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Der Wahn der „Sicherheit“

Auf dem Weg zu einem neuen Totalitarismus?

| Bruno Weil

Zunahme privater Sicherheitsdienste, Law-and-Order-Wahlkämpfe, Großer Lauschangriff - das Thema "Innere Sicherheit" hat Konjunktur wie kaum jemals zuvor. Es sollte auch für AnarchistInnen von einigem Interesse sein, wie eine reaktionäre Herrschaftsideologie zur von PolitikerInnen wie BürgerInnen geteilten gesellschaftlichen Zielvorstellung avancieren konnte. (Red.)

Wurden in den 70er und 80er Jahren Wahlkämpfe immerhin noch mit Slogans wie „Mehr Demokratie wagen“ oder „Freiheit statt Sozialismus“ geführt und drückte sich darin immerhin noch eine, wenn auch verlogene, Rücksichtnahme auf von BürgerInnen anscheinend gewünschte größere Freiheitsspielräume aus, so ersetzt die politische Klasse heute scheinbar im Konsens mit ihren Untertanen den Wunsch nach Freiheit durch den nach „Sicherheit“.

Sicherheit braucht nur die Person, die etwas zu verlieren hat

Der zur gesellschaftlichen Norm erhobene und in breiten Kreisen der Bevölkerung geteilte Ruf nach mehr „Sicherheit“ ist der Endpunkt einer Entwicklung im sogenannten „Wohlfahrtsstaat“, die noch vor kurzer Zeit anderes versprach. Gegen marxistische Varianten der Verelendungstheorie, denen zurecht Zynismus und die Tatsache vorgehalten wurde, daß Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung nicht automatisch antiautoritär agieren, versuchte die neuere anarchistische Theorie in den westlichen Wohlstandsgesellschaften, allen voran Murray Bookchins Theorem des „Post-Scarcity Anarchism“ (Nach-Mangel-Anarchismus), emanzipatorische Möglichkeiten auszuloten, die gerade aus gesicherter materieller Versorgung entstehen. Was Bookchin in den 60er Jahren noch als libertärer Pionier betrachtete, fand in den 70er und 80er Jahren Eingang in bürgerlich-soziologische Theorien: der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Inglehart sprach von einer „sanften Revolution“ und einem „Wertewandel“ in den westlichen Gesellschaften, der allerdings auf einem Fundament garantierter materieller Absicherung fuße. Erst wenn niemand mehr Hunger leide oder durch gravierende Krankheitsepidemien bedroht sei, würden sich avisierte politische Werte wandeln – weg von autoritären Forderungen nach sozialstaatlicher Verfassung und hin zu freiheitlichen Werten, zu Selbstverwirklichung, Geschlechteremanzipation, Ökologie, Frieden. Es war der Erklärungsversuch für die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen, ebenso allerdings auch eine Legitimation für die sogenannte „Zwei- Drittel-Gesellschaft“. Zwar gab es auch in den 70er und 80er Jahren schon einen „Sicherheitsstaat“, einen Ausbau von Polizei und Geheimdiensten, doch wenn etwa Joachim Hirsch diesen „Sicherheitsstaat“ kritisch analysierte, war damit wie selbstverständlich eine Bedrohung gemeint, die sich auch in der Wahrnehmung eines Großteil der BürgerInnen gegen Versuche richtete, freiheitlichere Werte über soziale Bewegungen und BürgerInneninitiativen umzusetzen. Heute wäre ein „Sicherheitsstaat“ in den Augen der meisten BürgerInnen keine Bedrohung mehr, sondern das Ziel aller Träume. Wie kam es zu dieser veränderten Wahrnehmung?

Die Zeiten und Visionen der immer weiter um sich greifenden kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft sind vorbei, spätestens seit der kapitalistischen Eingemeindung Osteuropas und dem gescheiterten Versprechen materiellen Wohlstands dort. Selbst in den Zentren des westlichen Kapitalismus wird kaum noch von zwei Dritteln geredet, die an ihren materiellen Privilegien dauerhaft teilhaben. Die Arbeitslosigkeit und sogar die Armut, insbesondere Frauen- und Flüchtlingsarmut, in den Metropolen steigt, die wirklich Privilegierten reduzieren sich eher auf die 50 %-Marke hin. Angst geht um. Und Angst vor Marginalisierung, vor dem Absturz aus privilegierten Positionen, die man/frau vielleicht noch dazu einige Generationen lang nicht zu haben brauchte, ist die Grundvoraussetzung des aktuellen Sicherheitsbedürfnisses, das die staatliche Propaganda populistisch aufzubauschen weiß. Nur wer etwas zu verlieren hat, schreit verzweifelt nach Sicherheit! Die Ideologie der Inneren Sicherheit ist der Angstschrei der von Marginalisierung bedrohten BürgerIn.

Für die Herrschenden ist dieser Mechanismus ideal: Sie, die eigentlichen VerursacherInnen der Marginalisierung, gerieren sich unter dem Mantel der Sicherheitsideologie als RetterInnen und BeschützerInnen. Die Menschen haben Angst vor sozialem Abstieg und wollen sich genau dagegen mittels des Wunsches nach „Sicherheit“ abschotten. Doch gegen einen Staat, der ihnen via Großem Lauschangriff jederzeit die eigene Wohnung verwanzen und ihr Telefon abhören darf, regt sich kein Verdacht, von Bedrohung der eigenen „Sicherheit“, von Widerstand ganz zu schweigen.

