Mittelamerika erlebt gegenwärtig eine humanitäre Flüchtlingskatastrophe nie gekannten Ausmaßes. Allein im Januar 2015 griffen mexikanische Grenzschützer an der Südgrenze ihres Landes 14.026 Migrantinnen und Migranten auf, unter ihnen 13.287 aus Mittelamerika. Ein Jahr zuvor waren es im gleichen Monat noch 6.295 gewesen, davon 5.894 aus Mittelamerika. Die neoliberale Verheerung der ohnehin schwachen nationalen Wirtschaften, der mit ihr einhergehende Zusammenbruch gesellschaftlicher Strukturen und die drastische Zunahme von Kriminalität und Gewalt treiben tausende Menschen aus Honduras, El Salvador, Nicaragua und Guatemala auf einen lebensgefährlichen Weg in die USA. Wenn sie denn jemals dort ankommen. "La ruta mortal" wird die Strecke unter Flüchtlingen genannt: "die Todesstraße". 3.000 Kilometer führt sie quer durch den Kontinent.
Alternativen sehen nur die Wenigsten
Unter den mittelamerikanischen Staaten war in den vergangenen Jahren Honduras das Land mit der am schnellsten wachsenden Flüchtlingsquote. 270 Menschen machten sich von hier aus jeden Tag auf den Weg nach Norden. Zwei Drittel der honduranischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, viele in extremer Armut. Zahlreiche Familien überleben überhaupt nur dank der „Remesas“, regelmäßiger Überweisungen von Familienangehörigen, die den Grenzübertritt in die USA geschafft haben. Dort ist ihr Aufenthaltsstatus häufig illegal, sie arbeiten in prekären Verhältnissen ohne jegliche soziale Absicherung und sind ständig bedroht von Abschiebung – mit verheerenden Folgen für ihre Familien. 2006 machten „Remesas“ knapp 25% des honduranischen Bruttoinlandsproduktes aus. Nach jüngeren Erkenntnissen lebte zwischenzeitlich fast ein Viertel der mittelamerikanischen Bevölkerung von Überweisungen aus Nordamerika. Der „Krieg gegen illegale Flüchtlinge“, den die USA insbesondere seit der Machtübernahme Barack Obamas medienwirksam erklärt hat, gefährdet also das Überleben der Menschen in Mittelamerika auf unmittelbare Weise. Jede Abschiebung schafft dort neues Elend – und stärkt die Notwendigkeit zur Migration. Deshalb bemüht sich die Administration Obama, ähnlich wie ihre Amtskolleginnen und -kollegen in Europa, die „Frontlinie“ immer weiter vom eigenen Territorium weg zu schieben.
Programa Frontera Sur
Auf Druck und mit tatkräftiger finanzieller und logistischer Hilfe der USA hat Mexiko, als letztes und wichtigstes Transitland für Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Norden, mit dem sogenannten Programa Frontera Sur [‚Programm Südgrenze‘] die Militarisierung der Grenze im Süden vollzogen.
Dort erledigen Beamte des berüchtigten Instituto Nacional de Migración (INM) [‚Nationales Institut für Migration‘], des Militärs und der Staatspolizei, dicht verfilzt mit dem organisierten Verbrechen, die schmutzige Arbeit für den großen Nachbarn im Norden.
„Mexiko hat seine Hände in Blut getaucht“, sagt der Franziskanermönch Fray Tomás González Castillo, Leiter einer sicheren Herberge für Flüchtlinge in Tenosique (Tabasco), keine 60 Kilometer nördlich der Grenze zu Guatemala: „Das Land ist zum Verräter an seinen mittelamerikanischen Brüdern geworden.“ Fray Tomás, 41 Jahre alt, leitet nicht nur die Herberge „La 72“, benannt nach 72 Opfern eines Massakers an Migrantinnen und Migranten in San Fernando (Tamaulipas) im Jahr 2010, sondern gemeinsam mit Glaubensbrüdern und Freiwilligen auch eine Menschenrechtsorganisation gleichen Namens, die Übergriffe gegen Migrantinnen und Migranten dokumentiert und öffentlich macht. Seine Tätigkeit wird von Polizei und organisiertem Verbrechen nicht geschätzt. Er erhielt bereits mehrere Morddrohungen. Fray Tomás nennt die Flüchtlingskatastrophe in Mittelamerika „ein humanitäres Problem, kein Problem der nationalen Sicherheit“.
