Am 21.11.2014 fand Nicolas Richter im Kommentarteil der Süddeutschen Zeitung lobende Worte für Präsident Barack Obama. "Richtig", "ehrgeizig" und "mutig" nannte er dessen Entscheidung, ca. vier von geschätzten acht Millionen illegal in den USA lebenden Flüchtlingen eine befristete Legalisierung ihres Status anzubieten: "Es ist eine überfällige Geste der Vernunft, der Menschlichkeit und des Danks an Millionen Schattenwesen, deren billige Arbeitskraft genutzt, deren Anwesenheit aber oft zum Ärgernis erklärt wird". Obama zeige, "wenn auch spät, die Standfestigkeit und Prinzipientreue, die man von Präsidenten erwartet". Es seien solche Entscheidungen, die eine "große Präsidentschaft ausmachen".
Dieses Lob ist unverdient. Die Migrationspolitik der Regierung Obama, vor allem gegenüber Flüchtlingen aus Lateinamerika, gehört zu den schwärzesten Kapiteln ihrer Amtsführung.
An der Südgrenze der USA zum Nachbarland Mexiko sind in den vergangenen zehn Jahren weit mehr Menschen ums Leben gekommen als an Zonengrenze und Berliner Mauer während der gesamten Zeit ihres Bestehens. Wie andernorts auch wird in den USA innenpolitisch von der katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Lage dadurch abgelenkt, dass Presse und Politik die Massenmigration aus dem Süden zu einem Staat und Gesellschaft gefährdenden Problem hochspielen. Unter Barack Obama hat sich die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der USA nochmals verschärft.
2,4 Millionen Menschen wurden bisher unter seiner Administration abgeschoben – mehr als unter allen bisherigen Präsidenten zusammengenommen.
Sein Programm für eine temporäre Legalisierung, das Richter für eine Geste der Menschlichkeit hält, fügt sich nahtlos ein in eine Politik, in der sich, wie der Soziologe Mike Davis schreibt, „höchster Zynismus mit skrupellosem politischen Kalkül“ mischt. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass das Programm gar nicht von der Administration Obama entwickelt wurde. Es stammt von seinem Vorgänger George W. Bush Jr., wurde in dessen Amtszeit aber nicht umgesetzt. Nun übernimmt ein demokratischer Präsident diese Aufgabe. Der Protest der republikanischen Fraktion in Kongress und Senat richtete sich denn auch prompt gegen Obamas „Alleingang“, nicht gegen den Inhalt des Programms.
Warum auch? Für eine Frist von drei Jahren will die Regierung Obama darauf verzichten, Eltern von in den USA geborenen Kindern abzuschieben. Die Kinder selbst werden, wenn sie auf dem Territorium der Vereinigten Staaten zur Welt kommen, automatisch zu Bürgern der USA.
Ein Sprecher der Regierung machte in aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, das es sich bei dem Programm lediglich um eine befristete Aussetzung der Strafverfolgung handele, und nicht um den ersten Schritt hin zu einer tatsächlichen Legalisierung: „Deferred action [der zeitweilige Verzicht auf Strafverfolgung und Abschiebung] ist kein Weg zur Staatsbürgerschaft.
Es ist auch kein legaler Status. Es bedeutet nichts weiter, als dass wir sie [die Flüchtlinge] für drei Jahre nicht als Verbrecher ansehen und sie auch nicht verfolgen werden. All dies ist befristet und widerrufbar“.
Es ist zweifelhaft, ob viele illegal in den USA lebende und arbeitende Flüchtlinge die ihnen so gebotene Möglichkeit ergreifen werden. Denn temporär legalisierte Flüchtlinge müssen Steuern zahlen, haben aber praktisch kein Anrecht auf (in den USA ohnehin spärliche) Vergünstigungen und Sozialleistungen des Staates. Auch an ihrer Arbeitssituation ändert sich grundsätzlich nichts. „Dieser Plan“, schrieb Davis schon unter der Regierung Bush „wird Wal-Mart und McDonalds eine stabile, praktisch grenzenlose Versorgung mit billigen, wehrlosen Arbeitskräften garantieren“.
Nicht zufällig fühlte sich Davis an das berüchtigte Bracero-Programm erinnert, das den Süden der USA von 1942 bis 1964 mit einem Strom mexikanischer Landarbeiterinnen und Landarbeiter versorgte. Ursprünglich geschaffen, um den Ausfall von Arbeitskräften durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg auszugleichen, entwickelte sich das Bracero-Programm zu einer legalisierten Form rassistischer Ausbeutung enormen Ausmaßes. Insgesamt 4,6 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner wurden mit befristeten Arbeitsverträgen ausgestattet, arbeiteten unter zum Teil skandalösen Bedingungen und für einen Hungerlohn auf den Farmen und Plantagen des Südens und wurden nach Ablauf ihres Kontrakts wieder abgeschoben.
An der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze spielten sich groteske Szenen ab: Mexikanische Landarbeiter mussten sich beim Grenzübertritt ausziehen, wurden komplett abgesucht und anschließend mit DDT besprüht, als seien sie krankheitsübertragende Tiere.
Auf der US-amerikanischen Seite mussten sie sich an Wände stellen, und weiße Farmer stolzierten vor ihnen her wie auf einer Viehauktion, um sich die Gesündesten und Kräftigsten auszusuchen.
Bei Lichte betrachtet ist das temporäre Legalisierungsprogramm Obamas sogar noch schlimmer als das Bracero-Programm. Denn letzteres sah wenigstens auf dem Papier die Einhaltung minimaler arbeitsrechtlicher und gesundheitlicher Standards vor.Davon ist bei Obama offensichtlich nicht die Rede. Die eigentliche Perfidie des Programms jedoch liegt darin, dass Menschen, die in ihm eine Chance sehen könnten, ihrer unerträglichen Situation in der Illegalität zu entfliehen, sich auf diese Weise selbst dem Department for Homeland Security, der für Abschiebung und Flüchtlingsabwehr verantwortlichen Behörde der USA ausliefern müssen – mit der Gewissheit, nach drei Jahren abgeschoben zu werden.
Eine neuerliche Flucht in die Illegalität düfte für temporär legalisierte Flüchtlinge praktisch zu einem Ding der Unmöglichkeit werden.
Das eigentliche Ziel der Regierung Obama ist also nicht, das Leid von rechtlosen und ausgebeuteten Flüchtlingen zu lindern. Es ist, für drei Jahre die klammen Staatskassen mit Steuern von werktätigen Flüchtlingen zu füllen, ohne zusätzliche Ausgaben fürchten zu müssen. Es ist, deren skandalösen Arbeitsbedingungen eine Zeit lang den Anstrich von Gesetzlichkeit zu verschaffen. Und es ist, nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist realistische Aussichten darauf zu haben, Millionen von Menschen abschieben zu können, derer man sonst nur unter größtem Aufwand hätte habhaft werden können.
Dass ein solches Programm in der Öffentlichkeit als humanitäre Großtat wahrgenommen wird, zeugt von mangelnden Kenntnissen der wirklichen Lage. Initiativen, die sich in den USA für die Rechte illegalisierter Flüchtlinge einsetzen, haben längst einen neuen Namen für Barack Obama gefunden. Sie nennen ihn: „The Great Deporter“, den „großen Abschieber“. Und das – leider – nicht zu Unrecht.