gewaltfreiheit

Arundhati Roys Angriff trifft den Falschen!

Eine Entgegnung auf ihre Gandhi-Kritik im "Stern"-Interview

| Lou Marin

In ihrem "Stern"-Interview vom 25.9.2014 übte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy scharfe Kritik an der charismatischen Person des gewaltfreien Widerstands in Indien, M.K. Gandhi (1869-1948). Die Diskussion ist vor dem Hintergrund der neuen hindu-nationalistischen Regierung in Indien, aber auch angesichts der derzeitigen unausgesetzten Kriegspropaganda weltweit, zu der Gandhi noch immer einen realitätserprobten Gegenpol darstellt, bedeutsam. In zwei Beiträgen werden hier ihre Kritik an Gandhis Positionen zum Kastensystem sowie der Hintergrund der Gandhi-Ambedkar-Kontroverse beleuchtet. (GWR-Red.)

Arundhati Roy hatte selbst im Rahmen der mit gewaltfreien Aktionsformen kämpfenden Anti-Staudamm-Bewegung am Fluss Narmada an Bauplatzbesetzungen teilgenommen. (1)

Fast zwei Jahrzehnte lang hat die Autorin des Romans „Der Gott der kleinen Dinge“ als eine der Stimmen der weltweiten Antiglobalisierungsbewegung die gewaltfreie Aktion propagiert und dabei gerade auf die Radikalität Gandhis hingewiesen. Gandhis Kampagnen, vor allem den Salzmarsch, erhob sie bei ihrer Aufsehen erregenden Rede im Januar 2004 auf dem Weltsozialforum in Mumbai/Indien gar zum Vorbild eines materiell schädigenden, eben nicht nur symbolischen gewaltfreien Widerstands:

„Gandhis Salzmarsch war nicht einfach politisches Theater. Als in einem simplen Akt des Ungehorsams Tausende Inder zum Meer marschierten und dort ihr Salz gewannen, brachen sie das Salzsteuergesetz. Das war ein direkter Schlag gegen den ökonomischen Unterbau des britischen Empires. Er war real.“ (2)

Gegen damalige Angriffe und billige Versuche u.a. der taz, ihr Eintreten für ein radikales Verständnis gewaltfreier Aktion durch eine fehlerhafte Übersetzung zu kaschieren, hat die GWR Arundhati Roy verteidigt. (3)

Und heute?

Bereits bei ihrem Besuch 2011 bei der marxistisch-leninistischen Guerilla CPI-Mao (Kommunistische Partei Indiens / maoistisch) kamen Zweifel und Ambivalenzen auf, die in der GWR ausführlich dargestellt wurden. (4)

Mehrfach in indischen Medien, dann in einem Vorwort zu einer Neuauflage des erstmals 1936 veröffentlichten Buches Annihilation of Caste (Abschaffung der Kasten) von Bhimrao Ramji (B.R.) Ambedkar (1891-1956), des intellektuellen Verteidigers der von ihm in Dalits (Ausgestoßene) umbenannten sogenannten „Unberührbaren“ (im Folgenden werden Dalits und Gandhis Benennung Harijans, „Kinder Gottes“, abwechselnd je nach Person und Kontext verwendet; d.A.), und nun auch im „Stern“-Interview vom 25.9.2014 (S. 78-83) greift sie Gandhi direkt an:

„Er war ein bedingungsloser (sic!; d.A.) Verfechter einer der widerwärtigsten, gewalttätigsten Gesellschaftsformen der Welt: der indischen Kastenordnung, eines Systems, schlimmer als die Apartheid. Es verdammt bis heute Millionen Menschen dazu, die Scheiße der anderen wegzuputzen.“ (S. 78)

Und: „Er war der Bewahrer, der Heilige des Status quo“, „ein Mann des Establishments“, in Südafrika vor 1914 gar „ein entschiedener Verfechter der Rassentrennung“ (S. 79), in Indien dann Büttel des Großkapitals und der Feudalherrn (ebenda).