Das Sicherheitsbedürfnis als Wunsch nach Abschottung: ein Teufelskreis

Der Wunsch nach Sicherheit ersetzt den nach Freiheit. Entsprechend richten sich die Ängste nach unten und nicht mehr nach oben, an den Staat. Bedroht wird man/frau nun von denen, zu denen man/frau bei Marginalisierung vielleicht bald gehören wird. Die Ausbeutung der Ängste durch ressentimentgeladene Zuschreibungen ist dann nur noch ein kleiner Schritt: die Sozialhilfe“schmarotzerin“, der ausländische Kriminelle, die obdachlose Bettlerin in den Einkaufspassagen – sie alle repräsentieren die Horrorvision der eigenen Zukunft. Dagegen will man/frau die Sicherheit, die einer/einem gerade in diesen Zeiten keine über die Verhältnisse wirklich aufgeklärte Person oder Organisation bieten kann. Was bleibt, ist die Zuflucht nach Sicherheitsmythen: privater Sicherheitsdienst, Alarmanlage, Wegfahrsperre. Aus dem Sicherheitsbedürfnis wächst das Bedürfnis nach Abschottung vom „Abschaum“ der Gesellschaft. Jegliche Kommunikation, jeglicher Kontakt mit den Marginalisierten wird reduziert, wenn möglich ganz vermieden. Die Marginalisierten werden zu „Fremden“, quasi „Aussätzigen“: die eigenständige, reale Kenntnis ihres Lebens, wie immer rudimentär sie auch war, wird ersetzt durch das via Medien und politische Propaganda gestiftete Klischeebild. Ein Teufelskreis: je abgeschotteter das eigene Leben, desto verfestigter das lebensferne Klischee.

Es ist dies übrigens ein nicht nur für Deutschland typischer Mechanismus: die von den weißen BürgerInnen internalisierte Sicherheitsideologie wirkte sich etwa bei den Schwarzenaufständen in South Central Los Angeles Ende der 80er Jahre so aus, daß sich die Weißen in ihren Stadtvierteln quasi verbarrikadierten, tagelang nicht außer Haus gingen und fortan keinen Fuß mehr in marginalisierte Viertel ihrer Stadt setzten. Die Schwarzenaufstände nahmen sie als ebenso natürlich wie bedrohlich wahr – die logische Konsequenz daraus war der Ruf nach mehr Sicherheit. Die autoritäre Zielvorstellung „Sicherheit“ äußert sich nicht nur in immer rigideren Formen der Abschottung des eigenen Erfahrungs- und Lebensraums vor nur noch als bedrohlich vorgestellten anderen Menschen, sondern auch in einem unglaublich reaktionären Fatalismus: daß bestimmte Stadtteile in Los Angeles, aber auch in Paris oder London (bald in Berlin und Hamburg?), von privilegierten Menschen nicht mehr betreten werden, ist eine Kapitulation vor dem Vertrauen in andere Menschen, vor dem Ideal der Freizügigkeit, vor der Idee, daß die Begegnung mit anderen Menschen zu gegenseitiger Bereicherung und Horizonterweiterung führt. Die DDR wurde noch durch das unerfüllte Bedürfnis nach Grenzüberschreitung und Reisefreiheit gestürzt, die westliche Sicherheitsgesellschaft richtet sich ein in der freiwilligen Einschränkung, bestimmte Gebiete des eigenen Territoriums gar nicht mehr zu betreten. Die Sicherheitsideologie führt, apokalyptisch zu Ende gedacht, zur totalen Abschottung, zum freiwilligen Haus-, Auto- und Arbeitsstellenarrest – ein neuer Totalitarismus, hervorgerufen weniger durch äußere Repression denn durch verinnerlichte „Innere Sicherheit“!

Freiheit ist immer auch Risiko. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung, nach radikalem Wandel ist für das individuelle Bewußtsein mit Unwägbarkeiten, Ungewißheiten behaftet. Wer aber auch nur etwas zu verlieren hat, will nichts riskieren, auch nicht für die Freiheit. Die Angst, daß die je eigene Vorstellung von Freiheit, die zudem immer als schönes Zubrot zum vorhandenen Privileg, nicht aber als existentiell notwendig betrachtet wird, nicht verwirklicht wird und das wenige, das man/frau an Privilegien hat, auch noch verspielt wird, treibt die Menschen in die Arme der SicherheitsideologInnen.

Menschen, die „Innere Sicherheit“ als zu erstrebenden Wert oder als gesellschaftliche Zielvorstellung anerkennen, sind zu keinem Risiko der Freiheit, aber zu jeder Verstaatlichung bereit. Sie zeigen jede/n NonkonformistIn schon auf Verdacht und präventiv an. Mit Sicherheitsbedürftigen ist kein libertärer Aufbruch zu machen, sie sind für Freiheitsaspirationen gar nicht ansprechbar. Sie wittern nur Bedrohung.

Ohne einer neuen, diesmal libertären Verelendungstheorie das Wort reden zu wollen, könnte daraus für libertäre Gruppen die Konsequenz gezogen werden, daß wir uns zukünftig mit solchen Menschen mehr verbünden müßten, die gegen den Sicherheitswahn immun sind. Das sollte nicht nur nach Klassenlage beurteilt werden, wenn auch Obdachlose, Flüchtlinge und Menschen in ungesicherten Arbeits- und Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen als „natürliche“ Verbündete betrachtet werden können, als relativ „immun“ gegen die Ideologie der „Sicherheit“. Doch noch immer gilt es, jedes Individuum zu befragen, ob es vom Sicherheitsvirus angesteckt ist. Es muß doch noch Intellektuelle, Angehörige des Mittelstands, bürgerliche WohlstandsverliererInnen geben, die die Ideologie der „Inneren Sicherheit“ durchschauen können.