Geetanjali Shree: "Unsere Stadt in jenem Jahr", Draupadi Verlag, Heidelberg 2013, 219 Seiten, 18 Euro
Krishna Baldev Vaid: "Tagebuch eines Dienstmädchens", Draupadi Verlag, Heidelberg 2012, 285 Seiten, 19,80 Euro
Seit der Zerstörung der Babri-Moschee durch Hindunationalisten im Jahr 1992 und den Pogromen gegen Moslems im indischen Bundesland Gujarat im Jahr 2000 nehmen die Spannungen zwischen Moslems und Hindus in Indien wieder zu und werden wahrscheinlich bei den Wahlen im Mai 2014 zu einer Erstarkung hindunationalistischer Parteien führen.
Geetanjali Shree beschreibt in ihrem Roman „Unsere Stadt in jenem Jahr“, wie vier Menschen aus dem humanistisch geprägten Bildungsbürgertum mit dem sich rasant zuspitzenden Konflikt zwischen den beiden Religionsgemeinschaften umgehen. Der junge Universitätsprofessor Hanif wohnt mit seiner Frau Shruti, ihrem Vater und ihrem Bruder Sharad in einem Haus. Sie verstehen sich prächtig, religiöse Zugehörigkeiten spielen bei ihnen keine Rolle, obwohl Hanif (nicht praktizierender) Moslem ist.
Sharad und Hanif arbeiten als Professoren in der Universität. Direkt daneben liegt das Hindukloster, in dem Yogakurse für EuropäerInnen angeboten und religiöse Feste gefeiert werden. Von ihm gehen zunehmend aufdringliche Prozessionen und religiöse Signale aus. Als Shruti und Hanif das Kloster bei einer Feier besuchen, werden sie Zeuge, wie ein Swami bei seiner Ansprache mit sanfter Stimme Anstand, Höflichkeit und Respekt gegenüber anderen Menschen beschwört, um im nächsten Moment im harschen Ton auszurufen: „Mächtige Devi, hilf uns, tiefes Mitgefühl zu entwickeln, damit wir nicht tatenlos zusehen, wie unser Vaterland mit Füßen getreten wird“.
Die lärmenden Lautsprecher des Klosters übertönen immer öfter die Vorlesungen an der benachbarten Uni und ein religiöser Jahrmarkt okkupiert immer mehr Freiflächen in der Nachbarschaft.
Die ressentimentbeladenen religiösen Vorgaben des Klosters greifen immer mehr Menschen auf und bringen sie gegen Muslime in Stellung. Der aufgeklärte Wissenschaftsbetrieb, allen voran Hanif und Sharad, wehrt sich gegen den religiösen Absolutismus mit den klassischen Methoden der Aufklärung und Argumentation durch Zeitungsartikel, Plakate und Flugblätter. Sogar ein „Friedensmarsch“ findet statt. Sie wollen die unabhängige dritte Kraft zwischen den festgefahrenen Fronten sein und vermitteln.
Doch immer mehr kippt die Stimmung in der Stadt, die Toleranz befindet sich auf dem Rückzug. Die Botschaft aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm kommt beim einfachen Volk nicht an. Verunsicherung, Misstrauen und Angst greifen im Gegenteil sogar auf die Uni über. Dem bisher so beliebten diskussionsfreudigen Hanif wird jetzt sogar Despotismus unterstellt, wie er von „seinen“ Mogul-Vorfahren praktiziert wurde. FreundInnen wenden sich ab und meiden den Kontakt. Geschäftsleute tauschen ihre muslimisch klingenden Firmennamen in hindukonforme aus. Es kommt zu ersten Ausschreitungen, Morden und Vergewaltigungen.
Unbeirrt heizt das Kloster die Stimmung weiter an. Ständige Wiederholungen dreister Lügen verwandeln sich in der Stadt zu unumstößlichen Gewissheiten. Vegetarisch zu essen und blutrünstig zu sein, ist kein Widerspruch mehr. PolitikerInnen und Baulöwen machen den Swamis ihre Aufwartung, denn für plattgemachte moslemische Viertel finden sich schnell kommerziell orientierte Interessenten. In dieser lebensgefährlichen Situation erstirbt das unbekümmerte Lachen im Haus der vier HumanistInnen. Dafür häufen sich persönliche Missverständnisse, unterschwellige Vorwürfe und übertriebene Empfindlichkeiten zwischen Hanif und Sharad.
Der um sich greifenden Polarisierung können selbst sie sich nicht mehr entziehen. Es kommt zum Bruch. Nur Shruti verbleibt – wie ihr musikalischer Name schon andeutet – in dieser zugespitzten Situation ein Gespür für differenzierte Zwischentöne.
