grenzen auf!

1.700 tote Flüchtlinge später…

| Karl Kopp

Die Zahl der Flüchtlinge, die den mörderischen Seeweg wählen müssen, nimmt dramatisch zu. Über 200.000 Schutzsuchende, davon 69.000 aus Syrien, nahmen 2014 dieses Martyrium der Überfahrt auf sich - über das zentrale Mittelmeer oder die griechische Ägäis. Mindestens 4.000 starben.

Flüchtlinge steigen in die Boote, weil sie keine andere Wahl haben: Es gibt keine legalen Wege nach Europa. Und was macht Europa? Die Mittel für Seenot-Rettung werden reduziert, das Operationsgebiet wird verkleinert. Die Folgen waren vorher klar: Weniger Rettung heißt, dass noch mehr Menschen sterben. So einfach ist die Rechnung in der europäischen „Flüchtlings“-Politik.

Als allein im April 2015 weit über 1000 Menschen innerhalb weniger Tage auf der Flucht nach Europa sterben, wird ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs einberufen.

Es folgen die Betroffenheitsrituale wie nach dem Massensterben vom 3. Oktober 2013 vor Lampedusa. „Wir werden alles tun, um zu verhindern, dass weitere Opfer im Mittelmeer vor unserer Haustür umkommen auf quälendste Art und Weise“, sagt Bundeskanzlerin Merkel.

Von Mare Nostrum zu Triton

Die italienische Seenotrettungsoperation Mare Nostrum hat binnen eines Jahres 130.000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet – und dennoch starben Tausende Flüchtlinge. Den dramatischen Todeszahlen zum Trotz wurde diese Rettungsoperation nicht ausgeweitet, sondern Ende Oktober 2014 eingestellt.

Die europäischen Regierungen hatten sich strikt geweigert, Mittel zur Verfügung zu stellen, um Mare Nostrum in eine europäische Seenotrettung zu überführen. Frontex-Interimsdirektor Gil Arias bestätigte bereits bei seiner Präsentation der neuen Operation Triton vor dem Europaparlament am 4. September 2014: „Weder die Mission noch die Ressourcen erlauben ein Ersetzen von Mare Nostrum.“

Es bestehe ein „fundamentaler Unterschied“ zwischen Triton und Mare Nostrum. Während letztere eine „Such- und Rettungsoperation“ sei, fokussiere Triton auf Grenzkontrollen. Der bewusst drastisch reduzierte Einsatzradius und die geringere Mittelausstattung – ein Drittel des Budgets von Mare Nostrum – machen Triton zu einer Sterbebeobachtungsoperation.

Antonio Guterres, UN-Flüchtlingshochkommissar, hat im Dezember 2014 die Haltung der europäischen Regierungen mit scharfen Worten kritisiert: „Einige Regierungen räumen der Abwehr von Flüchtlingen höhere Priorität ein als dem Recht auf Asyl.“ Dies sei genau die „falsche Reaktion in einer Zeit, in der eine Rekordanzahl an Menschen vor Kriegen auf der Flucht ist“, kritisiert Guterres. Flüchtlingspolitik dürfe nicht „den Verlust von Menschenleben als Kollateralschaden akzeptieren“.

In der Tat: Der Club der EU-Innenminister nimmt diese Toten billigend in Kauf, weil die Seenotrettung einen Anreiz bilden könnte für weitere Fluchtbewegungen. „Mare Nostrum hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“, kommentierte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière das Ende von Mare Nostrum. Um die Logik der Abschreckung aufrechtzuerhalten, wird einfach weniger gerettet. Nach kurzen Betroffenheitsbekundungen kennt Europa nur eine ritualisierte Antwort auf neue Todesopfer: Stets heißt es, „wir werden den Kampf gegen die Schlepper verstärken“.

Anstatt legale Wege nach Europa für die Schutzsuchenden zu eröffnen, werden nur die Symptome der Festung Europa bekämpft. Die Schlepperindustrie lebt prächtig mit den ausgeklügelten Abwehrmaßnahmen der EU. Sie offeriert den Zugang nach Europa für viel Geld und häufig unter menschenverachtenden Bedingungen [siehe Artikel in dieser GWR].

