Mehr als ein Jahr ist bereits vergangen, seit den größten Demonstrationen in der Türkei in diesem Jahrhundert. Nun, da die letzten Nachbeben der Gezi-Proteste abflauen, ist es an der Zeit, einen Blick zurück zu werfen.
Ohne in Melancholie zu verfallen und diesen kraftvollen Aufstand zu einem Gegenstand für Museen zu machen, wollen wir uns an den „längsten Sommer“ erinnern, um uns vor Augen zu führen, wie viel Macht wir haben, wenn wir uns zusammentun. Die Besetzung des Gezi-Parks dauerte insgesamt fünfzehn Tage an und endete erst mit den brutalen Polizeiattacken auf den Taksim-Platz und den benachbarten Park.
Fünfzehn Tage lang existierte die „Gezi-Kommune“ als eine staatenfreie Zone ohne Polizei und Gewalt. Es waren nur fünfzehn Tage, aber schon jetzt werden sie als „der längste Sommer“ bezeichnet. Diese fünfzehn Tage des Friedens, der Selbstorganisation und der Kraft, die entsteht, wenn Menschen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen, waren für alle Beteiligten eine unvergessliche Erfahrung. Es war eine Erinnerung an etwas, das uns die Institutionen der Macht und die Politiker*innen bereits vor langem gestohlen haben.
Vor Gezi
Der längste Sommer kam nach einer langen Periode des Pessimismus in der Linken unter der AKP-Regierung. Nach den Reformen der letzten zwanzig Jahre wurde eine relativ stabile innenpolitische Lage erreicht. Eine beschleunigte Privatisierung öffentlicher Institutionen, Deregulierungen des Kapitalmarkts und riesige Infrastruktur- und Gentrifizierungsprojekte waren die Wege zur Vormachtstellung der AKP (Adalet ve Kalkinma Partis; deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung).
Kulturell breitete sich eine konservativ-islamische Ideologie aus, die durchsetzt war mit neoliberalen Elementen. Dadurch fühlten sich die konservativ-islamischen Kräfte bestärkt und sahen bereits die Vergeltung für die Periode der kemalistischen Herrschaft (2) kommen.
In der ersten Regierungsperiode versuchte die AKP, die politische Macht des Militärs einzuschränken. Diese Politik wurde auch von einem Großteil der Linken begrüßt, die darin den Übergang vom Militärstaat zur demokratischen Republik sahen. Als jedoch den Militärs die Macht entzogen wurde, stellte sich heraus, dass sie nur ihren Inhaber wechseln sollte, während die Strukturen dieselben blieben.
Indem die AKP das Militär entmachtete und Militärs durch Polizist*innen ersetzte, vergrößerte sie nur ihre eigene Macht. Tag für Tag nahm die Polizeigewalt zu, mit der sich jede Art von Dissens konfrontiert sah. Insbesondere in der zweiten Hälfte ihrer Regierungszeit versuchte die AKP ihre Dominanz auszubauen, indem sie nicht nur die Polizei aufrüstete, sondern auch massenhafte juristische Repressionen auf Journalist*innen, Radikale und kurdische Politiker*innen ausübte.
Es reichte der AKP nicht, alle staatlichen Institutionen zu dominieren, sie demonstrierte ihre Macht auch durch Interventionen in das Alltagsleben der Menschen und in den öffentlichen Raum. Erdogan gibt als „charismatischer Führer“ zu jedem möglichen Thema seinen Senf dazu: Von der Gast(un)freundlichkeit, über die Kunst, die Inhalte der Seifenopern, die Einrichtung von Studierendenwohnheimen, über die Lebensführung bestimmter Personengruppen bis zur Zahl der Kinder, die eine Frau gebären sollte.
Die staatliche Gestaltung des öffentlichen Raumes zielte nicht nur darauf ab, den Weg für die Bauindustrie frei zu machen, sondern auch, jedem Raum die Insignien der Macht einzubrennen. Die Zerstörung und Umstrukturierung öffentlicher Räume waren wesentliche Strategien der Regierung, ihre Macht zu demonstrieren.
Gleiches galt für die Festlegung der Regeln für das politische Spiel: 2010 verkündete die Regierung stolz, dass sie nun, 32 Jahre nach dem „blutigen ersten Mai“ von 1978 (3), wieder Demonstrationen auf dem Taksim-Platz erlauben würde, nur um diese drei Jahre später ohne Begründung wieder zu verbieten.
