Im südfranzösischen Narbonne wird in einer Anlage Uranerzkonzentrat raffiniert und chemisch umgewandelt. Das ist eine Vorstufe zur Urananreicherung, zur Produktion von Brennelementen oder auch Waffen. Das Uran wird u.a. über den Hamburger Hafen umgeschlagen (siehe GWR 394).
Michel Leclerc, 63, hat in den frühen 80er Jahren in Narbonne-Malvési auf dem Gelände der Uranraffinerie der AREVA-Filiale Comurhex (heute AREVA der offizieller Betreiber) als Mechaniker gearbeitet. Wenige Jahre später erkrankte er an einer strahleninduzierten myelogenen Leukämie. Obgleich er heute noch unter den schweren Nebenwirkungen von Knochenmarktransplantation und Therapien leidet, hat er den Kampf gegen die Leukämie zunächst gewonnen. Das Kapitel abschließen will er jedoch nicht. Die Uranfabrik in Narbonne-Malvési lässt ihn nicht los. Im Interview erzählt er von seinem Kampf gegen die Krankheit und von den juristischen Mühlen des Atomstaats. Er wird nicht müde, die menschenverachtenden Machenschaften der Atomlobby zu denunzieren. Das Interview wurde von GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte im September 2014 anlässlich einer Recherchereise über die unbekannte Uranfabrik durchgeführt (1).
Graswurzelrevolution (GWR): Wie bist du auf die Arbeit in der Uranraffinerie gekommen?
Michel Leclerc: Ich bin durch Zufall in die Fabrik gekommen. Ich hatte nach einem Streit eine Arbeitsstelle gekündigt.
Ein Freund, der arbeitete in Malvési für ein Subunternehmen, sagte mir dann: „Hey Michel, die stellen für einen Monat ein, willst du als Industriemechaniker arbeiten?“ Ich bin schließlich 4 Jahre geblieben.
GWR: Was war das für eine Arbeitsstelle? Warst du Atomarbeiter?
Michel Leclerc: Ja, irgendwie Atomarbeiter ohne es zu wissen. Wir verfügten weder über eine Ausbildung noch über Informationen. Das ist von Bedeutung, denn wenn ich etwas weiß, dann passe ich auch auf, aber wenn ich gar nicht Bescheid weiß… Wir montierten Bauteile für die Revision ab, Förderbänder, Pumpen, Öfen.
Dies mussten wir auch erledigen, als die Teile ausfielen und zum Teil noch mit uranhaltiger Lösung beladen waren. Es war sehr staubig, die Schutzmaske war ohne Belüftung, so dass wir sie nicht länger tragen konnten. Wir waren sehr schlecht ausgerüstet.
GWR: Wie sah die medizinische Versorgung und Betreuung aus? Wurdet ihr über die Strahlungsbelastung informiert?
Michel Leclerc: Wir, die Arbeiter der Subunternehmen, wurden wie auch die Angestellten der Firma Comurhex medizinisch betreut. Es gab eine Blutuntersuchung alle 6 Monate und eine Urinprobe alle 15 Tage. Einmal im Jahr haben wir den Werksarzt gesehen, der hat uns einfach gesagt, alles geht gut. Über die Ergebnisse der Untersuchungen wurden wir nie in Kenntnis gesetzt. Ich habe auch nicht gefragt. Ich ging nicht davon aus, dass wir Strahlung ausgesetzt werden. Ich war naiv, aus Mangel an Ausbildung. Die Kollegen haben sich auch keine Fragen gestellt. Es gab Menschen, die nur zwei, drei Tage vor Ort gearbeitet haben. Die wurden weder informiert, noch medizinisch betreut.
Ein Mensch wie Serge Beli, der den Auftrag hatte, Bohrungen in den Abklingbecken, die 2004 durch einen Dammbruch undicht wurden, durchzuführen, ist danach an Leukämie erkrankt. Aber die Anerkennung als Berufskrankheit scheiterte daran, dass er nur zwei Tage vor Ort gearbeitet hat. Das ist absurd, weil man nicht 6 Monate vor Ort sein muss, um verstrahlt zu werden. Einmal reicht. In den Becken, das haben die Untersuchungen ergeben, wurden Spuren von Plutonium gefunden!
