transnationales

„No matarás“ [‚Du sollst nicht töten‘]

Die Auseinandersetzung der argentinischen Linken mit ihrer gewalttätigen Vergangenheit

| Martin Baxmeyer

Als die Soldaten das Lager erreichten, waren die meisten Guerilleros schon tot. Hingestreut wie Laub lagen ihre bärtigen, olivgrünen Kadaver im Schlamm. Kaum zwei Dutzend waren es insgesamt. Sie waren verhungert. Im März 1964 endete in der nordargentinischen Provinz Salta das Abenteuer des Ejército Guerrillero del Pueblo (EGP) ['Guerrilla-Armee des Volkes'], der ersten erstzunehmenden Guerilla auf argentinischem Boden, als grausige Farce.

Die Vorgeschichte des EGP

Gegründet worden war der EGP neun Monate zuvor von einer Legende der intellektuellen Linken Lateinamerikas: dem argentinischen Journalisten Jorge Ricardo Masetti.

Masetti war es gelungen, auf abenteuerlichen Wegen, während des Kampfes gegen die Batista-Diktatur auf Kuba, Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara in der Sierra Maestra zu treffen und beide zu Interviewen – zweimal sogar, denn die erste Radioübertragung war in Argentinien nicht zu hören gewesen.

Zum ersten Mal erfuhr der Kontinent von den Zielen der kubanischen Revolutionäre aus deren eigenem Mund. Nach ihrem Sieg 1959 gründete Masetti gemeinsam mit dem ebenfalls aus Argentinien stammenden Schriftsteller Rodolfo Walsh ein Pressebüro, das unabhängig von nationalen Regierungen arbeiten und über politische Missstände in Lateinamerika frei und unzensiert berichten sollte: Prensa Latina [‚Lateinamerikanische Presse‘]. Masettis eigene Reportage über seine Erlebnisse in der Sierra Maestra, „Los que luchan y los que lloran“ [‚Die, die kämpfen und die, die weinen‘], wurde auch in Deutschland zu einem viel gelesenen Buch.

Ernesto „Che“ Guevara, Argentinier wie Masetti und Walsh, war zu Beginn der sechziger Jahre so etwas wie ein säkularer Heiliger der lateinamerikanischen Linken. Er trieb nach dem Sieg auf Kuba die Gründung einer Guerilla in seinem Geburtsland Argentinien mit Macht voran. Zu diesem Zweck empfing er im Januar 1960 in Havanna eine Reihe von linken Studenten, Journalisten und Aktivisten. Er erklärte ihnen, dass Revolutionen von denen abhingen, die sie machten. Weder Theorien noch Analysen noch Vorbereitung würden viel helfen. Osvaldo Bayer, später ein berühmter Schriftsteller mit stark anarchistischen Neigungen, war bei dem Treffen dabei. Er wagte einen scheuen Einwand: „Aber Che… Die Repressionskräfte in Argentinien sind nicht so wie die von Batista auf Kuba. Sie sind sehr mächtig und bestens informiert: Wenn sie uns mit der Provinzpolizei nicht besiegen können, dann machen sie’s halt mit der Nationalen Polizei. Und wenn das nicht klappt, holen sie die Gendarmerie, die Armee, die Luftwaffe, die Infanterie, die Marine…“. Die milde lächelnde Antwort des Che hat Geschichte geschrieben: „Das sind alles Söldner“.

Man ist versucht, mit 54-jähriger Verspätung an Bayers Stelle zu antworten: „Stimmt. Aber wenn man Söldner auf seine Seite ziehen will, dann muss man sie bezahlen“. Der Wirklichkeitsverlust der gewaltbereiten Linken Lateinamerikas sollte noch blutige Folgen haben.

Der Irrweg des Focalismo

Der Erfolg der kubanischen Revolution und die praktisch sofort einsetzende (Selbst)Mythisierung ihrer Akteure, die Mär, eine Hand voll entschlossener Männer hätte genügt, um ein korruptes und blutgieriges Regime zu stürzen, schienen Guevara Anfang der sechziger Jahre allerdings noch Recht zu geben.

Der von ihm entwickelte Focalismo, den man – mit viel gutem Willen – als eine Art revolutionärer Theorie bezeichnen könnte, sah vor, den US-Amerikanischen Einfluss im Süden des Kontinents dadurch zu brechen, dass in besonders „schwachen“ Staaten oder Regionen Guerillaorganisationen gegründet wurden, die den Kampf gegen den Imperialismus und seine Handlanger aufnehmen sollten. Dieses „Streuen“ der Revolution sollte so lange fortgesetzt werden, bis ganz Lateinamerika vom Joch der Diktatur, Ausbeutung und Fremdherrschaft befreit sein würde.

