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Das neue Spiel

| Antje Schrupp

Michael Seemann: Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Orange-Press 2014, 256 Seiten, Das Buch gibt es teuer auf Papier (20 Euro), günstig als E-Book (4,95 Euro) oder kostenlos als Browserversion, zum Beispiel auf www.sobooks.de

Die mediale Revolution durch Digitalisierung und Internet hat nicht nur kulturelle und ökonomische, sondern auch politische Folgen. Wenn sich die Art und Weise, wie Menschen kommunizieren, Informationen verteilen, sich vernetzen und organisieren verändert, lässt das die klassischen politischen Institutionen – Parteien, Parlamente, ja sogar Staaten – nicht unberührt.

Aber wie genau verändert das Internet das Politische?

Dazu hat der Kulturwissenschaftler Michael Seemann jetzt ein Buch geschrieben. „Das neue Spiel“ hat er es betitelt, denn seine grundlegende These ist, dass unter den Bedingungen des Digitalen und des Internet im Bereich der Politik nicht mehr dasselbe Spiel gespielt wird. Die alten Spielregeln funktionieren nicht mehr. Im ersten Teil seines Buches erklärt er, warum genau und im zweiten Teil entwirft er neue Regeln.

Das ist sehr lesenswert für politische Aktivist_innen jeder Art, speziell aber für anarchistische, weil es hier zentral um die Existenzbedingungen staatlicher Institutionen und globaler kapitalistischer Strukturen geht. Das „alte Spiel“ basierte auf Hierarchien, (staatlicher) Kontrolle und Repräsentation. Das „neue“ Spiel ist geprägt von Netzwerken, Kontrollverlust und spontanen Aktionen. Warum Digitalisierung und Internet diese Veränderungen unweigerlich mit sich bringen, erklärt Seemann so, dass es auch für alle verständlich ist, die sich mit Internetstrukturen nicht gut auskennen.

Er identifiziert dabei drei Treiber: Erstens die umfassende Digitalisierung der Welt, also die Tatsache, dass immer mehr (und tendenziell alles) in digitaler Form erfasst und damit in diese Entwicklung einbezogen wird.

Zweitens die unbegrenzte Kopierbarkeit von Daten, weshalb theoretisch die gesamte digitalisierte Welt jederzeit allen überall gratis zur Verfügung stehen könnte.

Und drittens die „Query“, also die Abfrage, die es ermöglicht, aus großen Datenmengen alle nur denkbaren Informationen zu ziehen, auch solche, von denen wir heute noch gar nicht wissen, dass jemand sie irgendwann mal interessant findet.

Diese drei Faktoren entwickeln laut Seemann gemeinsam eine Dynamik, die sich nicht aufhalten lässt und unausweichliche Folgen für Wirtschaft und Politik hat. Eigentumsmodelle zum Beispiel, die auf Gewinn per verkaufter Stückzahl basieren, funktionieren logischerweise immer schlechter, wenn die Grenzkosten eines Produktes (also die Kosten, die es erfordert, von einem einmal erfundenen Ding noch eines zu produzieren), praktisch gegen Null gehen: Es ist einleuchtend, dass ein gedrucktes Buch etwas kostet, aber nicht, dass man für eine Text- oder Videodatei etwas (oder sogar viel) bezahlen muss, wo es doch praktisch keine Kosten verursacht und niemandem etwas wegnimmt, wenn sie nochmal kopiert werden.

Manche Ökonomen wie Jeremy Rifkin rufen deshalb schon das Ende des Kapitalismus aus. Die Realität spricht allerdings eine andere Sprache, denn der Kapitalismus steht ja weiterhin in Saft und Kraft. Freilich nicht bei denen, die wie deutsche Verlage und Zeitungen ihre alten Geschäftsmodelle mit Zähnen und Klauen verteidigen und für staatliche Gesetze lobbyieren und so ihre Interessen abzusichern hoffen. Diesen Kampf werden sie verlieren, weil sie noch das „alte Spiel“ spielen.

Oberwasser haben vielmehr diejenigen Unternehmen, die neue Geschäftsmodelle für die digitale Welt entwickelt haben, also große Plattformen wie Google, Amazon, Facebook.

Seemann erläutert, woher ihre Macht kommt und warum man ihnen im Stile herkömmlicher politischer Kämpfe (Streiks, Gewerkschaften, Konsumboykott) nicht beikommen kann.

Solche Plattformen brauchen Staat und Polizei nicht mehr, um ihre Interessen durchzusetzen, sie bekommen alles, was sie zum Geldverdienen brauchen – Unmengen von Daten – von den Nutzerinnen und Nutzern freiwillig geliefert.

Als Gegenleistung stellen sie Infrastrukturen bereit, die in vielerlei Hinsicht praktisch sind, und auf die man immer schwerer verzichten kann. Grund dafür sind Netzwerkeffekte, die bewirken, dass die schiere Masse von Teilnehmenden das Angebot quasi konkurrenzlos macht: Dass so viele Menschen bei Facebook sind, hat zur Folge, dass sich immer mehr Leute dort anmelden (müssen), was Facebook wiederum noch stärker und um Längen attraktiver macht als die Konkurrenz.

Plattformen übernehmen inzwischen teilweise sogar ehemals staatliche Funktionen wie zum Beispiel Identitätsnachweise: Viele Internetangebote kann man ohne Facebook- oder Google-Account gar nicht mehr nutzen, so wenig wie man ohne Reisepass eine Grenze passieren kann. Der Verzicht darauf, sich dem Trend anzuschließen, hat einen immer höheren Preis. Wer Google, Facebook und Co. boykottiert, verschließt sich selbst die Vorteile, die sie bieten, ohne dabei aber gleichzeitig etwas Substanzielles auszurichten.

Deshalb schlägt Seemann vor, das Spiel nach „neuen Regeln“ zu spielen und stellt zehn davon auf. Statt auf zunehmend verlorenem Posten gegen Digitalisierung und freie Verfügbarkeit von Daten zu kämpfen, solle man lieber die Möglichkeiten von Digitalisierung und Internet aktiv nutzen und in den Dienst einer freiheitlichen Weltgestaltung stellen – Stichwort Transparenz. Statt sich von den Plattformen fernzuhalten sei es wichtig, sich dort für offene Strukturen und nachvollziehbare Politiken einzusetzen.

Statt nach mehr Gesetzen zu rufen, die das Internet regulieren sollen, wäre es wichtig, als freiheitlich denkende Menschen diesen „Lebensraum“ aktiv und verantwortlich mitzugestalten, denn – so Regel 7 – „Staaten sind Teil des Problems, nicht der Lösung“.