Volin: Die unbekannte Revolution, mit Einleitungen von Roman Danyluk und Philippe Kellermann, Die Buchmacherei Berlin 2013, 680 Seiten, 23,50 Euro, ISBN 978-3-00-043057-2
Das 1947 posthum publizierte Werk „Die unbekannte Revolution“ von Volin (= Vsevolod Michailowitch Eichenbaum, 1882-1945), gilt schlechthin als das wichtigste und umfassende Werk der anarchistischen Geschichtsschreibung der Russischen Revolution. Volin selber nahm aktiv an der Revolution teil.
„Die unbekannte Revolution“ ist neben Alexander Berkmans „Der bolschewistische Mythos“ (Verlag Edition AV, Lich 2004) und Emma Goldmans „Der Niedergang der Russischen Revolution“ (Karin Kramer Verlag, Berlin 1987) eines der klassischen Werke der anarchistischen Kritik am Bolschewismus. Zynischer Weise titulierte aber gerade François Lourbet in seinem Vorwort zur französischen Neuauflage 1969 Volin als „Lenin der russischen, anarchistischen Bewegung“ – ohne diese Formulierung näher zu erläutern.
Volins Werk wurde 1974 erstmalig komplett in deutscher Sprache in drei Bänden beim Hamburger Verlag Association publiziert – ursprünglich als Gemeinschaftsprojekt mit dem Karin Kramer Verlag.
Der geplante vierte Band der „Unbekannte(n) Revolution“ mit Dokumenten ist leider nie erschienen. Diese drei erschienen Bände wurden ohne Veränderung in der Neuauflage reproduziert. Sie waren seit Jahren vergriffen. Lediglich ein Teil des Werkes – „Der Aufstand von Kronstadt“ wurde mit einem Anhang 2009 vom Unrast Verlag wieder publiziert.
Der in Russland geborene Volin wurde berühmt. Er zeichnet die Sozial- und Zeitgeschichte der russischen Revolutionen beginnend ab dem Dekabristenaufstand (1825) bis zum Aufstand in Kronstadt (1921) sowie der Machno-Bewegung in der Ukraine (1921) nach.
Die Darstellung der Machno-Bewegung orientiert sich dabei stark an den Erinnerungen von Peter A. Aschinoff (Die Geschichte der Machno-Bewegung, Unrast Verlag, 2009), wie er selber zu gibt. Volin, der mit Machno während seiner Pariser Exiljahre verkehrte, kannte Aschinoffs Werk sehr gut, weil er es ins Französische übersetzt hatte. Seine Auseinandersetzung mit Machno ist tief im zeitgenössischen Diskurs in der französischen anarchistischen Bewegung verankert.
In den drei Bänden – „Geburt, Entwicklung und Triumph der Revolution“, „Der Bolschewismus und die Anarchie“ und „Die Kämpfe für die wirkliche soziale Revolution“ – verfolgt er die Geschichte chronologisch und zeigt die deutlichen Differenzen zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern auf sowie auch des häufig als monolithischen Block wahrgenommenen bolschewistischen Lagers.
Volins lebhaft geschriebene, umfangreiche Analyse ist eng verbunden mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Er selber war während der Revolution von 1905 Mitglied einer sozialrevolutionären Partei, übernahm während der Revolution 1917 in einer anarcho-syndikalistischen Gruppe Aufgaben und schloss sich 1918 der Machno-Bewegung in der Ukraine an.
Volin thematisiert in seiner Darstellung auch Schattenseiten der Machno-Bewegung – wie den Alkoholismus, den Umgang mit Frauen und den Antisemitismusvorwurf gegen Machno.
Machno sah sich gerade in seinen Exiljahren mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert, der von den Bolschewisten aufgebracht wurde und auch seinen Widerhall in anarchistischen Kreisen in Frankreich fand. Volin als Sprössling einer jüdischen Familie und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Judenverfolgung in Nazideutschland hatte ein persönliches Interesse daran, dieses Kapitel der Macho-Bewegung zu beleuchten.
In seiner Darstellung finden sich allerdings auch vereinzelt kleine Fehler und historisch widerlegte Darstellungen. Hier hätte der Verlag gut daran getan, diese im Rahmen von Fußnoten richtig zu stellen. Die wenigen Fußnoten stammen noch aus der deutschen Erstveröffentlichung und verweisen meist auf längst vergriffene Buchtitel. Hier hätten sich die Herausgeber die Mühe machen sollen, die aktuell zugänglichen Referenzen anzugeben.
Dies tut dem Text an sich jedoch keinen Abbruch. Er bietet eine gute Einführung in die Geschichte der Russischen Revolution aus anarchistischer Sicht und verdeutlicht die Differenzen zwischen dem klassischen Anarchismus und dem Bolschewismus, die gerade in den neo-linken Strömungen von 1968 an immer wieder ignoriert oder heruntergespielt werden. Der Text Volins ist nicht zu Unrecht ein Klassiker der anarchistischen Geschichtsschreibung. Er ist bis heute die wichtigste Referenz, die wir aus unserer Perspektive auf die Geschichte haben. Volin ist neben Max Nettlau für die Geschichtsschreibung des Anarchismus von größter Bedeutung.
Neben dem Reprint des Textes der vergriffenen Ausgabe (inkl. des damaligen Vorworts des Verlages Association von 1974) sind zwei Einleitungen zum Text abgedruckt – eine von Roman Danyluk und eine von Philippe Kellermann.
Danyluk, der bereits ein Buch aus libertärer Sicht zur Geschichte der Ukraine („Freiheit und Gerechtigkeit“, Verlag Edition AV 2010) verfasst hat, vertut leider die Chance, mit seinem Hintergrundwissen die Bedeutung des Textes zu qualifizieren. Hier hätte ich mir eine nähere Einordnung des Textes vor dem Hintergrund seines landeskundlichen Wissens über die Ukraine gewünscht.
Philippe Kellermann, der ein guter Kenner der anarchistischen Geschichte und Philosophie ist, hat ebenfalls einen Essay beigesteuert. Er ist allerdings auch kein ausgewiesener Kenner des russischen Anarchismus oder der Situation in Frankreich, in der Volin diesen Text verfasst hat.
Hier erschließt sich mir nicht unbedingt ein Mehrwert durch diese Vorworte. Sie hätten getrost weggelassen werden können. Zum Verständnis des Textes und seiner Bedeutung tragen sie nicht bei.
Es ist dem Verlag Die Buchmacherei zu danken, einen wichtigen Klassiker der anarchistischen Literatur wieder zugänglich gemacht zu haben – fast schon zynischer Weise mit einem Zuschuss der Rosa Luxemburg Stiftung.
Gleichzeitig ist es zu bedauern, dass die Chance vertan wurde, eine etwas sorgfältiger editierte Fassung des Textes zu publizieren. Der Verlag hätte z.B. die damals nicht vom Verlag Association publizierten Dokumente anfügen können bzw. ein adäquates Vorwort, welches den Text in seiner Bedeutung und seinem Entstehungskontext beleuchtet, ergänzen können.