Evolution der Positionen Gandhis – ein Streit der Interpretationen

Für all jene, die Gandhi nie gelesen und ihn nun in dieser Form durch A. Roy erstmals kennengelernt haben, muss ich bestimmte Voraussetzungen der internationalen Gandhi-Rezeption angesichts eines kulturell anders gelagerten Umfelds wie dem Indiens erläutern. Zunächst ist Gandhi für gewaltfreie AnarchistInnen natürlich nicht „heilig“, er hat Fehler gemacht und ist kritikwürdig. Für ihn als weltweit bedeutenden Charismatiker der gewaltfreien Aktion gilt das ganz genauso wie etwa für Bakunin als weltweit bedeutenden Charismatiker des Anarchismus. Es kommt dabei sehr auf die Zeit, den historischen und kulturellen Kontext an, in dem Gandhi zitiert wird. Er sagte selbst: „Meine Sprache ist aphoristisch, ihr mangelt es an Präzision. Sie ist deshalb offen für mehrere Interpretationen.“ Genau mit dieser Sprache fand er aber Zugang zu den hinduistischen und auch muslimischen Massen im Rahmen der indischen Unabhängigkeitsbewegung. In der Tat gibt es, vor allem im anglophonen Sprachraum, eine bereits Jahrzehnte bestehende Strömung der anarchistischen Gandhi-Interpretation. (5) Auch im Falle der Kritik A. Roys und der Auseinandersetzung Gandhis mit Ambedkar über die Überwindung des Kastensystems haben wir es also mit einem Interpretationsstreit zu tun.

Eine weitere entscheidende Voraussetzung für eine realistische Wahrnehmung Gandhis ist die beständige Evolution seiner Ansichten hin zu libertären Anschauungen, wie das im Übrigen ja auch für Bakunin typisch war, der erst einen langen Weg hinter sich brachte, bevor er Anarchist wurde. „Eine Durchsicht seiner Ansichten würde ergeben, dass er nicht an seinen alten Anschauungen hing, wenn er sie als unvereinbar mit der Ethik begriff, die er als grundlegend betrachtete. Dies zeigt, dass seine sozialen, wie auch seine wirtschaftlichen oder politischen Ansichten einem Prozess der Evolution unterlagen“, so schreibt der indische libertär-marxistische Gandhi-Forscher Buddhadeva Bhattacharyya. (6)

Diese Evolution wird am deutlichsten bei einem Vergleich des Aktivismus Gandhis in seiner Frühphase in Südafrika (1893-1914) und dann in Indien (1915-1947), als er insofern Revolutionär wurde, als er den britischen Kolonialismus abschaffen wollte. Einen Höhepunkt dieser Evolution kann man durchaus in seiner Aussage von 1946 sehen, die Unabhängigkeit bedeute „Freiheit von bewaffneten Verteidigungskräften. Meine Konzeption (…) schließt die Ersetzung der britischen Besatzungsarmee durch eine nationale Besatzungsarmee aus. Ein Land, das durch eine Armee regiert wird, und sei es eine nationale, kann nie moralisch frei sein.“ (7) Man zeige mir irgendeine prägende Person des Antikolonialismus, die ein Jahr vor der Unabhängigkeit solches von sich gab.

Es ist richtig, wie ihm A. Roy (S. 79) vorwirft, dass er sich in Südafrika noch als „Untertan der britischen Kolonialmacht“ fühlte, als er für die Minderheit indischer Vertragsarbeiter und ihrer Familien (diese und ihre aktive Unterstützung seien erwähnt, weil A. Roy von Gandhi behauptet, er habe ArbeiterInnen nur bevormundet) für gleiche Rechte innerhalb des britischen Empire kämpfte. Roys direkt folgender Vorwurf, Gandhi sei durch diesen Kampf für eine Minderheit „ein entschiedener Verfechter der Rassentrennung“ geworden, ist allerdings ein Widerspruch zu sich selbst: Sie wirft Gandhi in Südafrika genau das vor, was sie dann in Indien für die Position der Dalit-Minderheit (1931 zählten Dalits ca. ein Fünftel der hinduistischen Bevölkerung), angeführt von Ambedkar, gerade unterstützen will, nämlich einen identitären Separatismus.