Auch der Umbau des Platzes selbst sollte ohne jede Konsultation der öffentlichen Meinung erfolgen. So sollten an diesem Ort, der für die türkische Linke seit 1978 ein wichtiges Symbol ist, die absurdesten Prestigeprojekte durchgedrückt werden. (4)
Trotz der Dreistigkeit dieser Machtdemonstrationen, gab es vor dem Sommer 2013 kaum größere Proteste in der Türkei. Zwar gab es, insbesondere in den Universitäten eine steigende Wut, dies wurde aber auf den Straßen nicht sichtbar. Niemand sah die Gezi-Proteste kommen, bevor sie plötzlich da waren.
Der Sommer bricht an
Die Demonstrationen begannen, als sich im Internet die Nachricht verbreitete, dass in der Nacht vom 28. Mai 2013 der Gezi Park abgerissen werden sollte. Zuerst kamen nur ungefähr 30 Personen in den Park und versuchten, die Planierraupen aufzuhalten, die die Bäume niederwalzen sollten.
Am nächsten Tag wurde die Zerstörung aufgehalten, als die Proteste sich ausweiteten und ein Mitglied des Parlaments hinzustieß. Durch Anrufe und Nachrichten in den Sozialen Medien vergrößerte sich die Menge der Demonstrierenden kontinuierlich und eine Menschenmenge sammelte sich im Park, rief Parolen und spielte Musik.
Einige der Demonstrierenden entschieden sich, die Nacht im Park zu verbringen. Am frühen Morgen wurde ihr Camp jedoch von der Polizei mit Tränengas beschossen und sogar Zelte angezündet. Nach zwei Tagen des Widerstandes erwartete niemand, dass aus den anfänglich 30 Personen innerhalb weniger Tage Millionen werden sollten, die die Polizei vertrieben und am ersten Juni 2013 den Platz für eroberten.
Nach der ersten Nacht und den folgenden Tagen blieb nur noch eine kleine Gruppe von Menschen im Park, die mit exzessiver Polizeigewalt konfrontiert waren. Trotzdem leisteten sie entschlossen Widerstand gegen die Polizei. Diese standhafte Verteidigung des Gezi-Lebensraumes verärgerte die Polizei zunehmend. Die Menschen standen Seite an Seite und unterstützten sich gegenseitig mit ihrem Humor und ihrer Freude, so dass sich ihre Kraft von der einen zum anderen ausbreitete. Die Polizei konnte in dieser Situation zwar einige Menschen zusammenschlagen und festnehmen, die Entschlossenheit der Protestierenden siegte jedoch über die Tränengasgranaten.
Leben und Gegenpolitik im Gezipark
Um die Zerstörung des Parks vorzubereiten, hatte die Stadtverwaltung diesen zuvor isoliert und herunter kommen lassen. Nachdem der Park so nach und nach in Vergessenheit geraten war, sorgten die Proteste erstmals wieder dafür, dass der Wert des Parkes erkannt wurde.
Durch die verschiedenen Erfahrungen, die die Menschen in diesem Park teilten, bekam er wieder eine Bedeutung als öffentlicher Raum. Nach den ersten Tagen des Protests wurde ein Forum im Park eingerichtet. Dabei wurde die große Diversität der Versammelten sichtbar. Es waren die verschiedensten Parteien und Organisationen anwesend, aber auch Menschen, die sich selbst als „unpolitisch“ bezeichneten.
So war die Sorge um den Park bei weitem nicht das einzige Thema auf den Versammlungen. Alle brachten ihre eigenen Anliegen ein. Da war ein Theaterschauspieler, der sich über die Kulturpolitik der Regierung empörte; eine alte Frau, deren einziger Platz zum Durchatmen zerstört werden sollte, eine wissenschaftliche Hilfskraft ohne Sozialversicherung, eine Gruppe von Arbeiter*innen aus der Lebensmittelgewerkschaft, die nachdem sie ihre Probleme mit der Gruppe geteilt hat, Essen austeilen. So wurde plötzlich aus einem kaum beachteten Park, der den Menschen entrissen werden sollte, die Basis für eine Gegenpolitik, die etwas ganz anderes war als parlamentarische Wahlen zwischen verschiedenen Übeln.
Dadurch, dass eine Gruppe von Menschen, so verschieden diese auch waren, ihre Angelegenheiten selbst regelte, ohne einen Anführer, gelangte die Demokratie zu ihrer wahren Bedeutung. Es war bewegend zu sehen, wie ein vergessener öffentlicher Raum inmitten einer Stadt die immer weniger Interaktionsmöglichkeiten bot, zu einem Treffpunkt wurde. Durch diese Veränderung wurde vielen Beteiligten erstmals bewusst, wie viele materielle und immaterielle Mauern sie zuvor getrennt hatten.