In einer chronologisch angeordneten Collage montiert Geetanjali Shree gekonnt Begebenheiten und Gesprächsfetzen zu einem beeindruckenden Gesamtwerk, das minutiös nachvollziehbar macht, wie es zu kommunalistischen Ausbrüchen von Gewalt in einer indischen Stadt kommen kann.
Tagebuch eines Dienstmädchens
Während Shree die Handlungen ihrer Romane bevorzugt im Milieu der oberen Mittelschicht ansiedelt, schreibt Krishna Baldev Vaid in seinem Buch aus der Perspektive des jungen Dienstmädchens Shano, das mit Mutter und Schwester in einer elenden Hütte lebt und für geringes Entgelt in mehreren reichen Haushalten arbeiten muss.
Sie trifft sich fast täglich mit den anderen Dienstmädchen ihres Viertels unter dem Neembaum und bespricht mit ihnen den neuesten Tratsch über die eingebildeten feinen Herrschaften, ihre Bosheiten und Allüren.
Zu ihrer prekären sozialen Lage kommen noch der ständige Kleinkrieg mit den Memsahibs und die zahllosen sexuellen Belästigungen der Sahibs und ihrer Söhne hinzu.
Doch bei Shano gibt es auch zwei Ausnahmen. Der etwas zerstreute „Zeitungssahib“ und die weltoffene Mrs. Varma von der schreibenden Zunft behandeln sie recht anständig, sodass sie dies zunächst nicht annehmen kann, weil sie in ihrem antrainierten unterwürfigen Rollenverhalten gefangen war.
Mrs. Varna ermuntert Shano, die nach der achten Klasse die Schule abbrechen musste, ein Tagebuch zu führen. Von Beginn an lässt der Schriftsteller Vaid sie verblüffend offen und in nur scheinbar einfachen Worten über ihre Familie, die Freundinnen, die Arbeit schreiben.
Nach einiger Zeit berichtet sie nicht nur chronologisch, sondern reflektiert mit viel Wortwitz und Phantasie die Ereignisse und spielt unterschiedliche Handlungsoptionen durch.
Als Frau dazu angehalten, den Blick nach unten zu richten und sich widerspruchslos zu fügen, fragt Shano jetzt offensiv: „Warum starren Frauen Männer nicht gierig an?“ Shano will nicht, wie ihre Mutter und ihre Freundinnen, in die ausweglose „Heiratsfalle“ tappen. Deswegen betont sie im Tagebuch zur Selbstvergewisserung dutzendfach ihr eigenes „Gegen-Mantra“ zu den herrschenden Verhältnissen: „Ich heirate nicht und bekomme auch keine Kinder“.
Anstatt fruchtlos unter dem Neembaum mit ihren Freundinnen zu lamentieren, lernt sie Englisch, liest beim freundlichen Sahib Zeitungen, weitet ihren Horizont. In ihrem Tagebuch erschreibt sie sich ihre Freiheit. Hier dokumentiert sie ihre eigenständige Sichtweise und hat damit einen Erfahrungsschatz zusammengetragen, auf den sie sich zurückbesinnen kann.
Ihre gesellschaftliche Situation schätzt sie trotz einiger Lichtblicke richtig ein: „Dabei kann ich lernen so viel ich will, am Ende bin und bleibe ich ein Dienstmädchen“. Denn die Rahmenbedingungen sind nicht einfach. Die auch bei den Unterdrückten verinnerlichten Kastenschranken, der Glaube an das vorherbestimmte Schicksal, das Karma und das „heuchlerische Geschwätz von Pandits und Priestern“ helfen, das ungerechte Sozialgefüge zu zementieren.
In Indien gibt es zu viel Heiligkeit und zu wenig Gerechtigkeit.
Auch als Shano bei Mrs. Varna und dem Zeitungssahib als Vollzeitkraft einzieht und so dem Hüttenelend zeitweise entfliehen kann, ereilt sie die Realität mit voller Wucht. Als ein reicher Herr im Viertel ermordet wird, verdächtigt die Polizei zuerst wie selbstverständlich sein Dienstmädchen. Mrs. Varna findet das völlig in Ordnung.
Shano ist entsetzt und zutiefst verletzt über dieses herrschaftliche Vorurteil – und kündigt! Ihre ungeschminkten Tagebücher übergibt sie zum Schluss ihrer „Förderin“ und hält ihr damit selbstbewusst den Spiegel vor.
Mit dem brillant und lebendig geschriebenen Tagebuch gibt der bekannte Schriftsteller Krishna Baldev Vaid den zahllosen gedemütigten und ausgebeuteten „Dienstmädchen“ Indiens eine gewichtige Stimme.
Dem kleinen Draupadi Verlag ist zu danken, dass er mit diesen beiden Büchern dem deutschsprachigen Publikum viele erhellende Einblicke in die innere Verfasstheit der indischen Gesellschaft gewährt.