Gandhi wandelte seine Position in Indien ab 1915 hin zu einer revolutionären, antikolonialistischen Haltung. (8) Nun war er allerdings kein „Bewahrer des Status quo“ mehr und auch kein „Mann des Establishments“ (Roy).

Ebenso essentiell wie die Perspektive der Evolution ist eine zweiteilige Sicht auf die Strategie Gandhis innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung. Es ging ihm nie nur um den nach außen gerichteten Kampf gegen den britischen Kolonialismus, sondern immer auch um innere Radikalreform des Hinduismus und um ausgleichende Gerechtigkeit zwischen den Religionsgemeinschaften, besonders zwischen Hinduismus und Islam. Dem dienten vor allem seine „Ashrams“, Kommunen, in denen er auch selbst als Gleicher unter Gleichen lebte. Die Ashrams waren eine Art Modell, wie nach dem Kampf das freie Indien aussehen sollte. Für die antikolonialen Massenkampagnen konzentrierte sich Gandhi allerdings immer auf einen symbolträchtigen Kern der inneren Reform, um die patriarchalen und hierarchischen Aspekte des Hinduismus Stück für Stück zurückzudrängen, um keine abrupte Gegenreaktion zu provozieren, wie sie ja nach seinem Tod und insbesondere seit den Achtzigerjahren in Form der heutigen, von Brahmanen und höheren Kasten dominierten Regierungspartei BJP (Volkspartei Indiens, hindu-nationalistisch) entstanden ist. Dies zeigte sich nacheinander bei gezielten Kampagnen gegen Kinderheirat von Mädchen (damals ab 9 (!) Jahren), dann 1933/34 bei der Massenkampagne für den Tempelzutritt, für Brunnennutzung und den Zugang zu öffentlichen Plätzen für die Harijans. (9)

Praxis der evolutionären Kastenüberwindung in den Gandhi-Kommunen

Für die Ashrams waren Gandhis Praktiken jedoch schon früh radikal: „In den ersten ashram in Ahmedabad, den er nach seiner Rückkehr in Indien 1915 gründete, nahm er eine Familie von Unberührbaren auf; diese Aktion brachte die reichen Händler von Ahmedabad auf, die für den Erhalt des ashram gespendet hatten. Auch mehrere Freiwillige verließen den ashram aus Protest. Ohne Beitragszahler und mit nur noch wenigen Freiwilligen im ashram, die zu ihm hielten, dachte Gandhi daran, in die Slums von Ahmedabad umzuziehen. Ein anonymer Geldgeber jedoch machte dann diesen Schritt unnötig.“ (10)

Der anonyme Retter war übrigens S. A. Sarabhai, ein reicher Textilhändler, der dann aber die finanzielle Unterstützung einstellte, als Gandhi als Vertreter der Vollversammlung von TextilarbeiterInnen in Sarabhais Firma Streiks gegen ihn organisierte, und zwar nicht als alleiniger Chef, wie A. Roy behauptet (S. 79), sondern zusammen mit den einflussreichen AktivistInnen Shankarlal Banker und Anasujabehn Sarabhai, die ihrem Unternehmer-Ehemann in den Rücken fiel. (11) Dies sind Gegenbeispiele und Gegendarstellungen zu A. Roys Behauptungen, Gandhi sei ein Büttel der Großindustriellen gewesen.

Die Evolution der Praxen innerhalb der „Ideal“-Ashrams sah zuerst so aus, dass mit Aufnahme von „Harijan“-Familien alle Freiwilligen im Ashram ebenfalls die Latrinen zu reinigen verpflichtet waren, und eben nicht nur die dafür per Kastensystem vorgesehenen Harijans. Daraus resultierte der oft zu schnell als patriarchal interpretierte Streit Gandhis mit seiner Ehefrau Kasturba, die als Höherkastige nicht die Arbeit von „Unberührbaren“, das Latrinenreinigen, verrichten wollte. Doch genau das gehörte zu Gandhis Konzept der „Brotarbeit“, das heißt, dass alle Menschen aus allen Kasten zu ihrem Lebensunterhalt eine bestimmte Zeit lang alle Arbeiten, auch mühevolle und „niedrige“ Arbeiten verrichten sollten. B. Bhattacharyya schreibt dazu: „Die Einführung des Konzepts der Brotarbeit in einer hierarchischen und autoritären Gesellschaft war von großer Bedeutung, weil es die Grundlage der sozialen Distanz unterminierte, die das Kastensystem institutionalisiert hatte.“ (12)