Durch die Besetzung des Parks und die Vertreibung der Polizei wurde ein hohes Level der Selbstorganisierung möglich. In den Tagen, in denen sich die Polizei aus der Gegend zurückgezogen hatte, entstand eine freie Zone des Widerstandes. So wurde ein eigener „Revolutionsmarkt“ eingerichtet – unter dem Motto „Alles umsonst!“. Daneben entstand auch unter großem logistischem Aufwand ein System von Volxküchen, eine Bibliothek und ein „Revolutionsmuseum“ mit Bildern von den Straßenschlachten – und es war verboten, für irgendetwas zu bezahlen. Es wurden keine Geldspenden akzeptiert, nur tatkräftige Mitarbeit. Sogar ein Kindergarten wurde eingerichtet und dort wo die Bäume gefällt worden waren, entstand ein Gemüsegarten. Auf diese Weise konnte radikale Politik nach langer Zeit einmal wieder praktisch werden, was in den vergangenen Jahren in der Türkei meist ausgeblieben war.
Auch die Ästhetik des Protests war bemerkenswert. Neben den verschiedensten kreativ gestalteten Transparenten entstanden auch unzählige Graffitis.
Musikalisch wurde der Protest kraftvoll begleitet, so sorgten verschiedene Samba-Gruppen auch in schwierigen Situationen und bei Polizeiangriffen für gute Stimmung. Viel von der Kraft des Protests ist dem Zusammenspiel von Trommeln und Parolen zu verdanken, die sich gegenseitig ergänzten und variierten.
Vor den Gezi Protesten war es um Dialog und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen linken Fraktionen in der Türkei schlecht bestellt. Durch den gemeinsamen Kampf wurde dieses Schweigen durchbrochen und es wurde möglich, sich überhaupt erst kennenzulernen. So konnten viele, die im Westen der Türkei aufgewachsen sind, zum ersten Mal nachvollziehen, was es für die Kurd*innen bedeutet, seit Jahren der Gewalt des Staates ausgeliefert zu sein. Als klar wurde, welche Lügen die staatsnahen Medien über die Proteste verbreiteten, schämten sich viele Protestierende aus dem Westen der Türkei dafür, dass ihr Bild von den Kurd*innen jahrelang auf der Propaganda ebendieser Medien beruht hatte. Auch die Themen von feministischen und LGBTI-Gruppen wurden erstmals in der Linken breit diskutiert, nachdem diese durch pinke Graffitis auf Sexismus und Homophobie außerhalb und innerhalb des Protests aufmerksam machten.
Als eine Gruppe von Kemalist*innen begann den alten Slogan „Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal“ zu rufen, kam sofort eine antimilitaristische Antwort: „Wir weigern uns zu töten und zu sterben, wir sind niemandes Soldaten!“
Durch diese und viele andere Begegnungen wurde es möglich, neue Diskussionen zu führen, Solidarität auf- und Vorurteile abzubauen.
Anmerkungen zur Situation nach den Protesten
Nach dem längsten Sommer wurden die Demonstrationen fortgesetzt. Die Gezi-Besetzung verwandelte sich in lokale Park-Foren. In diesen wurden sowohl allgemeine politische Fragen, als auch Angelegenheiten der Viertel diskutiert. Jedes Forum schuf sein eigenes Programm von Filmvorführungen, Workshops, Diskussionsrunden usw. So entstanden lokale Treffpunkte, die die Menschen der Viertel näher zusammen brachten.
Die lokalen Foren unterstützten sich gegenseitig, wodurch die verschiedenen Praxen des Widerstands für viele Menschen sichtbar wurden. Die Demonstrationen und die Einrichtung der Foren waren dabei keineswegs auf Istanbul beschränkt. So versuchte die Linke eine Antwort darauf zu finden, wie der kämpferische Geist auf lokaler Ebene in den Alltag integriert werden könnte.
Ein Jahr nach den Protesten muss leider festgestellt werden, dass die Demonstrationen und die Foren fast verschwunden sind. Mit der Zeit verschwand der solidarische Geist des Protests. Einige Gruppen entschlossen sich dazu, sich auf die lokalen Wahlen zu konzentrieren. Auf der Ebene der Parteipolitik verfolgte die an den Protesten beteiligte CHP unverändert ihr nationalistisches Programm, nachdem sie während der antiautoritären Welle von Gezi getönt hatte, dass nichts mehr sein werde wie davor.