Vier Jahre nach dem Ende des EGP fand Guevara bei einem ganz ähnlichen Unternehmen in Bolivien selber den Tod. Für bürgerliche Intellektuelle wie Masetti war Guevara – von Hause aus Arzt – der lebende Beweis, dass es genüge, ein Gewehr in die Hand zu nehmen und in den Urwald zu ziehen, um das Stigma der eigenen Klassenzugehörigkeit abzustreifen und die gesellschaftliche Lage zu verbessern. Gewalt galt als ultimative Konsequenz linkspolitischen Engagements. Sie anzuwenden war ein Ausweis für Entschlossenheit, Tatkraft und Gesinnungstreue.

Masetti hatte schon in der Sierra Maestra mit Guevara Freundschaft geschlossen.

Nachdem er zahllose Behinderungen der Arbeit von Prensa Latina durch korrupte und blutgierige Regime erleben musste, kam er zu dem Schluss, dass gewaltfreier Widerstand auf dem lateinamerikanischen Kontinent sinnlos sei. 1963 gab der bis dahin demokratisch gesonnene, friedliebende Masetti sein früheres Leben auf. Er wurde zu „Comandante Segundo“ [‚Kommandant Nr. 2‘], benannt nach einer Romanfigur des argentinischen Schriftstellers Sarmiento, und schuf den EGP. Guevara unterstützte von Kuba aus die winzige Guerilla mit Waffen und Material.

Als Befehlshaber führte Masetti ein erbarmungsloses Regiment. Auf Homosexualität stand die Todesstrafe. Die einzigen Schüsse, die der EGP während seines Bestehens abgab, töteten keine „Feinde“, sondern zwei vorgebliche Verräter aus den eigenen Reihen: Adolfo „Pupi“ Rotblat und Bernardo Groswald. Beide stammten aus jüdischen Familien. Ohne Kontakt zur armen Landbevölkerung waren die jungen, ahnungslosen Städter des EGP nicht in der Lage, im Urwald zu überleben. Sie aßen alles, was sie finden konnten: Gürteltiere, Schlangen, Wurzeln, Insekten, Erde. Als sie schließlich entdeckt und gestellt wurden, war niemand mehr übrig, den zu bekämpfen sich für das argentinische Militär ernsthaft gelohnt hätte.

Von Rechts nach Links: Eine Erinnerung verändert sich

In der politischen Öffentlichkeit Argentiniens ist seit einigen Jahren ein interessantes Phänomen zu beobachten: Nach Jahrzehnten des Kampfes engagierter Menschenrechtsgruppen gegen die Impunidad, die Straflosigkeit für Täter der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), die nicht zuletzt mit dem Kampf gegen die bewaffnete Linke gerechtfertigt wurde und die zu den großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts zählt, verschiebt sich der Schwerpunkt der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen allmählich von rechts nach links. Dabei werden nicht nur Fragen nach dem (fast vergessenen) EGP laut. Auch das Handeln des trotzkistischen Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) und der linksperonistischen Montoneros, der größten und mächtigsten Guerillagruppe der 70er Jahre, wird kritisch hinterfragt. Das jahrelang auf Seiten der Linken dominierende Heldenbild der Guerilla gerät ins Wanken.

Die Gründe für den aktuellen Wandel in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung sind auf paradoxe Weise miteinander verschränkt: Zum einen beendete die Machtübernahme Nestor Kirchners im Jahr 2003 endgültig eine Politik des Beschweigens und Verleugnens der Vergangenheit, die sein Konkurrent und Vorgänger Carlos Menem während seiner Präsidentschaft zur Staatsdoktrin erhoben hatte.

Menems wirtschaftspolitischer Kurs, der Argentinien zielsicher in den Abgrund geführt hatte, war im Grunde eine Wiederauflage der katastrophalen Wirtschaftspolitik der Diktatur gewesen: eines Turbo-Neoliberalismus mit Folterkellern.

Entsprechend wenig Interesse zeigte Menem an einer kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Er begnadigte die 1985 verurteilten Kommandeure der Junta ebenso wie 60 ehemalige Guerillos – unter ihnen 13 Verschwundene (!) – und plante unter anderem, die Gebäude der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA) [‚Technische Schule der Marine‘], des größten und berüchtigtsten Foltergefängnisses der Diktatur, in Buenos Aires abzureißen.