In den Ashrams wurde gemeinsam gegessen, auch mit Harijans, und Hochzeiten untereinander wurden erlaubt. „Das Befürworten von interdining (gemeinsames Essen von Kasten und ‚Kastenlosen‘) und intermarriage (kastenübergreifende Heirat), sogar interreligious marriage (Heirat von Paaren verschiedener Religionen, vor allem Hindus und MuslimInnen) innerhalb der autoritären Hindu-Gesellschaft zeugt zweifellos von einer Frische und Durchschlagskraft im Denken.“ (13)

Joan Bondurant schreibt dazu: „Gandhi unterstützte selbst viele kastenübergreifende Hochzeiten und seine Ashram-Gesellschaft wurde gänzlich ohne Kastenunterschiede organisiert.“ (14) Die Evolution innerhalb der Ashrams endete im Jahre 1946 mit der radikalen Einführung einer Form der positiven Diskriminierung von Harijans, als Gandhi die Maxime prägte: „Wir müssten heutzutage alle zu Harijans werden oder wir werden nicht dazu fähig sein, uns vollständig vom Makel der Unberührbarkeit zu befreien. Ich sage deshalb allen heiratswilligen Jungen und Mädchen, dass sie im Sevagram Ashram nicht heiraten können, wenn nicht wenigstens ein Teil des Hochzeitspaares Harijan ist.“ (15)

Evolution der Positionen Gandhis zum Kastensystem bei den Massenkampagnen

Bei seinen Massenkampagnen außerhalb der Ashrams ging es Gandhi nach Bhattacharyya um „einen langsamen, aber kontinuierlichen Ansatz, um Kastenunterschiede zu beseitigen. (…) Sein Sinn für Praktische hat ihn dazu geführt, erst den Boden zu bereiten und dann an die Wurzel zu gehen.“ (16) Dabei „riss er die Tradition an sich, um sie gleichzeitig zu transformieren.“ (17) Zunächst, in den Zwanzigerjahren, hantierte Gandhi mit zwei traditionellen Begriffen für das Kastensystem, varna, ursprünglich „Farbe“, das er sofort in „Klasse“ (nicht marxistisch verstanden, sondern als Klasse von Berufen) umwandelte, und jati, „Kaste“, das er als Perversion von varna ablehnte. Als kritischer Traditionalist, sanatani (so sieht ihn Ashis Nandy), setzte er eine Art altes, goldenes Zeitalter voraus, in dem varna eine horizontale, vierteilige, einfache Arbeitsteilung bedeutet habe (Brahmane: Denker, Interpret der Schriften, bei Gandhi auch Karmayogi, handelnder, aktivistischer Denker; Kshatriya: die Kriegerkaste, die Gandhi als androgyner Anti-Krieger (Ashis Nandy) komplett uminterpretierte in gewaltfreie Aktion mit femininer Grundenergie, shakti, die zugleich die nicht-kriegerische, „weiche“ Seite des Mannes anspricht (18); Vaishya: Handwerker, Händler; Shudra: Arbeiter, zu der nach Gandhi die Harijans als Sanitärarbeiter gehörten). Die „Unberührbaren“ als Kastenlose habe es damals nicht gegeben. Bei jeder Erklärung legte Gandhi auf den horizontalen Charakter dieses Ideals besonderen Wert, der sich erst im Laufe der historischen Entwicklung in eine Hierarchie pervertiert habe. Hier eine typische Erklärung Gandhis aus dem Jahr 1925: „Die heutigen Vorstellungen von Kaste sind eine Perversion des Originals. Die Frage der Überordnung oder Unterordnung gibt es für mich nicht.“

