nachruf

Ein Nachruf auf Ulli Thiel

Der Initiator der Menschenkette ist tot - Er lebte sein Motto "Frieden schaffen ohne Waffen"

| Roland Blach

Es war eine in mehrfacher Hinsicht besondere Verbindung, die ich mit Ulli Thiel hatte. Der langjährige Friedensaktivist ist am 10. April 2014 im Alter von 70 Jahren nach langer Krankheit in seinem Haus in Karlsruhe friedlich eingeschlafen.

Mit Beginn meines noch zunächst überschaubaren Engagements für Frieden in der historischen Zeit 1988-1990 kam ich mit etwa 20 Jahren in Berührung mit verschiedenen Angeboten des DFG-VK Materialversands Pazifix.

Ich absolvierte gerade meinen 20-monatigen Zivildienst, kam in Kontakt mit der Graswurzelrevolution und verschlang die Ausgaben genauso wie Bücher zum Anarchismus. Aus Sorge um den bevorstehenden Golfkrieg bestellte ich reichlich Materialien für Feste, die ich damals in meinem Freundeskreis organisierte. Damit sogen wir die Anti-Kriegs-Stimmung von damals auf, sangen Lieder von Hannes Wader und Co.

Ich brachte mir das Gitarrespielen bei. Dabei waren Plakate, die anlässlich der Menschenkette 1983 entstanden und die ich zu dem Zeitpunkt noch nicht kannte. Ich selbst war mit 14 Jahren – bedingt durch meine Sozialisation im Elternhaus – zu dieser Zeit nicht politisch engagiert. Meine Liebe galt dem Fußball. Und so stand ich an jenem 22. Oktober 1983 nicht in der Kette sondern im Neckarstadion, um mir das Spiel meines VFB Stuttgart gegen den FC Bayern München anzusehen. Ich ärgerte mich noch, dass das Spiel 90 Minuten später wie üblich beginnen sollte und ahnte nicht, dass sich viele Jahre später eine enge Verbundenheit mit dem Initiator der Menschenkette entwickeln würde.

Bis Ende der 1990er Jahre hatten mich die weitere vertiefende Lektüre der Graswurzelrevolution und Bücher über Gandhis Leben mittlerweile nicht nur zum damals jüngsten Mediator Deutschlands werden lassen, sondern auch zum Organisator von gewaltfreien Aktionen gegen Atomtests und Atomwaffen. Und so traf ich bei einer Vorbereitung zu einem Go-in an der US-Kommandozentrale EUCOM in Stuttgart erstmalig Sonnhild und Ulli Thiel, was große Freude und fast schon Ehrfurcht in mir auslöste. Erstmalig erfuhr ich dabei auch schon von Ullis Krankheit.

Als mich die DFG-VK Baden-Württemberg im Februar 2002 zu ihrem neuen Landesgeschäftsführer berief, ahnte ich noch nicht, welch bedeutsames Engagement Ulli Thiel zu dieser Zeit bereits hinter und noch mehr als 11 Jahre vor sich hatte. Ich ahnte ebenso wenig, wie sehr er mich in dieser Zeit unterstützen und motivieren würde.

Regelmäßig – und das war in Spitzenzeiten mehrfach in der Woche – rief er an, um uns auszutauschen, Veranstaltungen vor- und nachzubereiten. Immer mit einem Lachen auf den Lippen. Nie vergessen werde ich seine Worte, als wir bei der 2. Auflage des Pacemakers-Radmarathons der DFG-VK für eine atomwaffenfreie Welt nebeneinander im Führungsfahrzeug vor dem Feld von 60-70 Radsportlern saßen, nachdem wir bereits über mehr als 300 km von der begleitenden Polizei durch die Lande gelotst wurden – rote Ampeln galten für uns genauso wenig wie Halts an Kreisverkehren. „Eine Fahrt wie ein Staatspräsident“. Es klang so, als hätte er sein Ziel erreicht: das Engagement für eine friedliche, waffenfreie Welt ist angekommen und wird von Verwaltung und Polizei unterstützt.