An ihrer Stelle sollte ein „Monument der nationalen Einheit“ entstehen, ein monströser Obelisk mit argentinischer Flagge. Ein Grabstein für die lästige Vergangenheit. 1998 hatten Klagen von Opferverbänden Erfolg: Die ESMA wurde als „Teil des kulturellen Erbes der Nation“ für schützenswert erklärt. Heute ist sie eine Gedenkstätte. Mit Kirchners änderte sich der politische Kurs: Seine Zwangsumschuldung führte Argentinien nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft 2001 allmählich aus der Krise.

Die moralische Legitimität seiner Regierung jedoch lag, trotz aller Korruption, Selbstherrlichkeit und Skandale (auch international) vor allem darin, dass er die juristische Straffreiheit für Folterer und Mörder aus den Reihen der Militärs beendete. Seither sind in Argentinien hunderte von Prozessen gegen ehemalige Täter aus der Zeit der Diktatur anhängig. Es war also möglich, sich anderen Seiten der Vergangenheit zuzuwenden.

Zum anderen jedoch positionierte sich Kirchner demonstrativ und medienwirksam auf Seiten der früheren Linken. Er berief ehemalige Guerillakämpfer oder deren Sympathisanten auf wichtige Staatsposten und nannte sich öffentlich stolz einen Ex-Montonero – einen unbewaffneten freilich.

Diese erinnerungspolitische Umgewichtung gefiel beileibe nicht jedem. Mehr noch: Als 2006 die Neuauflage des berühmten Nunca-Más-Berichts über die Verbrechen der Junta veröffentlicht wurde, tilgte man jene Passage aus dem Vorwort, die in der Erstauflage von 1984 davon gesprochen hatte, während der 70er Jahre sei die argentinische Bevölkerung – selbst schuldlos – von zwei „Dämonen“ gepeinigt worden: dem Militär und der gewaltbereiten Linken. Diese „Theorie der zwei Dämonen“ war mit Recht jahrzehntelang (vor allem) von der politischen Linken als unzulässige Gleichsetzung von Staatsterrorismus und Guerillaaktivitäten bekämpft worden.

Sie hatte eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit nicht eben gefördert. Nun aber schien linksrevolutionäre Gewalt für die politische Entwicklung der 70er Jahre bis hin zur Diktatur gar keine Rolle mehr zu spielen.

Eine „Selbstreinigung“ der autoritären Linken?

Die Diskussion über Rolle, Legitimität und Konsequenzen des bewaffneten Kampfes während der 1960er und 70er Jahre erfasste (und erfasst noch immer) in Argentinien weite Bereiche des öffentlichen Lebens: Fernsehen, Presse, Theater, Literatur und vor allem der Dokumentarfilm nehmen sich des Themas an. Filme wie „Cazadores de Utopías“ [‚Utopienjäger‘] oder „Papa Iván“ [‚Papa Ivan‘] sorgten, obwohl sie eigentlich nur in kleinen Programmkinos liefen, für Aufsehen und wurden heiß diskutiert.

Idealisierungen seliger Jugendzeiten oder eines selbstlosen Engagements für eine bessere Welt stehen scharfen Anklagen und Distanzierungen gegenüber. Auffällig allerdings ist, dass (noch) vor allem die ehemals linkspolitisch Aktiven selber die Debatte zu dominieren scheinen. In wissenschaftlich hochwertigen Zeitschriften wie „Lucha armada en la Argentina“ [‚Bewaffneter Kampf in Argentinien‘] schreiben ehemalige Montoneros oder Mitglieder und Sympathisanten des ERP, die eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen haben und zum Teil – wie Pilar Calveiro – durch die Hölle der Foltergefängnisse der Diktatur gegangen sind. Die Debatte wirkt wie eine Art Selbstreinigung, eine Katharsis und öffentlich-kritische Aufarbeitung der eigenen, gewalttätigen Vergangenheit.

Sie erscheint als Gegenentwurf zum jahrzehntelangen Vertuschen der Verbrechen auf Seiten der politischen Rechte.

Aber ist dieser Eindruck zutreffend?

Die Wiederkehr des EGP

2004 war das Gespenst des EGP auf einmal wieder da – in Gestalt eines zweiteiligen Interviews in der linksintellektuellen Zeitschrift La Intemperie.

Juan Héctor Jouvé hatte sein Engagement in der Guerilla nur deswegen überlebt, weil er dem Militär Tage vor dem kläglichen Hungertod seiner Kameraden in die Hände gefallen war.