Diese einfache Arbeitsteilung sei stabil gewesen, weil die Kinder „qua Geburt“ den „Beruf ihrer Vorväter“ weiterführten. Trotzdem war das System durchlässig, „Geburt“ war religiös-hinduistisch zu verstehen und ohne die Reinkarnation (Wiedergeburt) nicht zu denken, Gandhi: „Es ist zum Beispiel möglich für einen shudra, ein vaishya zu werden. (…) Wer die Pflichten eines brahman erfüllt (aber qua Geburt kein Brahmane ist; d.A.), wird im nächsten Leben einer werden.“ (1925; (19)) Mit dem aktuellen Verhalten im Leben, unabhängig davon, in welcher Berufsklasse (varna) man geboren wurde, wird eine neue Berufstradition der Vorväter begründet, in deren Fußstapfen die Kinder dann treten, so ist das zu verstehen. Das System schuf so „ererbte berufliche Fähigkeiten; es begrenzte den Wettbewerb. Es war das beste Mittel gegen Verarmung. Und es hatte alle Vorteile der Handelsgilden.“ (1921; (20))

Der Vergleich mit den mittelalterlichen Zünften und Gilden ist treffend, es ist die Konzeption einer vorkapitalistischen Berufsgemeinschaft, die den Lebensunterhalt sichert und aus der zwar prinzipiell, aber nicht so einfach, vor allem nicht ohne Risiko des Verhungerns ausgetreten werden kann.

In seiner großen Massenkampagne für die Abschaffung der Unberührbarkeit 1933/34 und unmittelbar danach propagierte Gandhi dieses Konzept der Uminterpretation des historisch pervertierten, hierarchischen Kastensystems in das ursprüngliche, horizontale varna. Dem dienten Aufsätze über die berufliche Anerkennung, den Respekt und die Wertschätzung für den Beruf des Latrinenreinigers, den Gandhi in dem für A. Roy „schockierenden Essay“ (S. 78) von 1936, „The ideal Bhangi“ (Der ideale Sanitärarbeiter) aufwertete und als shudra beschrieb. Während allerdings alle Bhangis ihre Arbeit unter schlimmsten Bedingungen immer korrekt ausgeführt hätten, sei die Hygiene Indiens immer noch in üblem, krankheitsförderndem Zustand, aber nicht wegen der Bhangis, sondern weil Brahmanen und andere Kasten nicht auch Arbeiten der Bhangis ausführten – ein klarer Verweis auf die „Brotarbeit“, die quer durch alle Kasten geleistet werden sollte. Gandhi fordert in dem Artikel für Bhangis eine gute Ausbildung und Studienmöglichkeiten, nämlich „wissenschaftliche Kenntnis von den Notwendigkeiten dieses Berufs“. In dem Artikel stehen diese Sätze: „Unsere zynische Gesellschaft hat den Bhangi als sozialen Paria auf die unterste Stufe der Gesellschaft gestellt und hielt ihn nur dafür gut, Fußtritte und Misshandlungen einzustecken. (…) Erst wenn die undankbare Unterscheidung zwischen Brahmane und Bhangi verschwindet, wird unsere Gesellschaft Gesundheit, Wohlstand und Frieden erleben.“ (21)

A. Roy las das ohne jedes Verständnis und Einfühlungsvermögen für den kritischen Traditionalisten Gandhi, dabei ist seine Kritik genau dieselbe, die sie an der gewalttätigen indischen Gesellschaft und am Umgang mit den Dalits hat.

Mensch mag bei Gandhi eine mythische, etwas naive, nicht mehr zeitgemäße Rückwärtsgewandtheit kritisieren, aber es ist falsch, ihn als „bedingungslosen Verfechter“ der Kastenordnung zu diffamieren. Zur Evolution Gandhis bei seinen Massenkampagnen gehört aber auch die Tatsache, dass er gegen Anfang der Vierzigerjahre nicht mehr an eine mögliche Rückkehr zum ursprünglichen varna-Ideal glaubte und nun, mehr zukunftsorientiert, ohne Umschweife etwa 1945 meinte: „Das Kastensystem ist ein Anachronismus.“ (22)

(1) Vgl. Graswurzelrevolution (Hg.): Das andere Indien. Anarchismus, Frauenbewegung, Gewaltfreiheit, Ökologie, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2000, S. 229 (das Buch ist vergriffen), sowie zu einer Gesamtdarstellung der Narmada-Bewegung Ulrike Bürger: Staudamm oder Leben! Indien: Der Widerstand an der Narmada, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011.