Als die AKP die letzten Wahlen jedoch wieder gewann, war das ein herber Rückschlag und sorgte dafür, dass sich der alte Pessimismus wieder ausbreitete. Trotzdem haben die Proteste eine bleibende Wirkung: Neben der Verhinderung der Umbaupläne besteht diese hauptsächlich in dem gestärkten Selbstvertrauen und der neuen Solidarität der Linken.
Während für viele Gezi ein Aufstand gegen den Kapitalismus, die Illusionen der parlamentarischen Demokratie und ihre Auswirkungen auf unser Leben war, muss jedoch festgestellt werden, dass für ebenso viele das eigentliche Problem noch immer nur in der AKP oder gar nur in der Person Erdogans liegt. Diese Fixierung auf die AKP und Erdogan, und somit auf die Wahlen, war vielleicht der größte Fehler der Linken nach der Besetzung.
Angesichts der Rückkehr der Apathie muss leider gesagt werden, dass trotz der Ausmaße der Gezi-Proteste, die Potentiale der Linken noch immer begrenzt sind, wenn es darum geht, alternative Politiken, wie die Foren, aufrecht zu erhalten. Gerade dieser Aufbau alternativer Strukturen, wird für die Überwindung der staatlichen Institutionen unerlässlich sein.
Wir sollten deshalb ungeduldig sein, wenn es darum geht, unsere Träume zu realisieren, aber geduldig, wenn es darum geht, unmittelbare Resultate in der Gesamtgesellschaft zu erwarten. Deshalb dürfen wir nicht vergessen, was Hunderte in den ersten Tagen der Proteste riefen, in dem Wissen, dass sie bald Millionen sein würden: „Das ist erst der Anfang. Kämpft weiter!“
(1) Dieser Artikel ist denen gewidmet, die im letzten Jahr durch Polizei- und Militärgewalt ihr Leben verloren: Abdullah Cömert, Ethem Sarisülük, Mehmet Ayvalitas, Medeni Yildirim, Ali Ismail Korkmaz, Ahmet Atakan, Hasan Ferit Gedik, Berkin Elvan, Ugur Kurt, Mehmet Istif, Elif Cermik, Ibrahim Aras.
(2) Die politische Ideologie des Kemalismus bezieht sich auf den Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk. Er wird nicht nur als der "Retter" der Republik nach dem Ersten Weltkrieg gefeiert, sondern auch als der Mann, der das Land vom "unterentwickelten" Osmanischen Reich durch die "Revolutionen von Atatürk" in eine westliche Richtung entwickelte. Seine Ideen werden immer noch von vielen als die Basis des türkischen Nationalstaats und der türkischen Identität gesehen. Deshalb wird zur Legitimation verschiedenster staatlicher Politiken immer wieder auf den Kemalismus zurückgegriffen. Obwohl der Kemalismus einmal für Säkularismus stand, hat sich unter dem AKP-Regime, neben verschiedenen anderen "Kemalismen" auch ein "grüner Kemalismus" entwickelt, der sich sowohl auf Kemal, als auch auf eine islamische Identität beruft.
(3) Am ersten Mai 1978 versammelten sich fast eine halbe Million Menschen auf dem Taksim Platz für den Arbeiter*innen Kampftag. Als der Sprecher der Gewerkschaft DISK seine Ansprache beendet hatte, begannen plötzlich Scharfschützen von den umliegenden Dächern das Feuer auf die Menge zu eröffnen. Als die Menge versuchte zu flüchten, wurde ihnen der Weg von Militärfahrzeugen abgesperrt, so dass die Menschen in einer engen Straße den Schüssen ausgeliefert waren. In diesem Massaker verloren 34 Menschen ihr Leben und mehr als 100 wurden verletzt. Es kam nie zu einer offiziellen Aufklärung dieses Verbrechens. Die tragende Rolle, welche die paramilitärische Counterguerilla bei diesem Massaker spielte, ist jedoch ein offenes Geheimnis.
(4) Die Umstrukturierung des Taksim Platzes wurde von der AKP bei den Wahlen von 2010 vorgestellt. Es beinhaltete nicht nur den Umbau des Platzes, sondern auch der zu ihm führenden Straßen, sowie das Errichten einer "Kaserne im osmanischen Stil", in der eine Shopping Mall eingerichtet werden sollte, und die Renovierung des Atatürk Kulturzentrums. Eine andere Option, die Ergogan vorstellte, war das Errichten einer Moschee am Platz. Diese Vorschläge provozierten Kritik aus fast allen politischen Lagern.