Der Evergreen

Seit Herbst 2014 diskutieren die EU-Innenminister über Flüchtlingslager in Nordafrika. Schutzsuchende sollen bereits in Transitstaaten von der Überfahrt über das Mittelmeer abgehalten werden – angeblich um Tote zu verhindern. Bundesinnenminister Thomas de Maizière rühmt sich, die Debatte über diese „Willkommenszentren“ initiiert zu haben. Der Evergreen „Lager irgendwo in Afrika“ – revitalisiert zu einer Zeit, in der Europa die Seenotrettung bewusst zurückgefahren hat – ist zynisch, realitätsfern und geschwätziges Blendwerk, um Europas völlige Tatenlosigkeit angesichts des Massensterbens und des Flüchtlingselends auf der anderen Seite des Mittelmeers zu verdecken. In einem zweiseitigen „Non Paper“ an die EU-Innenminister lässt die italienische Regierung im März 2015 dann auch jegliches humanitäre Beiwerk beiseite. Um Flüchtlinge effektiv abzuschrecken, sollen Seenotkapazitäten in Tunesien und Ägypten ausgebaut, Flüchtlingsboote frühzeitig abgefangen und zurück verfrachtet werden. In anderen Worten: Die EU will diese Drittstaaten anheuern, um sich ihrer menschenrechtlichen Verpflichtungen zu entledigen. Was mit den Flüchtlingen in den nordafrikanischen Staaten passiert, spielt in diesem Szenario keine Rolle mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Mehr Seenotrettung unter der Ägide von Frontex?

Nach über 1.700 toten Flüchtlingen in den ersten zwölf Wochen dieses Jahres mussten selbst Hardliner einer Aufstockung der Finanzmittel für die Seenotrettung zu stimmen.

Der Bundesinnenminister de Maizière lehnte noch am 16. April 2015 eine Verstärkung der EU-Seenotrettung ab. Diese wäre „das beste Geschäft für Schlepper“. Doch der nun von der EU beschlossene 10-Punkte-Plan beinhaltet wenig Neues – und skandalös Verfehltes. Nur zwei der Maßnahmen zielen darauf, Flüchtlinge zu retten und in Sicherheit zu bringen.

Eine dient eventuell der Aufweichung des problematischen Dublin-Verteilungssystems. Und ganze sieben der zehn Maßnahmen sind restriktiv, sie zielen auf Abschreckung, Kriminalisierung, Abschiebung und die Abwälzung von Verantwortung auf Drittstaaten Selbst die jetzt auf dem Sondergipfel der EU beschlossene Verdreifachung der materiellen und finanziellen Ressourcen der Frontex-Operation Triton wird das Sterben im Mittelmeer nicht beenden. Der vorgesehene Etat von monatlich 9 Millionen Euro hat den Umfang der italienischen Mare Nostrum-Operation. Er reicht nicht annähernd aus, um systematisch Bootsflüchtlinge zu retten. Doch selbst bei einer angemessenen Ausstattung: Frontex ist eine Grenzagentur. Für die aktive Seenotrettung hat Frontex kein Mandat. Der neue Frontex-Direktor Fabrice Leggeri erklärte gegenüber dem Guardian: „In unserem Einsatz sind keine aktiven Such- und Rettungsmaßnahmen vorgesehen.

Das ist nicht Teil des Mandats von Frontex und das ist nach meinem Verständnis auch nicht Teil des Mandats der Europäischen Union.“

Angesichts des nahenden grausamen „Flüchtlingssommers“ kämpfen Menschenrechtsorganisationen in ganz Europa weiterhin für einen zivilen europäischen Seenotrettungsdienst und vor allem legale Wege für Schutzsuchende, um dieses Massaker im Mittelmeer zu beenden. Es geht um Leben und Tod. Flüchtlingslager sind bereits zahlreich auf dem afrikanischen Kontinent und in den Nachbarstaaten Syriens und Iraks.

Die Schutzkapazitäten sind dort schon lange erschöpft. EU-Kommissar Avromopoulos könnte seinen Job machen, indem er endlich eine europäische Flüchtlingsaufnahmekonferenz zu Syrien und Irak organisiert.

Er sollte sich für die Nutzung existierender Instrumentarien wie humanitäre Aufnahme- und Resettlementprogramme, unbürokratische Visavergabe oder Aussetzung der Visumspflicht und erweiterte Familienzusammenführung einsetzen, um Hunderttausenden Flüchtlinge den lebensgefährlichen Seeweg zu ersparen. Zehntausende Gestrandete aus Syrien, Eritrea, Somalia und andere kämpfen um ihr Überleben im anhaltenden libyschen Bürgerkrieg.

Eine Evakuierung zu ihrer Rettung wäre ein Gebot der Menschlichkeit. Eigene Staatsangehörige hatten die EU-Staaten schnell und umsichtig außer Landes gebracht. Flüchtlinge dagegen waren schutzlos zurückgeblieben und fortan gezwungen, die häufig tödlich endende Bootspassage nach Europa anzutreten. An den Außengrenzen der EU, in Bulgarien, Griechenland, Ceuta und Melilla werden systematisch Schutzsuchende völkerrechtswidrig zurückgewiesen.

Die Einhaltung menschenrechtlicher Standards würde ihnen den Zugang zum Territorium der EU eröffnen. Den ankommenden Flüchtlingen muss dann die legale Weiterreise zu ihren Familien und Communities in andere EU-Staaten ermöglicht werden.

Anmerkungen

Karl Kopp ist Europareferent von Pro Asyl und Vorstandsmitglied von ECRE, dem europäischen Flüchtlingsrat.

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