(2) Arundhati Roy: "Feiertagsproteste stoppen keine Kriege", vollständig und in überarbeiteter dt. Übers. dokumentiert in: www.lebenshaus-alb.de/magazin/002085.html

(3) Vgl. Alfred Schobert: "Arundhati Roy im Krieg der Medien", in: GWR Nr. 286, Febr. 2004.

(4) Vgl. Lou Marin: "Wohin will Arundhati Roy?", zwei Teile in GWR Nr. 355, Jan. 2011 und GWR Nr. 356, Febr. 2011.

(5) Diese Geschichte und die persönlichen Kontakte Gandhis zu Anarchisten wie u.a. Bart de Ligt wurden zusammengefasst im Vorwort von Lou Marin: "Einleitung. Zur Rezeption von M.K. Gandhis libertärem Anti-Kolonialismus", in: Ashis Nandy: Der Intimfeind. Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2008, S. 7-62.

(6) Buddhadeva Bhattacharyya: Evolution of the Political Philosophy of Gandhi, Calcutta Book House, Calcutta 1969, S. 173.

(7) Gandhi, April 1946, zit. nach der empfehlenswerten Darstellung über die Bedeutung des Anarchismus innerhalb der indischen Unabhängigkeitsbewegung von Maia Ramnath: Decolonizing Anarchism. An Antiauthoritarian History of India's Liberation Struggle, AK Press, Edinburgh 2011, S. 176.

(8) Vgl. George Woodcock: Der gewaltlose Revolutionär. Leben und Wirken Mahatma Gandhis, Weber, Zucht & Co, München 1975, inzwischen wieder erhältlich über www.graswurzel.net

(9) Vgl. Baren Ray (Hg.): Gandhi's campaign against untouchability 1933-1934, Gandhi Peace Foundation, New Delhi 1996.

(10) Zit. nach B.R. Nanda: Gandhi and his Critics, Oxford University Press, New Delhi 1985, S. 19, vgl. ebenso Lou Marin: "Einleitung", siehe Anm. 5, S. 43.

(11) Vgl. dazu die Studie von M.V. Kamath & V.B. Kher: The Story of militant but non-violent trade unionism, Navajivan Mudranalaya, Ahmedabad 1993.

(12) B. Bhattacharyya: Evolution of the Political Philosophy of Gandhi, siehe Anm. 6, S. 191

(13) Ebenda.

(14) Joan V. Bondurant: Conquest of Violence: The Gandhian Philosophy of Conflict, Oxford University Press, Bombay/Calcutta 1959, S. 169f.

(15) M.K. Gandhi zit. nach B. Bhattacharyya, a.a.O., siehe Anm. 6, S. 180f.

(16) B. Bhattacharyya: Evolution of the Political Philosophy of Gandhi, siehe Anm. 6, S. 191.

(17) Joan V. Bondurant: Conquest of Violence, siehe Anm. 12, S. 168.

(18) Um diese Umdeutung der Kriegerkaste in eine androgyne Widerstandskonzeption geht es hauptsächlich bei Ashis Nandy: Der Intimfeind, siehe Anm. 5, und damit um die Erklärung, warum die Unabhängigkeitsbewegung gleichzeitig auch die erste Frauenemanzipationsbewegung Indiens war.

(19) B. Bhattacharyya, a.a.O., S. 175.

(20) Ebenda, S. 176.

(21) M.K. Gandhi: "The Removal of Untouchability", Navajivan Press, Ahmedabad 1962, S. 197ff.

(22) B. Bhattacharyya, a.a.O., S. 178.