GWR: Die Anlage verarbeitet aber nur Uranerzkonzentrat, darin ist kein Plutonium enthalten.
Michel Leclerc: Der Haken ist, dass von 1959 bis 1983 Uran verarbeitet wurde, das bereits in Reaktoren eingesetzt worden war. Das ist kein Yellow cake mehr, das ist mit anderen Isotopen verseuchtes Uran. Aus diesem Grund sind in den Abklingbecken Spuren von Plutonium zu finden.
GWR: Du hast vier Jahre in der Anlage gearbeitet und diese dann 1984 verlassen. Wie ging es dann weiter?
Michel Leclerc: Ich weiß nicht, ob ich Zweifel hatte, aber ich fühlte mich dort unwohl und bin gegangen. Wenn eine Sache mir nicht gefällt, dann gehe ich. Ich habe mich als Handwerker niedergelassen. Ich hatte immer wieder Phasen großer Müdigkeit, das konnte ich mir nicht erklären. 1983 als ich noch in der Uranfabrik gearbeitet habe, hatte ich mir schon Fragen gestellt, ich wurde da auch sehr müde, ohne zu verstehen woher es kam. Ich wurde für drei Tage ins Krankenhaus geschickt, zum Gesundheitscheck. Es hat aber nicht geholfen, ich kam nicht voran. Ich habe erst später erfahren, dass die große Müdigkeit zu den Anzeichen einer Kontamination mit Radioaktivität gehört.
Als ich dann 1991 auf Grund einer epigastrischen Hernie operiert wurde, schaffte ich es nicht wieder auf die Beine zu kommen. Der Arzt sagte: „Du bist wehleidig“. Das bin ich aber nicht, ich habe gesagt: „Es läuft irgendwas schief“. Sie haben nach der Ursache gesucht und es wurde eine myelogene Leukämie diagnostiziert. Diese Art von Leukämie ist dafür bekannt, dass eine Kontamination mit Uran sie auslösen kann. Ich habe eine Studie über Leukämiefälle im Zusammenhang mit den Bombenabwürfen in Hiroschima und Nagasaki gelesen, diese wurde durch das Krankenhaus in Bordeaux in Auftrag gegeben. Im Ergebnis wurden überwiegend chronische myelogene Leukämie festgestellt.
GWR: Was ging dir durch den Kopf, als die Nachricht kam?
Michel Leclerc: Ich habe versucht zu verstehen, der Arzt hat mich gefragt, wo ich denn in der Vergangenheit gearbeitet habe.
Als ich die Uranraffinerie der Firma Comurhex erwähnt habe, da hat er sofort gesagt, sie müssen in dieser Richtung nach der Ursache suchen. Er sagte, es muss was passiert sein. Ich habe daraufhin einen Termin mit dem Werksarzt Gibert vereinbart. Ich war nicht wütend, ich wollte aber verstehen.
Da sagt mir der Werksarzt, dass im April 1983 Grenzwerte überschritten wurden. Aber das sei nicht weiter schlimm, sagte er. Ich habe später festgestellt, nachdem ich meine Krankenakte gestohlen habe, dass es mehrere Überschreitungen gegeben hat und dass in der Akte Ergebnisse von Blutproben nach April 1983 gänzlich fehlen. Entweder wurde einfach keine Blutentnahme mehr durchgeführt, oder die Verantwortlichen haben die Ergebnisse verschwinden lassen.
