig und überzeugend daherkommt, ist u.a. der dichten und lebendigen Erzählweise geschuldet. Hautnah lassen sich die Emotionen des ambivalenten Helden miterleben.

Wir begegnen einem Protagonisten, der selbst nicht unbedingt weniger Vorurteile hat als andere: sei es im Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund, Behinderungen, die Lernfähigkeit älterer Menschen oder Homosexualität.

Gleichzeitig wird deutlich, wie Deichsler seine eigenen Vorurteile immer wieder kritisch reflektiert. Dies hindert ihn allerdings nicht daran, Frauen stark auf ihr Äußeres zu reduzieren. Während er massiv und wiederholt mit der Frau eines Verdächtigen flirtet, bringt er es weder fertig seine aktuelle, nicht mehr funktionierende Beziehung zu beenden, noch sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass seine Ex-Freundin, die er einst mit seinem ersten Kind sitzen ließ, einen neuen Partner haben könnte. In diesem Geflecht aus alten und neuen Beziehungen, der Suche nach identitärer Verortung und Wut über Ungerechtigkeiten spielt auch die Wiederannäherung des Sohns eines Polizeibeamten und einer „stadtbekannten Ratschkathl“ (5) (auch „Infopoint“ genannt) an das lange gemiedene Elternhaus eine große Rolle. Eine Auseinandersetzung, die sicherlich auch der eine oder die andere außerhalb Oberbayerns gut nachempfinden kann. Sprachlich sollte der Roman – ausgenommen vielleicht einzelner Phrasen – überregional verständlich sein. Er lädt ein zur Beschäftigung mit eigenen Ressentiments – nicht zuletzt auch dem vermeintlich konservativen Oberbayern gegenüber.

Fazit

„Genagelt“ überzeugt durch spannende Unterhaltung, aktuelle Themen und die gekonnte Mischung aus flüssigem Hochdeutsch, Bairisch mit fränkischen Einsprengseln, derber Umgangssprache und eigenwilligem Humor.

Nach seinem Debüt „Mutterkorn“ hat sich Leonhard F. Seidl nun wohl endgültig einen Namen als Autor gemacht. Bleibt nur zu hoffen, dass der geplante zweite Band der Krimireihe den Ansprüchen dieser Vorlage gerecht werden kann.