Seine Schilderung der Ereignisse ist zögerlich, lückenhaft, stockend. Aber sie genügte, um einen Sturm auszulösen: Der EGP sei, so Jouvé, bis ins Detail eine fast schon kindische Kopie der Guerilla Fidel Castros gewesen – ein Sandkastenspiel mit tödlichem Ausgang.

Die Exekutionen von Rotblat und Groswald seinen willkürlich gewesen und hätten die Falschen getroffen: Als die Guerilla aufflog, sei sie bereits von der Polizei unterwandert gewesen. Guevara habe den EGP eigentlich nur als Trainingslager für seine künftige Guerilla in Bolivien begriffen.

Jouvé warf ganz offen die Frage nach der Legitimität des bewaffneten Kampfes auf und zog eine bittere Bilanz: „Ich bin mir sicher, dass der argentinische Geheimdienst immer die gewaltbereite Linke gefüttert und gelockt hat. Er hat ihr etwas zum spielen gegeben, damit er sie dann schlagen konnte. Nicht nur, damit er sie dann schlagen konnte. Sondern, damit die Gewalt immer über die Politik dominierte.“

Im Dezember des gleichen Jahres schickte der Dichter und Philosoph Oscar del Barco einen offenen Brief an die Redaktion von La Intemperie.

Er gab zu, während der 60er Jahre mit dem EGP sympathisiert zu haben: „Wir müssen anerkennen, dass wir alle, die wir auf die eine oder andere Weise mit den Montoneros, dem ERP, der FAR oder sonst einer bewaffneten Organisation sympathisiert oder uns direkt oder indirekt an ihr beteiligt haben, verantwortlich sind für ihre Aktionen. […] Es gibt kein ‚Ideal‘, dass den Tod eines Menschen rechtfertigt […]. Das Prinzip, auf dem jede menschliche Gemeinschaft aufruht, lautet: ‚Du sollst nicht töten‘. […] Immer erklären sich die Mörder der einen oder anderen Seite für gerecht, für gut, für Boten der Erlösung. Aber wenn man nicht töten soll und doch tötet, so ist der, der tötet, ein Mörder. Der, der sich am Mord beteiligt, ist ein Mörder. Und der, der die Mörder unterstützt, und sei es nur mit seiner Sympathie, ist auch ein Mörder. Solange wir nicht die Verantwortung aufbringen, das Verbrechen zu erkennen, wird das Verbrechen gegenwärtig bleiben. Mehr noch: Ich glaube, dass das Scheitern der revolutionären Bewegungen, die Millionen von Toten in Russland, Rumänien, Jugoslawien, China, Korea, Kuba usw. produziert haben, zum Teil damit zu erklären ist, dass diese Bewegungen verbrecherisch handelten. Die sogenannten Revolutionäre wurden zu Serienmördern, von Lenin, Trotzki, Stalin und Mao bis zu Fidel Castro und Ernesto Guevara. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, eine neue Gesellschaft zu schaffen. Aber ich weiß, dass es nicht möglich ist mit Verbrechen und Konzentrationslagern. […] Wenn ich dies sage, so will ich damit nicht andeuten, dass alles gleich sei. Der Mord allerdings, wer auch immer ihn begeht, ist immer gleich.“

Wenig überraschend, hatte dieses Schreiben ein Nachspiel. José Pablo Feinman, Ex-Montonero und Argentiniens bekanntester Fernsehphilosoph, spottete in einer öffentlichen Vorlesung über Del Barcos „mystischen Moralismus“ und konterte das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“ mit der lapidaren Bemerkung: „Gewalt wird es immer geben“. Carlos Keshishián warf Del Barco in La Intemperie vor, der Rechten zuzuarbeiten, und erklärte jede politische Auseinandersetzung, bei der unversöhnliche Positionen aufeinander prallten, zu einem „Krieg“.

Luis Rodeiro dagegen begrüßte als einer von vielen Del Barcos Vorstoß und schrieb, möglicherweise habe die argentini-sche Linke noch immer nicht den Unterschied zwischen einer Diskussion und einem Dialog gelernt. Die Debatte um den bewaffneten Kampf biete die Möglichkeit, von alten, dogmatischen Positionen abzurücken.

Die Auseinandersetzung nahm schließlich ein solches Ausmaß an, dass ihre Beiträge 2008 in einem dicken Buch veröffentlicht werden konnten: „No matar. Sobre la responsabilidad“ [‚Nicht töten. Über die Verantwortung‘].