Das Programa Fontera Sur habe die Gewalt gegen die schutzlosen Flüchtlinge drastisch verschärft. Am 6. März 2015 dokumentierte „La 72“ einen Fall unter hunderten: Damals ließen Beamte des INM im Zuge einer Razzia auf einen Güterzug einen jungen Honduraner im Fluss ertrinken, obwohl er laut um Hilfe rief und beistehende Flüchtlinge zur Hilfe eilen wollten. Als einer der Beamten sich anschickte, einzugreifen, wurde er von seinen Kollegen zurückgehalten: „Lass den Trottel!“ Die Leiche des jungen Mannes lag anschließend über zehn Stunden am Ufer.
Ein Flüchtlingsleben gilt im Transitland Mexiko so gut wie nichts. Sie werden beleidigt, misshandelt, ausgeraubt oder nachts auf offener Straße willkürlich erschossen, erschlagen oder überfahren. Nicht selten werden ihre Leichen in namenlosen Gräbern verscharrt, die bald darauf wieder geöffnet werden müssen, um Platz für neue Leichen zu schaffen. Jahr für Jahr sterben schätzungsweise 1.000 Menschen auf und an der „ruta mortal“.
Dass die mexikanische Regierung das „Programm Südgrenze“ als Maßnahme zum Schutz der Menschenrechte von Migrantinnen und Migranten zu verkaufen versucht, entlockt Fray Tomás ein bitteres Lächeln. „Genau das Gegenteil ist passiert“, erläutert er. Seit dem Beginn des Programms hätten zum Beispiel die Razzien auf Güterzüge stark zugenommen. Die Güterbahnlinie durch Mexiko sei noch immer die meistgenutzte, aber auch gefährlichste Möglichkeit für Flüchtlinge, in den Norden zu gelangen: „Ansonsten müssen sie durch den Dschungel marschieren oder teure Schlepper bezahlen“, so González. Im Zuge des neuen Programms zur Flüchtlingsabwehr würden die Züge von der INM nun oft an besonders unwegsamen Orten gestoppt, zu denen keine Presse vordringe und niemand überprüfen könne, was dort mit den Flüchtlingen geschehe. Was dort mit ihnen geschieht, wissen Menschen wie Fray Tomás, die sich in Mexiko für Flüchtlinge engagieren, allerdings nur zu gut…
Ein Geschäft
Denn tatsächlich liegt die eigentliche Perversion darin, dass sowohl Flüchtlinge als auch Flüchtlingsabwehr für Wirtschaft, Staat und organisiertes Verbrechen ein florierendes Geschäft geworden sind, bei dem niemand zurückstehen möchte.