Klar wissen wir, dass es bis zu einer friedlichen und gerechten Welt noch ein weiter Weg ist.

Umso mehr ist sein konsequenter Einsatz für Frieden und Gewaltfreiheit zu schätzen. Bis Herbst 2013, also gut ein halbes Jahr vor seinem Tod, lebte er diesen Einsatz. Immer an seiner Seite: seine Frau Sonnhild. Beide lebten und engagierten sich nahezu symbiotisch. Noch im letzten Jahr seines Lebens nahm er an Beratungen für die Kampagne „Schulfrei für die Bundeswehr“ in Baden-Württemberg teil, war Ansprechpartner für eine gleichnamige Tagung der Kampagne in Karlsruhe und organisierte weiter viele verschiedene Veranstaltungen – Vorträge, Mahnwache, Kundgebungen – in Karlsruhe.

Er lebte Frieden und Gewaltfreiheit über einen Zeitraum von mehr als 4 Jahrzehnten wie kaum ein Zweiter und prägte auf diese Weise viele Menschen, die mit ihnen in Kontakt kamen und so auch in besonderer Weise mich. Seine Gabe zu moderieren und immer wieder aufs Neue den Ausgleich zu suchen ohne dabei seine klare pazifistische Haltung aufzugeben, war für mich prägend. Sein Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ war Leitbild für sein ganzes Leben – ob privat, in der Schule, in der Friedensbewegung allgemein oder in der DFG-VK im Besonderen. Viele PolitikerInnen und SoldatInnen konfrontierte er damit.

Sein Abschiedsgruss an mich, eine Woche vor seinem Tod, als ich ihn zusammen mit DFG-VK Landessprecher Klaus Pfisterer besuchen konnte, war ein kräftiger Händedruck mit den fast zugehauchten und doch klar gesprochenen Worten „Frieden schaffen ohne Waffen“. Ein Moment für die Ewigkeit und ein Vermächtnis, das ich gerne weiterführe. Auch ihm und seiner konsequenten Art ist es zu verdanken, dass ich die aktuellen Kampagnen „Schulfrei für die Bundeswehr“ und „atomwaffenfrei.jetzt“ koordiniere.

Im Dezember 2013 entschloss sich eine Gruppe von FriedensfreundInnen aus der DFG-VK und deren Umfeld, Ulli und seine Frau für den Stuttgarter Friedenspreis 2014 vorzuschlagen: Detlef Hintze (Mannheim), Hanne Langenbacher (Weinheim), Gaby Weiland (Mannheim), Gunter Schmidt (Tauberbischofsheim), Stefan Philipp (Meißenheim), Michael Schmid (Gammertingen), Klaus Pfisterer (Hochdorf), Andreas Zumach (Genf), Kristin Dawn Flory (Genf) und ich. Jedes Jahr werden durch das BürgerInnenprojekt Die AnStifter Menschen mit diesem Preis ausgezeichnet, die sich in besonderer Weise für „Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität“ einsetzen. Die gemeinsam erarbeitete Begründung für diesen Vorschlag lautet:

„Pazifismus ist für sie mehr als eine ethische oder politische Geisteshaltung – Pazifismus ist für sie Berufung. Friedens-Arbeit nahezu ein Leben lang – in der Öffentlichkeit, ob daheim in Karlsruhe, in Baden-Württemberg oder jahrelang auf Bundesebene. Die Friedensaktivisten Ulli (geb.1943) und Sonnhild (geb. 1941) Thiel haben maßgeblich zur Verbreitung gewaltfreier Ideen in Baden-Württemberg beigetragen und zigtausende Baden-WürttembergerInnen friedenspolitisch inspiriert.

Die Beratung von weit mehr als tausend Kriegsdienstverweigerern seit den späten 1960er Jahren war der Beginn eines bis heute andauernden Engagements gegen Militarismus und Gewalt, auch durch zahllose Friedensaktionen und Friedensveranstaltungen.

