Hans-Jürgen Degen (Hrsg.): Lexikon der Anarchie. Schwarzer Nachtschatten, Bösdorf, Grundausstattung 60 DM, 1. Ergänzungslieferung (EGL) 28,75 DM, 2. EGL 18,75 DM, 3. EGL 18 DM, 4. EGL 1996 40,75 DM.
Das „Lexikon der Anarchie“ benötigt nun bereits einen zweiten Ringbuchordner und wird als Nachschlagewerk vollständiger. Die 4. Ergänzungslieferung enthält folgende Biographien: Bakunin von Wolfgang Eckhardt, Carl Einstein von Marianne Kröger, Ernst Friedrich von Ulrich Klemm, Bernard Lazare von Chaim Seeligmann, John Henry Mackay von Uwe Timm, Pierre Ramus von Adi Rasworschegg, Wilhelm Reich von Bernd A. Laska und Rudolf Rocker von Hartmut Rübner. Besonders der Beitrag über Lazare mit seinen zahlreichen Hinweisen auf weiterführende Literatur ist geeignet, vernachlässigte und unbekannte Aspekte der Geschichte des Anarchismus neu anzusprechen (bisher wurde Lazare nur wahrgenommen, wo es tatsächlich unvermeidlich ist, auf ihn aufmerksam zu werden, nämlich im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affaire, vgl. GWR 193, S. 16). Zusammen mit Chaim Seeligmanns Beitrag über jüdische anarchistische Bewegungen und dem über die Kibbuz-Bewegung, beide ebenfalls in dieser Lieferung erschienen, wird an die Tradition der jiddischen anarchistischen Zeitungen erinnert, die wechselseitigen Affinitäten anarchistischer und jüdischer Außenseiter- Erfahrung. Außerdem werden auch Aspekte der wechselvollen Beziehung zwischen Anarchismus und Zionismus angesprochen, die gerade im deutschsprachigen Raum sehr viel mehr Beachtung als bisher verdienen.
Auch andere Überlegungen können durch solche Beiträge angestoßen werden: In dem Text über die Kibbuzim kann man/frau – jenseits der konkreten, in israelische nationale Politik verstrickten Entwicklungen und die auch hier einzubeziehende verhängnisvolle Rolle der Gewaltbereitschaft und Verkriegung von sozialen Gruppen, die ihrem Selbstverständnis nach sozialistisch sind – einige der Probleme erkennen, von denen ich meine, daß die AnarchistInnen sich nicht ausreichend mit ihnen auseinandersetzen: Bürokratisierung, Privatisierung, Professionalisierung und Wiederanschluß an kapitalistische Ökonomie. Die sozialistischen Ideale der GründerInnengeneration (wie sehr auch diese oft schon nationalistisch überformt waren) werden zurückgedrängt, sicher zum Teil durch die geistige Dominanz und materielle Zwänge der kapitalistisch-nationalistischen Umwelt. Aber die inneren Probleme der Lebensweise in selbstverwalteten Gemeinschaften, wie sie immer wieder und überall aufgetaucht und theoretisch noch kaum erfaßt sind, wären in ihrer Wechselwirkung mit der kapitalistisch-etatistischen Gesellschaft noch zu bearbeiten (am vorläufigen Ende langer Diskussionen könnte auch daraus ein Lexikonartikel werden). Die Reich’sche Frage nach den Bedingungen, unter denen der Kampf um Freiheit „nicht mehr, wie bisher stets, in eine neue Art Unfreiheit münde“ (S. 7 des Stichworts in dieser Lieferung) hat viele unbegriffene Facetten.
Die Abwehrbewegungen gegen Gewalt kommen in den Texten des Lexikons gut zur Sprache; in dieser Lieferung ist ein 10seitiger Beitrag von unserem Genossen Wolfram Beyer über Anti-Militarismus besonders erwähnenswert. Daß im anarchistischen Lexikon auch Sozialbewegungen und Reformprojekte mit Schlagworten vertreten sind, die nur teilweise anarchistisch beeinflußt sind oder eine Wirkung auf anarchistische Aktivitäten hatten, wie die Kibbuzim oder die von Ulrich Klemm behandelten Weltlichen Schulen, ist wichtig, weil es die Unabgeschlossenheit und wechselseitige Einflußnahme sozialer Bewegungen dokumentiert. Dies ist auch beim „Föderalismus“ der Fall, der keineswegs immer anarchistisch begründet ist, wie Lutz Roemheld zeigt. Es ist besonders schwer, über Konzepte einer anderen Vergesellschaftung zu schreiben, ohne diese immer bloß vor der Negativfolie des Bekämpften darzustellen. So ist auch der Föderalismus als Alternative zum Zentralismus in der anarchistischen Literatur immer wieder beschworen worden, aber es verbinden sich damit durchaus unterschiedliche und nur mit Vorsicht „positiv“ zu beschreibende Konzepte. Gerade im Hinblick auf die oben angesprochene Frage, wie Bürokratisierung, ein spontan und von unten immer wieder neu entstehender Entfremdungsprozeß von „Zentren“ gegenüber ihrer „Basis“ behindert oder aufgelöst werden könnte, ist das Föderalismus- Thema eine zentrale Frage unserer Theorie und Praxis. In ihrer Verbindung zu anderen Themen wie der Größe von sozialen Gruppen und deren Beschlußfassung, der Abgrenzung von in die Verantwortung von Einzelnen oder von verschiedenen Gruppen fallenden Aufgaben und Entscheidungen wird über viele Aspekte des Themas in der GWR seit langem diskutiert. Konsensverfahren, Gruppenautonomie contra effektives, gemeinsames Handeln haben uns das Spannungsfeld zwischen Separatismus und zentralistischer Vereinheitlichung auch praktisch, oft schmerzhaft erfahren lassen. Kürzlich gab es in der GWR eine Diskussion über „anarchistisches Recht“, deren Gegenstand auch Formen der Vereinbarung und der Trennung waren, und die Frage nach angemessenen Begriffen, um die „Verfassung“ einer anarchistischen Gesellschaft zu beschreiben. Die Schwierigkeiten sehe ich alle. Dennoch (deshalb?) ist der Föderalismus-Text des Lexikons der Beitrag, der mich am stärksten enttäuscht hat: zu geistesgeschichtlich, teilweise verschwimmt geradezu, was mit „Föderalismus“ gemeint ist. Besonders bei dem Abschnitt über die historisch-politische Entwicklung erscheint mir an vielen Stellen zweifelhaft, ob ein beschriebenes Phänomen sinnvoll „föderalistisch“ genannt werden kann (anarchistisch schon gar nicht). Ein Problem, das ich mit dem Text habe, ist auch seine Sprache. Auch andere Artikel sind in ihrer Ausdrucksweise und Satzkonstruktion nicht ohne zweifelhafte oder zu allgemeine Wendungen. Aber hier wird, sei es unter dem Zwang gedrängter Zusammenfassung und notwendiger Verkürzung, sei es durch ein bestimmtes Verständnis von „Wissenschaftlichkeit“ in sehr langen Sätzen oft sehr unklar ausgedrückt, was der Verfasser meint. Störend ist etwa, daß er den Begriff „politisch“ immer (mindestens 5mal im vorliegenden Text) mit einem vorangestellten „i.w.S.d.W.“ begleitet, was im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst ist als „im weitesten Sinne des Wortes“. Daß man den Begriff „politisch“ verschieden gebrauchen kann und es einen weiter gefaßten Inhalt als Parteipolitik, Haupt- und Staatsaktionen geben kann, würden die LeserInnen wahrscheinlich anders auch und besser begreifen.