Die Militarisierung der Grenzen hat sowohl in den USA als auch in Mexiko die Preise explodieren lassen – vom Steigen der Schmiergeldforderungen an Grenzposten über als Entwicklungshilfe getarnte Finanzspritzen zur Militarisierung bis hin zum Handel mit teurer Technik zur „Grenzsicherung“. Im Süden der USA, einer wirtschaftlich zerrütteten Region, boomt seit langem schon das Geschäft mit der Entwicklung und Vermarktung von Sicherheitstechnik. An der Südgrenze Mexikos dagegen blüht seit Jahren die Lösegelderpressung. Flüchtlinge werden bei Razzien von der Polizei organisierten Banden zugeführt, die die oft jungen Männer und Frauen dann unter unmenschlichen Bedingungen in sogenannten „casas de seguridad“, „sicheren Häusern“ gefangen halten. Dort müssen sie Kontakt zu Familienangehörigen oder Freunden in der Heimat und den USA aufnehmen, damit diese das geforderte Lösegeld (ca. 2500.- US-Dollar) für sie bezahlen. Sollten die Entführten keine Verwandten (mehr) haben oder sie nicht erreichen können, werden sie gefoltert und in den meisten Fällen ermordet. Für viele Familien ist der Betrag ohnehin nicht zu bezahlen. Warum sonst hätten ihre Angehörigen den lebensgefährlichen Weg in den Norden wagen sollen? Trotzdem: Die Gewinne sind gewaltig. Das Movimiento Migrante Mesoamericano (M3) [‚Mittelamerikanische Flüchtlingsbewegung‘], eine vor allem aus Müttern verschwundener Migrantinnen und Migranten bestehende Menschenrechtsorganisation, die unter anderem mit der deutschen Organisation medico international zusammenarbeitet, hat ausgerechnet, dass die Gewinne aus dieser Art von Menschenraub allein in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 in Mexiko 25 Millionen Dollar betrugen.
Ähnlich einträglich ist die Zwangsprostitution von Migrantinnen, nicht zuletzt von Minderjährigen. Sechs von zehn Migrantinnen werden auf ihrem Weg durch Mexiko mindestens einmal vergewaltigt oder von organisierten Menschenhändlern in die Sexsklaverei gepresst. Seit zehn Jahren steigt die Zahl der ausländischen Freier, vor allem aus den USA und Europa. Auch im Internet boomt das Geschäft. Wiederum arbeiten staatliche Autoritäten und organisierte Banden Hand in Hand und teilen die Gewinne. Letztere erledigen auch die blutige Arbeit, wenn lästige Menschenrechtsaktivistinnen oder kritische Journalisten beseitigt werden müssen. „Heute“, stellt Fray Tomás fest, „sprechen wir nicht mehr von organisierter Kriminalität, sondern von autorisierter Kriminalität“.
Für Menschen, die sich an solchen Verbrechen bereichern, ist der Flüchtlingsstrom aus Mittelamerika ein niemals versiegender Geldfluss. Würde die Massenmigration von einem Tag auf den anderen aufhören, wäre dies für viele in politischer Administration, Polizei, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen ein herber Schlag. Auch in den USA würde ein plötzlicher Wegfall der illegalen Arbeitsmigration aus Mittelamerika die Profite beträchtlich schmälern und möglicherweise die gesamte Wirtschaft gefährden.
Man fragt sich bei alledem, was eigentlich widerlicher ist: die maßlose Hetze gegen angeblich „schadbringende“ Flüchtlinge oder das heuchlerisch-humanitäre Getue, mit dem Politiker gleichzeitig bei ärmeren Bevölkerungsschichten auf Stimmenfang gehen? Wie weit der Zynismus der politisch Verantwortlichen dabei gehen kann, erwies sich unter anderem 2005, als der damalige mexikanische Präsident Vicente Vox, ein ehemaliger Manager von Coca Cola, der christlichen Menschenrechtsaktivistin Olga Kromm einen Preis für ihr Engagement für mittelamerikanische Flüchtlinge überreichte. Seine Regierung, so versprach er während der Zeremonie, werde Unterkünfte für Flüchtlinge bauen, die größten Zentralamerikas. „Er vergaß zu erwähnen“, schrieb damals die ebenso informierte wie kritische Journalistin Erika Harzer im Freitag, „dass die Anlage in Wahrheit als Abschiebecamp für die illegal nach Mexiko eingewanderten Arbeitsnomaden des Nordens gedacht war.“
Fazit
Solange die Länder Mittelamerikas keine Chance haben, ihre Gesellschaften zu stabilisieren und sich vom neoliberalen Gängelband der Weltbank zu lösen, wird sich die humanitäre Flüchtlingskatastrophe weiter verschärfen. Das Erschreckende daran ist, dass eine Menge Menschen in Mexiko und den USA gegen eine derartige Verschärfung gar nichts einzuwenden hat. Ganz im Gegenteil.