Egal wie es gekommen ist, in beiden Fällen tragen sie meiner Meinung nach die Verantwortung. Ich habe damals auf Eigeninitiative Untersuchungen machen lassen, weil ich mich sehr müde fühlte. Meine weißen Blutkörperchen vermehrten sich immer weiter. Der Kontakt mit Uran, das ist nicht ohne. Es gibt keine ungefährliche Niedrigstrahlungsdosis. Insbesondere, wenn es um interne Kontamination geht. Das Uran siedelt sich in den Knochen an und strahlt im Körper weiter.
GWR: Du hast juristische Schritte gegen die Verantwortlichen der Anlage unternommen. Wie ist es gelaufen?
Michel Leclerc: Die Leukämie wurde 1993 als Berufskrankheit anerkannt und ich werde auch entsprechend entschädigt.
Das ging mir aber nicht weit genug. Ich habe mich gefragt, wer hier für die Fehler verantwortlich ist. Ich wollte an meine Akte ran. Ich wurde am 1. November 1993 für eine Knochenmarktransplantation im Krankenhaus aufgenommen.
Ich habe Glück gehabt, ich habe die Transplantation überstanden und kam zwei Monate später raus. Dann habe ich versucht an meine Akte ran zu kommen. Ich werde keine Einzelheiten nennen, der Vorgang ist unglaublich, aber ja ich habe schließlich meine Akte gestohlen. Ich habe daraufhin einen Anwalt gesucht, das war nicht einfach, sie sagten, dass sie das tun können, wollten aber zuvor Geld sehen. Ich habe schließlich Maitre Faro aus Paris kennengelernt – er verteidigt oft Greenpeace AktivistInnen – er war damit einverstanden, den Fall zu übernehmen.
Wir haben vor dem Arbeitssozialgericht auf Feststellung eines unentschuldbaren Fehlverhaltens geklagt. Das Gericht hat uns Recht gegeben. Ich hatte die Serci, das Subunternehmen bei der ich angestellt war, sowie die Comurhex als Drittunternehmen verklagt. Es wurde festgestellt, dass der Serci selbst kein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, weil die Comurhex und nicht die Serci die medizinischen Untersuchungen durchführte. Der Haken ist, dass der Vertrag zwischen Serci und Comurhex unauffindbar ist.
Schon wieder ein verschwundenes Dokument. Aus diesem Grund konnte die Comurhex für ihr unentschuldbares Fehlverhalten nicht verurteilt werden, Dritte können nicht verurteilt werden. Das Gericht stellte bei der Comurhex ein schweres unentschuldbares Fehlverhalten fest und verwies die Sache 1999 zur Klärung der Höhe eines Schmerzensgelds an die zivile Gerichtsbarkeit.
Nur… die zivile Gerichtsbarkeit das ist was anderes als das Sozialgericht. Die Schuld des Arbeitgebers muss eindeutig feststehen. Wir haben die Sache 2000 vors Zivilgericht gebracht. Wir haben in erster Instanz gewonnen, das unentschuldbare Fehlverhalten der Comurhex wurde festgestellt. Ein Sachverständiger wurde zur Evaluation der Schmerzensgeldhöhe durch das Gericht bestellt, eine Summe wurde im Urteil nicht genannt.
Die Comurhex ging in Montpellier in Berufung und wir haben verloren. Es gibt das Gerücht, dass man in der Berufungsinstanz in Montpellier immer verliert. Das Verfahren ist seit nun über einem Jahr vor dem Cassassionsgericht (französischer Bundesgerichtshof) anhängig.
GWR: Hast du da Aussicht auf Erfolg?
Michel Leclerc: Ich bin immer optimistisch. Selbst wenn ich verliere, kann ich mich im Spiegel anschauen, ich habe gekämpft. Ich kämpfe seit 20 Jahren. Ich mache die Menschen auf die Probleme aufmerksam, bringe sie zum nachdenken, das ist wichtig. Auch wenn ich vielleicht nicht gewinne. Es geht nicht nur um das Geld. Wenn ich gewinne, das ist die Krönung. Wenn ich verliere, dann ist es halt so. Ich will dann noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen. Allein wegen der überlangen Verfahrensdauer. Das Verfahren dauert schon 20 Jahre. Das widerspricht Artikel 6 der Menschenrechtskonvention.