„No matar“ oder die Verweigerung von Verantwortung

Die in „No matar“ versammelten Beiträge jedoch sind ein eindrucksvolles Dokument für die Verweigerung von Verantwortung. Der Anspruch der ehemaligen oder aktuellen Parteigänger der autoritären Linken, als einzige fundiert über ihre Vergangenheit sprechen zu können, lässt die Debatte von vorne herein ins Leere laufen.

Das Problem wird – aus gutem Grund – in den Raum unverbindlicher Abstraktionen und philosophischer Prinzipien verschoben. Keine intellektuelle Krafthuberei kann verbergen, dass keiner der Diskutanten es riskieren möchte, mögliche eigene Schuldverstrickungen einzugestehen, die ein gerichtliches Nachspiel haben könnten.

Auch Oscar del Barcos „mea culpa“ erinnert eher an öffentliche Entschuldigungen der katholischen Kirche für vergangene Schandtaten. Es ist denkbar unverbindlich. An keiner Stelle wird zum Beispiel deutlich, wie Del Barcos Unterstützung für den EGP im Jahre 1963 tatsächlich aussah. Der hohe Ton verdeckt eigene Verantwortung. Stattdessen fordert Del Barco in seinem offenen Brief den argentinischen Dichter Juan Gelman, auch er ein ehemaliger Parteigänger der bewaffneten Linken, auf, sich „seiner Verantwortung zu stellen“. Er selber mag dies ganz offensichtlich nicht tun. Die auffällige Unverbindlichkeit der Schuldgeständnisse in „No matar“ lässt einen anderen Aspekt der Debatte umso stärker ins Licht treten: nämlich den moralischen. Im Grunde dient – bis heute jedenfalls – die Debatte vor allem der moralischen „Aufhübschung“ der argentinischen Linksintelligenz.

Der Streit bleibt weitgehend „in der Familie“. So wird die hohe moralische Gesinnung ihrer Mitglieder unterstrichen – und niemand muss fürchten, mit Fragen konfrontiert zu werden, die die ansprechende Fassade zerkratzen könnten. Die moralische Legitimität des früheren, wiewohl irregeleiteten Engagements wird durch die scheinbare Bereitschaft, sich den Sünden der eigenen Vergangenheit öffentlich zu stellen, nachträglich beglaubigt. Die scheinbare Selbstreinigung der argentinischen Linken ist in Wahrheit der Versuch, eine möglicherweise bedrohliche Dynamik der Debatte zu kontrollieren. Und noch etwas fällt auf, wenn man die Beiträge von „No matar“ gründlich liest: Die (selbst)kritische Distanzierung vom Guevarismus geht nicht einher mit einer politischen (Neu)Orientierung an anderen, weniger autoritären oder gewalttätigen Formen des zivilen Widerstands (z.B. des Zapatismus). Dies ist umso augenfälliger, als sich in Lateinamerika (zum Beispiel in Brasilien) weniger medial exponierte Basisgruppen sehr wohl auf derartige Widerstandsformen beziehen und diese produktiv nutzen. Auch im Politischen ist die Debatte also (bisher) denkbar unverbindlich geblieben.

Sie offenbart außerdem die altbekannten politischen Engstirnigkeiten. Der Anspruch auf exklusiven Besitz unhintergehbarer politischer Wahrheiten, der nicht unwesentlich für die gewaltsame Zuspitzung der Konflikte während der 60er und 70er Jahre verantwortlich war, ist nicht Gegenstand der Kritik.

Politische Grautöne sind auch heute noch die Sache der autoritären Linken nicht. So reduziert sich der politische Gehalt der Debatte meist auf folgenden Satz: „In Ordnung. Unser früheres Engagement war falsch. Dafür ist vernünftiges Engagement heute überhaupt nicht mehr möglich“. Menems Obelisk – zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Linken wie Oscar del Barco, José Pablo Feinman und anderen in den Seiten eines linksintellektuellen Feuilletons errichtet. Eine paradoxe Situation.

Es bleibt abzuwarten, wie die Debatte sich weiter entwickeln wird. Eines jedoch steht bereits fest: In keiner Diskussion der Welt, die sich mit politischer Gewalt auseinandersetzt, darf es den ehemaligen AkteurInnen und ihren SympathisantInnen allein überlassen bleiben, darüber zu befinden, ob ihr Handeln politisch und moralisch gerechtfertigt war. Eine solche Diskussion muss frei und offen geführt werden, frei auch und vor allem von politischen Verträglichkeiten. Sonst könnte man sie genauso gut bleiben lassen.