In den 1970er und 1980er Jahren war das Haus des Ehepaars Thiel Ideenschmiede, Bücher- und Plakatstation, Landesgeschäftsstelle der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), kurzum ein Friedensbüro mit überragender Ausstrahlung im Südwesten. Hier hat Ulli Thiel 1978 den wohl bekanntesten Leitspruch der bundesweiten Friedensbewegung „erfunden“: „Frieden schaffen ohne Waffen“.

Als Sprecher des süddeutschen Koordinierungs-Ausschusses der Friedensbewegung hatte er die zunächst noch vermessene Idee, am 22. Oktober 1983 von Stuttgart nach Neu-Ulm eine mehr als 100 Kilometer lange Menschenkette gegen die Nato-Aufrüstung mit Pershing-II-Raketen zu initiieren. Ulli Thiel war nicht nur Ideengeber, sondern auch einer der Hauptorganisatoren, sozusagen das Gesicht der Menschenkette. Wegen seines Friedensengagements war der Sonderschullehrer in den 1970er und 80er Jahren von staatlichen Sanktionen (Hausdurchsuchungen, Strafermittlungsverfahren, etc.) und Repressionsmaßnahmen der Schulbehörden betroffen.

Gegen den Strom schwimmen bedeutete für die Familie mit drei Kindern, staatliche Einschüchterungsversuche abzuwehren, in der Friedensarbeit integer zu bleiben und zugleich neben dem Kriegsdienstverweigerungs- und DFG-VK-Engagement, sich für die Friedensideen zu vernetzen: mit der Arbeitsstelle Frieden der Evangelischen Landeskirche in Baden, in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden und im Internationalen Versöhnungsbund.

Mit dem Abzug der Pershing-Raketen, mit dem Ende der jahrzehntelangen Wehrungerechtigkeit und der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 hat sich der sprichwörtliche „lange Atem“ der beiden Friedenskämpfer ausgezahlt. In der Gegenwart geht es immer wieder um Atomsprengköpfe, die in Büchel/Eifel für den Einsatz bereitgehalten werden; sofern es Ulli Thiels Gesundheit zuließ, hat das Ehepaar in den letzten zehn Jahren die Radtour der mehr als 100 „Pace-Maker“ im Lautsprecherwagen begleitet und für Abrüstung geworben. Selbst wenn es um die Friedensbewegung etwas ruhiger geworden ist, so bleibt das Thiel’sche Friedenshaus in Karlsruhe seit bald 50 Jahren Anlaufstelle und Kontaktbörse für viele Belange rund um das Thema Pazifismus, Kriegsdienstverweigerung oder Desertion.

Sonnhild und Ulli Thiel, beides Menschen der leisen Töne in eigener Sache, bekennen immer wieder öffentlich Farbe. Als Team dienen beide zusammen durch ihr beispielgebendes Leben dem Friedensgedanken.

„Die Thiels“ sind Vorbild in unserem Land, dem ja immer mehr Vorbilder abhandenkommen – Vorbild, was Moral und Engagement, pazifistische Haltung und Tat anbelangt. Ihre gemeinsame Lebensleistung verdient Respekt, Dank und Anerkennung – durch den Stuttgarter Friedenspreis 2014.“

Derzeit läuft die Wahl zum Stuttgarter Friedenspreis und ich hoffe sehr, dass Sonnhild und posthum Ulli dafür ausgezeichnet werden.

Der VFB Stuttgart gewann im Übrigen das Spiel im Herbst 1983 mit 1:0 und wurde ein halbes Jahr später deutscher Fußballmeister. Ulli war deswegen nie böse auf mich – im Gegenteil. Unsere sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit dem 22. Oktober 1983 waren immer wieder Gesprächsstoff und sorgten für heitere Momente. Dass gerade ich im vergangenen Herbst seinen Wunsch folgen durfte, zum 30. Jahrestag der Menschenkette noch einmal die Pressearbeit für ihn machen zu dürfen, war für mich eine Selbstverständlichkeit.

Viele Medien berichteten ausführlich, auch der SWR und die Stuttgarter Zeitung mit einer Reportage auf Seite 3. Es war sein letztes großartiges Aufbäumen gegen seine Krankheit.

Danke Ulli, du wirst nicht nur mir sehr fehlen.