GWR: Du kämpfst dich heute nicht nur durch die Mühlen der Justiz.
Michel Leclerc: Nein. Die Krankheit hat mein Leben verändert. Ich bin geschieden und hatte das Sorgerecht für meine beiden ersten Kinder, meine Tochter war 14 Jahre, mein Sohn 19, als die Krankheit ausgebrochen ist. Die beiden haben sehr gelitten. Ich gelte heute als geheilt, aber es gibt schwerwiegende Folgen. Die Therapie mit Ciclosporine hat Diabetes ausgelöst. Vor der Transplantation wurden mir fast alle Zähne gezogen. Die Strahlentherapien waren schwer zu ertragen. Ich bin heute über 60 und muss immer noch viele Medikamente zu mir nehmen. Mein Kampf hat dazu geführt, dass ich noch am Leben bin. Ich würde allen Betroffenen empfehlen zu kämpfen.
GWR: Bist du anderen ArbeiterInnen der Comurhex begegnet, die ähnlich wie du erkrankt sind?
Michel Leclerc: Ja. Monsieur François Gambard war der Hausmeister der Anlage, er ist an Leukämie gestorben. Hugues Arendo ist an Leukämie erkrankt, ich glaube diese wurde als Berufskrankheit anerkannt. Ihm wurde aber offensichtlich etwas versprochen, öffentlich will er nämlich nichts sagen. Es wurde ihm möglicherweise ein Arbeitsplatz in der Anlage für die Zeit danach versprochen. Die Comurhex ist für solche Praktiken bekannt. Er braucht keine Arbeit, sondern eine Entschädigung. Auch Docteur G., der Werksarzt, ist an Leukämie gestorben. Als ich ihn Ende 1992 getroffen habe, um über meine Krankenakte zu sprechen, da hat er von der Überschreitung eines Grenzwertes im April 1983 gesprochen. Er hat aber betont, dass man wegen einer Anlage wie der Uranraffinerie der Comurhex, nicht an Leukämie erkranken könne.
GWR: Ist dein Kampf auch ein Kampf gegen die Atomkraft geworden?
Michel Leclerc: Anlagen wie die in Narbonne-Malvési gibt es weltweit nur fünf. Die Anlage in Narbonne ist die größte. 25 bis26 % des weltweit geförderten Urans läuft über diese riesige Anlage.
Seitdem die Anti-Atom-Gruppe Sortir du nucléaire Aktionen gegen die Anlage durchgeführt hat, interessieren sich die Medien mehr für das Thema. Ich versuche die Öffentlichkeit wach zu rütteln, indem ich meine Geschichte erzähle. Ich habe meinem Anwalt gesagt, wenn sie einen Journalisten haben, der ist für mich! Es ist wichtig diese Anlage zu beleuchten. Sortir du nucléaire hat mit der Blockade eines mit Urantetrafluorid beladenen LKW im September 2013 effektiv dazu beigetragen (2). Das ist wichtig, das läuft im Fernsehen, die Menschen fangen an nachzudenken. Was zählt ist die Legitimität des Kampfes, die Legalität ist für uns nicht so wichtig. Aktionen sind oft illegal, zum Beispiel wenn Greenpeace in ein AKW eindringt. Der Kampf ist aber legitim. Wenn sie eindringen können, können es auch andere. Es lebe die Sicherheit…
Ungehorsam ist eine Pflicht, das sollten wir nicht vergessen. Ich habe meine Krankenakte gestohlen, das war nicht legal, aber gerecht. Ich wollte wissen. Wir sind Menschen, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen!
(1) Weitere Informationen über die Uranfabrik in Narbonne Malvési: http://blog.eichhoernchen.fr/post/Das-undefinierbare-strahlende-Objekt-in-Narbonne-Malvesi
(2) http://blog.eichhoernchen.fr/post/Hintergruende-Urantransport-Blockade-Frankreich